Warum scheitern russische Demokratien?

Im Verlaufe des 20. Jahrhunderts erlebte Russland – ähnlich übrigens wie Deutschland – zwei Versuche, eine demokratische Herrschaftsordnung im Lande zu verankern. Die „erste“ russische Demokratie scheiterte nach acht Monaten im Oktober 1917 infolge des bolschewistischen Staatsstreiches, die erste deutsche (die Weimarer Republik) nach etwa 14 Jahren nicht zuletzt infolge der politischen „Verantwortungslosigkeit“ der konservativen deutschen Eliten. Die im August 1991 errichtete „zweite“ russische Demokratie versuchte bestimmte Lehren sowohl aus dem Zusammenbruch ihrer russischen Vorgängerin als auch aus dem Scheitern der Weimarer Demokratie zu ziehen. Vergeblich. Anders als in Deutschland scheiterte in Russland auch das zweite „demokratische Experiment“ kläglich.


Die „erste“ russische Demokratie und die totalitäre Herausforderung

Im Februar 1917 feierte Russland den Sieg seiner ersten demokratischen Revolution. Einige Wochen später schrieb Lenin in seinen „April-Thesen“:  „Russland ist zurzeit von allen Krieg führenden Ländern das freieste Land der Welt“. Der Triumph der „ersten“ russischen Demokratie war allerdings kurz. Bereits nach acht Monaten wurde sie beseitigt und durch das erste totalitäre Regime der Moderne abgelöst.

Dieses Scheitern der russischen Demokratie wird oft auf die Eigenart der russischen Mentalität oder auf den geschichtlichen „Sonderweg“ Russlands zurückgeführt, der sich vom Weg des Westens grundlegend unterscheidet. So zeichnete sich die russische Geschichte in den meisten Epochen durch die Allmacht des Staates und eine Ohnmacht der Gesellschaft aus. Die Autonomie der Stände oder der Städte, die im Westen ein Gegengewicht zur Machtzentrale darstellte, hat sich in Russland kaum entwickelt.

Lässt sich also der Zusammenbruch der „ersten“ russischen Demokratie darauf zurückführen, dass die Gesellschaft, die sich nach dem Sturz der Romanow-Dynastie von dem zarischen Obrigkeitsstaat befreite, nicht imstande war, sich selbst zu organisieren, und an ihrer politischen Unerfahrenheit zugrunde ging? All das spielte bei den Ereignissen von 1917 sicher eine wichtige Rolle, allerdings keine ausschließliche. Denn das Scheitern des nach der Februarrevolution errichteten Systems hatte auch Ursachen allgemeinerer Art, die weit über das spezifisch Russische hinausgingen. So fand im damaligen Russland die erste Konfrontation eines demokratischen Gemeinwesens mit einer totalitären Partei statt, die skrupellos alle Freiheiten der Demokratie ausnutzte, um diese zu zerstören. Man darf nicht vergessen, dass etwa fünf Jahre später die italienische und fünfzehn Jahre später die Weimarer Demokratie an ähnlichen Herausforderungen scheitern sollte.

So hat das Scheitern der „ersten“ russischen Demokratie die tiefe Krise der demokratischen Systeme in ganz Europa bloß vorweggenommen. Was verband dann die Verfechter der soeben entstandenen offenen Gesellschaft in Russland mit den traditionellen Demokratien des Westens? Dies war in erster Linie der mangelnde Glaube an die eigenen Wertvorstellungen und die Resignation.

Der revolutionäre Mythos

1917 profitierten die Bolschewiki vom „schlechten sozialen Gewissen“ der demokratisch gesinnten Sozialisten (der Menschewiki und der Sozial-Revolutionäre), die das Rückgrat des nach der Februarrevolution errichteten Systems, vor allem des Petrograder Sowjets bildeten. Diese Gruppierungen vertraten die Meinung, dass die junge und von Krisen erschütterte russische Demokratie auf die Unterstützung aller freiheitlich gesinnten Kräfte im Lande, auch aus dem bürgerlichen Lager, angewiesen sei. Sie meinten, die sofortige Verwirklichung der sozialistischen Experimente, für die die Bolschewiki plädierten, das Land, das sich noch mitten im Krieg befand, in eine Katastrophe führen werde. Diese Haltung bezeichneten die Bolschewiki als Verrat an den hehren revolutionären Idealen und berührten damit einen wunden Punkt bei den gemäßigten Sozialisten. Denn der bedingungslose Dienst an der Revolution stellte seit Generationen das unantastbare Credo der russischen Intelligenzija dar:

„Die offene Vertretung einer politisch gemäßigten Haltung erforderte so viel Zivilcourage, wie sie nur wenige besaßen“, schreibt der russische Philosoph Semjon Frank in diesem Zusammenhang:

Der „Gemäßigte“ war der Spießbürger, furchtsam, bar jedes Heroismus … Die Gemäßigten selbst hatten in dieser Hinsicht kein reines Gewissen, sie fühlten sich nicht ganz frei von diesen Mängeln. In den meisten Fällen betrachteten sie die Revolutionäre wie kirchlich eingestellte Laien die Heiligen und Asketen betrachten – nämlich als unerreichbare Muster an Vollkommenheit, denn je linker, desto besser, höher, heiliger.

Auch die gemäßigten Sozialisten des Jahres 1917 stellten insofern keine Ausnahme dar. Ihr „schlechtes soziales Gewissen“ hinderte sie daran, die bolschewistische Partei, die nun die im Februar gewonnene Freiheit tödlich bedrohte, konsequent zu bekämpfen. Zwar bezogen die „Gemäßigten“ unter dem Einfluss der Bolschewiki und unter dem Druck der anarchisierten Massen immer radikalere Positionen; mit ihren extremistischen Kontrahenten konnten sie aber nicht konkurrieren. An all diesen Widersprüchen ging dann die „erste“ russische Demokratie zugrunde.

Michail Gorbatschow und der Abschied von der Klassenkampflehre

Zu den prekärsten Problemen des bolschewistischen Regimes gehörte seine unzureichende Legitimität. Der amerikanische Sowjetologe Bertram Wolfe schrieb in den 1960er Jahren, dass der im Februar/März 1917 gestürzte Zar Nikolaus II. der letzte legitime Herrscher Russlands gewesen sei. Die nach dem Sturz des Zaren entstandene Provisorische Regierung habe keinen Anspruch auf die volle Legitimität erhoben, um den Entscheidungen der noch zu wählenden Verfassunggebenden Versammlung nicht vorzugreifen. Durch das gewaltsame Auseinanderjagen der Verfassunggebenden Versammlung mit ihrer nichtbolschewistischen Mehrheit am 19. Januar 1918, setzt Wolfe seine Ausführungen fort, hätten die Bolschewiki praktisch auf die Legitimierung ihrer Herrschaft verzichtet.

Was sicherte dann dem bolschewistischen Regime im Verlauf von etwa 70 Jahren eine relative Stabilität? Dies war der Glaube der Bolschewiki an ihren geschichtlichen Auftrag. Sie fühlten sich nicht den „wankelmütigen“ Mehrheiten, sondern der Geschichte und der angeblich „alleingültigen“ marxistischen Interpretation der historischen Vorgänge verpflichtet. Den Kräften, die diesen „Auftrag“ zu gefährden drohten, sogar wenn dies die werktätigen Massen waren, in deren Namen sie regierten, sagten sie einen unversöhnlichen Kampf an. Nikita Chruschtschow war praktisch der letzte sowjetische Machthaber, der in einer unerschütterlichen Weise dieses Credo vertrat. Seine Nachfolger imitierten in der Regel bloß den Glauben an die „lichte kommunistische Zukunft“. Und diese Erosion des Glaubens höhlte die ideokratische Legitimierung des sowjetischen Regimes weitgehend aus. Es entstand ein äußerst gefährliches rechtspolitisches Vakuum im Lande. Nur die Rückkehr der demokratisch legitimierten Institutionen auf die politische Bühne hätte Russland helfen können, die nun ausgebrochene legitimatorische Krise zu überwinden: Institutionen, welche die Bolschewiki im Oktober 1917/Januar 1918 so leichtfertig auf den „Kehrichthaufen der Geschichte“ (Trotzki) geworfen hatten.

Als Gorbatschow sich im Februar/März 1990 dazu durchrang, den 6. Artikel der sowjetischen Verfassung, der der KPdSU die führende Rolle im Lande garantierte, in seiner ursprünglichen Form zu streichen, hat er dem kommunistischen Regime die letzte legitimatorische Grundlage genommen. Auch in den Augen der Bevölkerung war die Partei weitgehend diskreditiert, worauf die damals durchgeführten Umfragen eindeutig hinweisen. Dessen ungeachtet kontrollierte diese delegitimierte und allgemein diskreditierte Partei, genauer gesagt: die herrschende Parteibürokratie unangefochten alle Machthebel im Staat, und die damals im Entstehen begriffenen demokratisch legitimierten Einrichtungen hingegen waren völlig machtlos. So fühlten sich die Verfechter der demokratischen Erneuerung den kommunistischen Dogmatikern hoffnungslos unterlegen. Seit Oktober 1917 haben sich die russischen Demokraten an ihr Image der ewigen Verlierer gewöhnt. Dies ungeachtet des Vorgangs, der sich am 12. Juni 1991 abspielte und der wohl zum entscheidenden Datum der Perestroika wurde. An diesem Tag wurde Boris Jelzin von etwa 57 Prozent der Wähler zum russischen Staatspräsidenten gewählt. So wurde 74 Jahre nach dem Sturz des Zaren eine legitimatorische Kontinuität im Lande wiederhergestellt, dies ungeachtet der Tatsache, dass die legitimatorischen Quellen der beiden russischen Staatsoberhäupter sich grundlegend voneinander unterschieden. Die Demokraten besaßen nun einen eindeutigen legitimatorischen Vorsprung gegenüber der Parteibürokratie. Denn die KPdSU herrschte nach dem Verzicht Gorbatschows auf das Wahrheits- und Machtmonopol der Partei lediglich durch die Macht des Faktischen. Zwar gibt es auf der Welt genug Diktaturen, die sich nur auf eine solche Basis stützen, doch handelt es sich bei dem kommunistischen Regime keineswegs um eine gewöhnliche Diktatur, sondern um eine Ideokratie, die auf den weltanschaulichen Absolutheitsanspruch der Herrschenden kaum verzichten kann.

Trotz all dieser Entwicklungen hielten die russischen Demokraten den kommunistischen Apparat für fast unbezwinglich. Mit Neid blickten sie auf ihre polnischen Gesinnungsgenossen, denen es gelungen war, eine derart mächtige Organisation wie die „Solidarność“ zu schaffen.

Indessen zeigte gerade die polnische Erfahrung, dass für den entschlossen und brutal agierenden kommunistischen Apparat selbst eine solche Organisation kein Hindernis darstellt. Am 13. Dezember 1981 genügten den polnischen Militärs einige Stunden, um die „Solidarność“ mit ihren etwa 10 Millionen Mitgliedern zu zerschlagen. Auf die „schwankenden Massen“ (Lenin) haben die Kommunisten nur selten Rücksicht genommen. Die Zerschlagung der russischen Konstituante mit ihrer nichtbolschewistischen Mehrheit am 19. Januar 1918 lieferte dafür einen zusätzlichen Beweis.

Die Moskauer Putschisten wollten im Grunde am 19. August 1991 den Vorgang vom 19. Januar 1918 wiederholen. Dennoch wirkten jetzt die Kommunisten ähnlich unbeholfen wie einst ihre demokratischen Widersacher, die sie 1917 auf den „Kehrichthaufen der Geschichte“ geschickt hatten. Dies ungeachtet der Tatsache, dass sie, wie bereits gesagt, unangefochten beinahe alle Machtstrukturen im Staat kontrollierten.

Als Boris Jelzin seine Landsleute zur Auflehnung gegen die Putschisten aufrief, tat er dies praktisch mit leeren Händen. Er besaß so gut wie keine Machtmittel und verfügte lediglich über moralische Argumente. In seiner Anordnung Nr. 59 vom 20. August 1991 beschuldigte er die Putschisten, ein „verfassungswidriges Komplott“ geschmiedet und damit ein „Verbrechen gegen den Staat“ verübt zu haben. Und diese Einschätzung des Staatsstreiches wurde von den Anführern des Putsches im Grunde auch geteilt. Sie fühlten sich nun, anders als ihre Vorgänger von 1917, nicht als „Sieger“, sondern als „Verlierer der Geschichte“.

In der Auseinandersetzung zwischen Macht und Moral erwies sich die letztere als überlegener Sieger. Die im Oktober 1917 bezwungenen Demokraten konnten 74 Jahre später einen für sie völlig unerwarteten Triumph feiern.

„Weimarer Russland“? Zum Scheitern der „zweiten“ russischen Demokratie

Nach dem Scheitern des Putschversuchs der kommunistischen Dogmatiker und nach dem Verbot der KPdSU das kurz danach erfolgte, schienen die wichtigsten Hindernisse, die der „Rückkehr Russlands nach Europa“ im Wege standen, beseitigt. Dennoch erwies sich die Befreiung des Landes von dem etwa 70jährigen totalitären Erbe als ein äußerst schwieriges Unterfangen. Innerhalb kürzester Zeit verspielten die siegreichen Demokraten ihr Vertrauenskapital.

Die im Januar 1992 begonnene wirtschaftliche „Schocktherapie“, die den Lebensstandard der Bevölkerung beinahe halbierte, und der immer schärfer werdende Konflikt zwischen dem Staatspräsidenten und dem Obersten Sowjet, der im Oktober 1993 zu bewaffneten Auseinandersetzungen in der russischen Hauptstadt führte, trugen erheblich zur Diskreditierung der demokratischen Idee bei. Nach der Delegitimierung der kommunistischen Ideologie fand in Russland auch eine Erosion des demokratischen Gesellschaftsmodells statt. Die demokratischen Werte erlebten jetzt in Russland eine ähnliche Erosion wie früher die kommunistischen, schrieb 1992 der Publizist Leonid Radsichowski. Der Begriff „Demokratie“ werde allmählich zu einem Schimpfwort.

Ein besonderes Trauma stellte aber für die imperial gesinnten russischen Gruppierungen die im Dezember 1991 erfolgte Auflösung der Sowjetunion dar. Diesen Vorgang betrachteten sie als eine Art Apokalypse, und sie ließen sich nicht mit dem Argument trösten, dass auch andere europäische Mächte ihre Imperien im Laufe des 20. Jahrhunderts verloren hatten.

Damals begann man in Ost und West wiederholt Parallelen zwischen der Weimarer Republik und dem postsowjetischen Russland zu ziehen.

Die Ähnlichkeiten waren in der Tat erstaunlich. Wie damals in der Weimarer Republik assoziierte sich auch im postkommunistischen Russland die Demokratie mit dem Zusammenbruch der hegemonialen Stellung der beiden Länder auf dem europäischen Kontinent, mit dem Verlust von Territorien und mit der Entstehung einer neuen Diaspora. Dabei geschah dieser Zusammenbruch in beiden Ländern praktisch über Nacht. Im Wilhelminischen Deutschland hat man praktisch bis zuletzt an einen Sieg im Weltkrieg geglaubt. Ähnlich fassungslos reagierte die sowjetische Bevölkerung auf den Zusammenbruch eines Imperiums, das noch bis 1991 zusammen mit den USA über die Geschicke der Welt entschied.  Diesen plötzlichen Abstieg führten manche Verfechter der alten Ordnung im postsowjetischen Russland, ähnlich wie dies auch viele Nostalgiker in der Weimarer Republik getan hatten, auf die Verschwörung dunkler Mächte zurück.  Besonders eifrig beteiligten sich an der Verbreitung solcher Verschwörungstheorien ausgerechnet Vertreter der früheren Machteliten, die durch die Überspannung der Kräfte der eigenen Nation während des Kalten Krieges zum Zusammenbruch des Imperiums erheblich beitrugen. Ihre Argumente sind denjenigen der deutschen Verfechter der „Dolchstoßlegende“ in der Weimarer Republik zum Verwechseln ähnlich.

Die nationale bzw. imperiale „Woge“

Es war allerdings nicht nur die militant antidemokratische und „national-patriotische“ Opposition, die nach der Auflösung der UdSSR von einer imperialen Revanche träumte. Auch den siegreichen Demokraten, die den Putsch der kommunistischen Dogmatiker im August niedergeschlagen hatten, fiel der Abschied vom Imperium schwer.  Viele Demokraten, die sich vor dem August 1991 für die „Rückkehr Russlands nach Europa“ eingesetzt hatten, begannen sich auf den russischen „Sonderweg“ zu besinnen. Den prowestlich orientierten Kreisen in der Regierung warfen sie eine grenzenlose Nachgiebigkeit gegenüber den unmittelbaren Nachbarn Russlands vor. So erklärte der politische Berater des russischen Präsidenten, Sergej Stankewitsch, Mitte 1992:

Unsere Nachbarn betrachten Russland als eine Art Relikt, von dem man sich diesen oder jenen Teil abschneiden kann.

Der Moskauer Religionswissenschaftler Dmitrij Furman sprach Anfang 1992 von einer nationalen Woge im Land, die die demokratische Woge der Perestroika-Zeit abgelöst habe. Beide Wellen hätten eine beinahe unwiderstehliche Kraft an den Tag gelegt.

Die nach der Auflösung der Sowjetunion virulent gewordene „imperiale Sehnsucht“, die viele Russen, auch zahlreiche Bezwinger des kommunistischen Putschversuches vom August 1991, erfasste, wurde zu einer der gefährlichsten Herausforderung für die soeben entstandene brüchige russische Demokratie. Dies war die Stimmung, die den kometenhaften Aufstieg Putins förderte. Aber auch die Kritik an dieser „Sehnsucht“ verstummte damals in Russland keineswegs. Neben dem bereits erwähnten Dmitrij Furman waren es u.a der ehemalige russische Finanzminister Jegor Gajdar und die Bürgerrechtlerin Ljudmila Alexejewa, die vor den gefährlichen Folgen des „imperialen Syndroms“ warnten: „Der Versuch, Russland erneut in ein Imperium zu verwandeln, wird die Existenz Russlands in Frage stellen“, hob Gajdar im Jahre 2006 hervor. „Wenn bei uns die Mehrheit der Menschen am imperialen Syndrom leidet, können wir keine Demokratie sein“, fügte Ljudmila Alexejewa einige Jahre später hinzu: „Entweder Imperium oder Demokratie“, so Alexejewa. Den Warnerinnen und Warnern ist es allerdings nicht gelungen, die bei ihren Landsleuten derart stark verbreitete Sehnsucht nach einem verlorenen Imperium einzudämmen. Sie spiegelte sich im „patriotischen Tsunami“ (Nowaja gaseta) wider, als etwa 85 Prozent der Russen, die Putinsche Krim-Annexion vom März 2014 euphorisch begrüßten. Und auch die Tatsache, dass die große Mehrheit der befragten Russen, den am 24. Februar 2022 begonnenen schändlichen Krieg Russlands gegen den ukrainischen Nachbarn unterstützt, wirkt erschreckend.

So wie die „erste“ russische Demokratie nicht zuletzt am revolutionären Mythos zugrunde gegangen war, scheiterte die „zweite“ russische Demokratie vor allem am „imperialen Syndrom“ bzw. am Mythos von einer „brüderlichen Gemeinschaft der Sowjetvölker“, die angeblich durch ein heimtückisches Komplott der Feinde Russlands aufgelöst worden war. Dabei lassen diese russischen Verfechter der „Dolchstoßlegende“ die Tatsache außer Acht, dass die Erosion des Glaubens an die „lichte kommunistische Zukunft“ und an die Idee des „proletarischen Internationalismus“, die in der Sowjetunion bereits in der Breschnew-Zeit zu beobachten war, dem Sowjetreich die wichtigste weltanschauliche Klammer entzog.  Ohne diese Klammer war die Aufrechterhaltung der bestehenden Staatsstrukturen schwer möglich.

Leonid Luks

Der Prof. em. für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt wurde 1947 in Sverdlovsk (heute Ekaterinburg) geboren. Er studierte in Jerusalem und München. Von 1989 bis 1995 war er stellvertretender Leiter der Osteuropa-Redaktion der Deutschen Welle und zugleich Privatdozent und apl. Professor an der Universität Köln. Bis 2012 war er Inhaber des Lehrstuhls für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte an der KU Eichstätt-Ingolstadt. Er ist Geschäftsführender Herausgeber der Zeitschrift Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte.

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