Die Tat von Idar-Oberstein und der Rechtsstaat

Zu den nun anstehenden weiteren rechtlichen Fragen des Tankstellenmords in Idar-Oberstein. Eine Kolumne von Heinrich Schmitz


Bild von Bruno /Germany auf Pixabay

Am 18. September 2021 erschoss ein 50-Jähriger einen 20-jährigen Tankstellenmitarbeiter aus Wut darüber, dass er ohne Maske nicht bedient wurde. Der Angeklagte wurde erstinstanzlich wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt. Aber damit ist das Verfahren noch nicht beendet.

Das Landgericht Bad Kreuznach bestätigte am Donnerstag, dass die Staatsanwaltschaft Revision eingelegt habe. Die Verteidigung hatte ebenfalls angekündigt, in Revision gehen zu wollen. Im Zusammenhang mit diesem Verfahren wurden in den letzten Tagen viele Frage an mich gerichtet. Die häufigsten zwei möchte in dieser Kolumne für Laien verständlich machen, soweit das überhaupt möglich ist.

I. Warum gibt es überhaupt eine Revision?

Die Antwort auf die mehrfach gestellte Frage, warum es bei so einem Fall, bei dem der Angeklagte die Tat doch gestanden habe und damit seine Schuld doch feststehe, eine Revision gebe, ist recht einfach. Nobody is perfect, heißt erstinstanzliche Urteile können durchaus falsch sein. Und deshalb sieht die Strafprozessordnung vor, dass Urteile in Strafsachen angefochten werden können. Wenn Sie nicht von einem Amtsgericht kommen, wo neben der (Sprung)-Revision zum Oberlandesgericht auch noch eine Berufung zum Landgericht möglich ist, ist das einzige Rechtsmittel die Revision.

Im Gegensatz zur Berufung, die wie gesagt nur bei amtsgerichtlichen Urteilen möglich ist, ist die Revision keine Tatsacheninstanz. Es wird also nicht noch einmal der ganze Prozess wiederholt, sondern das erstinstanzliche Urteil wird vom Bundesgerichtshof (BGH) lediglich auf Rechtsfehler hin überprüft. Solche Fehler können passieren, weil auch Richter Menschen sind und ein fehlerfreier Mensch bisher noch nicht gefunden wurde.

Es können ganz unterschiedliche Gründe sein. Zum einen wären da die sogenannten absoluten Revisionsgründe, die der Gesetzgeber einzeln benannt hat:

§ 338

Absolute Revisionsgründe

Ein Urteil ist stets als auf einer Verletzung des Gesetzes beruhend anzusehen,

1. wenn das erkennende Gericht nicht vorschriftsmäßig besetzt war; war nach § 222a die Mitteilung der Besetzung vorgeschrieben, so kann die Revision auf die vorschriftswidrige Besetzung nur gestützt werden, wenn

 

a) das Gericht in einer Besetzung entschieden hat, deren Vorschriftswidrigkeit nach § 222b Absatz 2 Satz 2 oder Absatz 3 Satz 4 festgestellt worden ist, oder

 

b) das Rechtsmittelgericht nicht nach § 222b Absatz 3 entschieden hat und

aa) die Vorschriften über die Mitteilung verletzt worden sind,

bb) der rechtzeitig und in der vorgeschriebenen Form geltend gemachte Einwand der vorschriftswidrigen Besetzung übergangen oder zurückgewiesen worden ist oder

cc) die Besetzung nach § 222b Absatz 1 Satz 1 nicht mindestens eine Woche geprüft werden konnte, obwohl ein Antrag nach § 222a Absatz 2 gestellt wurde;

2. wenn bei dem Urteil ein Richter oder Schöffe mitgewirkt hat, der von der Ausübung des Richteramtes kraft Gesetzes ausgeschlossen war;

3. wenn bei dem Urteil ein Richter oder Schöffe mitgewirkt hat, nachdem er wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt war und das Ablehnungsgesuch entweder für begründet erklärt war oder mit Unrecht verworfen worden ist;

4. wenn das Gericht seine Zuständigkeit mit Unrecht angenommen hat;

5. wenn die Hauptverhandlung in Abwesenheit der Staatsanwaltschaft oder einer Person, deren Anwesenheit das Gesetz vorschreibt, stattgefunden hat;

6. wenn das Urteil auf Grund einer mündlichen Verhandlung ergangen ist, bei der die Vorschriften über die Öffentlichkeit des Verfahrens verletzt sind;

7. wenn das Urteil keine Entscheidungsgründe enthält oder diese nicht innerhalb des sich aus § 275 Abs. 1 Satz 2 und 4 ergebenden Zeitraums zu den Akten gebracht worden sind;

8. wenn die Verteidigung in einem für die Entscheidung wesentlichen Punkt durch einen Beschluß des Gerichts unzulässig beschränkt worden ist.

Ja, das sind alles Formalien und manch einem wäre wohl völlig Wumpe, ob die auch eingehalten wurden, solange nur ein aus seiner Sicht Schuldiger möglichst schnell eingelocht werden kann. Aber so läuft das eben in einem Rechtsstaat nicht. Wenn jemand wegen einer Straftat verurteilt wird, dann müssen die Spielregeln – und nichts anderes ist die Strafprozessordnung – penibel eingehalten werden. Und ob diese Regeln eingehalten wurden, wird halt mit der Revision überprüft.

Neben den absoluten Revisionsgründen gibt es noch die relativen Revisionsgründe. Die sind in §337 StPO geregelt:

§ 337

Revisionsgründe

(1) Die Revision kann nur darauf gestützt werden, daß das Urteil auf einer Verletzung des Gesetzes beruhe.

(2) Das Gesetz ist verletzt, wenn eine Rechtsnorm nicht oder nicht richtig angewendet worden ist.

Wie Sie sehen, ist die Vorschrift schön kurz, sie hat es aber in sich. Denn hier sind nicht nur ein paar einzelne Revisionsgründe enumerativ aufgezählt, sondern zum Revisionsgrund taugt jede Verletzung des Gesetzes, wenn das Urteil darauf beruht. Das heißt, man muss zunächst prüfen, ob irgendein Gesetz, sei es ein prozessuales aus der StPO oder auch ein materielles aus dem StGB oder einem strafrechtlichen Nebengesetz, verletzt wurde und wenn das der Fall sein sollte, muss man weiter prüfen, ob das Urteil auf dieser Gesetzesverletzung beruht.

Das ist für den Strafverteidiger ein ganz schönes Stück Arbeit, weil er dabei lediglich auf das Protokoll der Hauptverhandlung und das Urteil selbst zurückgreifen kann. Das akribische Auseinanderpflücken und die Suche nach Rechtsfehlern ist nicht jedermanns Sache. Auch deshalb haben viele Revisionen keinen Erfolg, weil die dazu notwendige Revisionsbegründung häufig einfach schlecht ist. Dafür lohnt es mitunter auch, den erstinstanzlichen Verteidiger in die Wüste zu schicken und sich einen Revisionsspezialisten zu suchen. Das ist zwar nicht billig, aber wie schon der Volksmund richtig erkennt, guter Rat ist teuer. Im Erfolgsfall zahlt ja dann auch die Staatskasse, wenn auch je nach Honorarvereinbarung nur einen Teil.

Was in der Revision grundsätzlich nicht überprüft wird, ist die Beweiswürdigung des erstinstanzlichen Gerichts. Aber auch da gibt es Ausnahmen, nämlich dann, wenn das Urteil gegen Denkgesetze verstößt, die Schlussfolgerungen des Gerichts sich so sehr von einer festen Tatsachengrundlage entfernen, dass sie letztlich bloße Vermutungen sind, die nicht mehr als einen Verdacht begründen, das Gericht den festgestellten Sachverhalt nicht vollständig gewürdigt hat oder diese Würdigung sich nicht hinreichend im Urteil wiederfindet, die Beweiswürdigung in sich widersprüchlich ist, ein Sachverständigengutachten im Urteil nicht zutreffend dargestellt und dessen Ergebnisse vom Gericht nicht selbst gewürdigt werden oder auch eine negative Würdigung der Tatsache, dass der Angeklagte von seinem Schweigerecht Gebrauch gemacht hat.

Daneben kann jeder Gesetzesverstoß gerügt werden. Hat also hier im Fall von Idar-Oberstein das Gericht davon abgesehen, eine besondere Schwere der Schuld festzustellen, so kann das ohne weiteres ein Anlass für die Staatsanwaltschaft sein, wenn sie meint, die entsprechende Gesetzesauslegung sei falsch gewesen.

Am Ende der Prüfung steht dann das Beruhen. Im Gegensatz zu § 338 StPO, wo das Gesetz bereits annimmt, dass das Urteil auf dem Verfahrensverstoß beruht, ist bei § 337 StPO eine gesonderte Beruhensprüfung erforderlich. Das Urteil beruht dann auf einem Verfahrensverstoß, wenn nicht auszuschließen ist, dass das Gericht bei Nichtvorliegen dieses Verfahrensverstoßes anders entschieden hätte. Die bloße Möglichkeit, dass das Urteil auf dem Fehler beruht, reicht dafür aus.

II. Was ist eigentlich „besondere Schwere der Schuld“?

Die besondere Schwere der Schuld ist ein Begriff aus dem Strafzumessungsrecht. Da die lebenslange Freiheitsstrafe, die wie hier z.B. bei Mord verhängt werden kann, im Gegensatz zu zeitlich begrenzten Freiheitsstrafen keine zeitliche Differenzierung im Hinblick auf die Schuld des Angeklagten zulässt, wird der Grundsatz der Schuldangemessenheit hier über die Frage der Strafrestaussetzung gelöst. Das bedeutet: Während bei jemanden, der „nur“ zu lebenslanger Haft verurteilt worden ist, nach 15 Jahren Haftverbüßung geprüft werden kann, ob die Reststrafe zur Bewährung ausgesetzt werden kann, ist das nicht möglich, wenn das Gericht die besondere Schwere der Schuld im Urteil festgestellt hat.

§ 57a StGB Aussetzung des Strafrestes bei lebenslanger Freiheitsstrafe

(1) Das Gericht setzt die Vollstreckung des Restes einer lebenslangen Freiheitsstrafe zur Bewährung aus, wenn

1.

fünfzehn Jahre der Strafe verbüßt sind,

2.

nicht die besondere Schwere der Schuld des Verurteilten die weitere Vollstreckung gebietet und

3.

die Voraussetzungen des § 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und 3 vorliegen.

§ 57 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 6 gilt entsprechend.

(2) Als verbüßte Strafe im Sinne des Absatzes 1 Satz 1 Nr. 1 gilt jede Freiheitsentziehung, die der Verurteilte aus Anlaß der Tat erlitten hat.

(3) Die Dauer der Bewährungszeit beträgt fünf Jahre. § 56a Abs. 2 Satz 1 und die §§ 56b bis 56g, 57 Abs. 3 Satz 2 und Abs. 5 Satz 2 gelten entsprechend.

(4) Das Gericht kann Fristen von höchstens zwei Jahren festsetzen, vor deren Ablauf ein Antrag des Verurteilten, den Strafrest zur Bewährung auszusetzen, unzulässig ist.

Nun werden Sie völlig zu Recht die Frage stellen, wann das Gericht denn nun eine besondere Schwere der Schuld feststellt oder auch wie diese definiert wird. Aber da muss ich Ihnen leider eine Antwort schuldig bleiben, denn das was z.B. der Große Senat des BGH dazu von sich gegeben hat, ist völlig unbrauchbar. So lautet der Leitsatz der Entscheidung:

Die Feststellung der besonderen Schwere der Schuld nach StGB § 57a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 verlangt Umstände von Gewicht. Der Tatrichter hat seine Entscheidung auf Grund einer Gesamtwürdigung von Tat und Täterpersönlichkeit zu treffen. (BGHSt 40 360f. )

Auch die weitere Begründung macht Anhänger von präzisen Definitionen nicht wirklich froh und erinnert mehr an den alten Grundsatz aus dem Fußball, dass Abseits ist, wenn der Schiedsrichter pfeift.

Der Tatrichter hat demnach ohne Bindung an begriffliche Vorgabe die schuldrelevanten Umstände zu ermitteln und zu gewichten. Alsdann hat er im Wege einer zusammenfassenden Würdigung von Tat und Täterpersönlichkeit die Schuld daraufhin zu bewerten, ob sie nach seiner Auffassung besonders schwer ist. Die Feststellung der besonderen Schwere der Schuld kann dabei nur dann in Betracht kommen, wenn Umstände vorliegen, die Gewicht haben. Nur dies wird der nach § 57 a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB zu treffenden Entscheidung gerecht, die die Möglichkeit eines fünfzehn Jahre überschreitenden Freiheitsentzuges eröffnet. Solche Umstände können beispielsweise eine besondere Verwerflichkeit der Tatausführung oder der Motive, mehrere Opfer bei einer Tat, die Begehung mehrerer Mordtaten oder – im oder ohne Zusammenhang mit dem Mord begangene – weitere schwere Straftaten sein (vgl. BGHSt 39, 208; BGH NStZ 1994, 540, 541). Hierbei ist jedoch stets zu bedenken, daß solche Umstände nicht ohne weiteres, sondern nur im Rahmen der erforderlichen Gesamtwürdigung zur Bejahung der besonderen Schwere der Schuld führen können (vgl. auch BGHSt 39, 121).

Da hat sich der gemeinsame Senat ganz schön einen abgebrochen. Lesen Sie hier  mal die ganze Entscheidung.

Ja nun, wenn Sie jetzt wissen, welche Umstände Gewicht haben und welches Gewicht die haben müssen, damit das Gericht zu Recht die besondere Schwere der Schuld feststellt oder halt auch nicht, dann lassen Sie es mich wissen. Ich weiß es nicht und ich kenne auch keine Kollegin und keinen Kollegen, der das weiß. Vielmehr scheint hier ein Artikel aus dem Kölschen Grundgesetz zu greifen der lautet

Et is wie et is un et kütt wie et kütt

Aber Schwamm drüber, dafür haben wir ja die Richter beim BGH. Und was die letztlich draus machen, werden wir sehen.

Ein Grund für künstliche Aufregung, dass auch der Angeklagte in Revision gehen will, ist nicht gegeben. Denn es macht gerade einen Rechtsstaat aus, dass auch mit Straftätern, die uns von Herzen unsympathisch sind, nach den Regeln der Kunst und unter Wahrung der rechtsstaatlichen Grundsätze umgegangen wird. In anderen Ländern schenkt man sich das, teilweise einschließlich eines Prozesses, und wirft die unliebsamen Zeitgenossen gleich aus einem Fenster oder vergiftet sie. Wenn Sie dies bevorzugen, steht es Ihnen frei, in die entsprechenden Staaten auszuwandern.

Heinrich Schmitz

Heinrich Schmitz ist Rechtsanwalt, Strafverteidiger und Blogger. In seiner Kolumne "Recht klar" erklärt er rechtlich interessante Sachverhalte allgemeinverständlich und unterhaltsam. Außerdem kommentiert er Bücher, TV-Sendungen und alles was ihn interessiert- und das ist so einiges. Nach einer mit seinen Freital/Heidenau-Kolumnen zusammenhängenden Swatting-Attacke gegen ihn und seine Familie hat er im August 2015 eine Kapitulationserklärung abgegeben, die auf bundesweites Medienecho stieß. Seit dem schreibt er keine explizit politische Kolumnen gegen Rechtsextreme mehr. Sein Hauptthema ist das Grundgesetz, die Menschenrechte und deren Gefährdung aus verschiedenen Richtungen.

More Posts - Website