Wahlbeteiligung NRW: ein Trauerspiel

Nicht-Wählen ist auch nicht klüger, als sich täglich mit RTL 2 zuzuballern, sagt Kolumnist Henning Hirsch und schaut fassungslos auf NRW, wo nahezu jeder Zweite keinen Gebrauch von seinem Stimmrecht gemacht hat

Bild von Gotti1979 auf Pixabay

In seiner Kolumne Ich habe gewählt. Und Sie? richtete Heinrich Schmitz am vergangenen Samstag einen Appell an die NRW-Leser, von ihrem Stimmrecht Gebrauch zu machen. Prophetisch völlig zu Recht; wie sich nun leider herausstellt.

Mickrige 55.5 Prozent haben gewählt. Und das bei einer Landtagswahl, die aufgrund der Größe des Bundeslands traditionell als kleine Bundestagswahl gilt, bei der oft die Weichen für künftige Regierungen in Bonn und Berlin gestellt wurden/werden. Wie kann es sein, dass sagenhafte 44.5% der Wahlberechtigten ihre Stimme ungenutzt in die Tonne kloppen? Das ist beinahe jeder Zweite. Was für ein enormes Desinteresse an der demokratischen Willensbildung!

Nehmen wir uns die möglichen Erklärungsgründe einzeln vor:

Zu wenig Auswahl

Offenkundiger Humbug. Auf dem Wahlzettel standen 27 Parteien. Von CDU über Grüne, Freie Wähler, Piraten, Die Violetten, Tierschutz bis hin zu VOLT: für jeden Geschmack was dabei. Mehr Auswahl findet man auch nicht in einer gutsortierten Eisdiele.

Die Parteien wollen und machen alle dasselbe

Ebenfalls Unfug. Die Konzepte unterscheiden sich stark. Und auch im konkreten Regierungshandeln gibt es große Unterschiede zu beobachten. Man muss natürlich schon ein bisschen Aufwand betreiben, indem man entweder die Programme durchblättert, die Zeitung liest, sich politische Sendungen im Fernsehen anschaut oder zumindest 1x den Wahl-O-Mat bedient. Wer all das nicht tut und seine Aufmerksamkeit auf Netflix & Instagram beschränkt, der steht am Stichtag natürlich ahnungslos im Wahllokal und zieht es deshalb vor, da gar nicht erst hinzugehen, sondern sich stattdessen die Folgen 23 bis 27 seiner Lieblingsserie auf Sky2go zum fünften Mal anzusehen und danach ein ausgiebiges Sonntagnachmittagnickerchen zu halten.

Ich bin verdrossen, weil …

Zumeist stoppt der Satz nach „verdrossen“. Beim Weil kommt dann entweder gar nichts oder Blödsinn à la: Die deutsche Politik ist nicht transparent genug. Was, um Himmelswillen, soll das bedeuten? Dass Politiker jedes interne Gespräch auf Band aufzeichnen und direkt im Anschluss in Spotify als Podcast bereitstellen? Und selbst, wenn sie das täten, würde von den Nicht-Wählern hundertpro gejammert werden, da sie die Podcasts zu lang u/o zu schwierig zu verstehen fänden.

Einer meiner Lieblings-Nonsens-Sätze (oft in Kombination mit wahlweise besorgtem oder zornigem Gesichtsausdruck des Interviewten) im TV lautet: „Ich bin verdrossen, weil sich keine Partei um meine Belange kümmert“. Leider erfolgt dann nie die Gegenfrage: „Welche Belange genau meinen Sie?“ … Wenn’s z.B. um die als zu niedrig empfundene Höhe der ALG2-Regelsätze geht – schau dir an, was die Linke zu Hartz 4 schreibt. Das ist was völlig anderes, als CDU, SPD, FDP und Grüne wollen. Man muss sich aber halt die Mühe machen, sich aktiv zu informieren. „Ich bin verdrossen, weil… “ ist unterm Strich betrachtet nichts anderes als eine billige Ausrede, die Lesefaulheit kaschieren soll … PS. auch um meine persönlichen Belange kümmert sich keine einzige Partei. Ich verlange das jedoch gar nicht. Mir reicht es, wenn (halbwegs) gut regiert wird.

Da koaliert doch eh jeder mit jedem = es geht bloß um die Macht

Stimmt bedingt. Dass sich die CDU gemeinsam mit der Linken auf die Regierungsbank setzt, besitzt eine Wahrscheinlichkeit von weniger als 0.5%. Und dass die anderen es tun, liegt in der Logik von immer mehr Parteien, die in unsere Parlamente gelangen und damit in der Konsequenz niedrigeren Prozentzahlen für die ehemals Großen. Volkspartei, die alleine regiert, ist Vergangenheit. Es muss koaliert werden. Und je weniger Berührungsängste dabei zwischen Schwarz und Rot, Schwarz und Grün, Gelb und Rot, Gelb und Grün bestehen, desto besser für unser parlamentarisches Sytem. Denn würden die demokratischen Parteien aufgrund unüberbrückbarer ideologischer Gräben nicht miteinander koalieren können, würde das zwangsläufig die radikalen Ränder stärken und uns zudem in einen Zustand häufig notwendiger Neuwahlen katapultieren. Und Macht: klar, geht es in der Politik um Macht. So wie es beim Fußball um die Meisterschaft oder den Pokal geht. Oder wollen Sie bloß ne Partei wählen, deren Rolle in der Opposition zementiert ist oder Fan eines Clubs sein, der jedes Jahr gegen den Abstieg kämpft? Ohne Macht keine Gestaltungsmöglichkeiten.

Stimme für „meine“ Kleinstpartei bringt nichts

Die 1 Ausrede, die eventuell mit Bauchschmerzen akzeptabel klingt, ist die, dass die Stimme für die präferierte Kleinstpartei nichts bringt, weil die eh an der 5-Prozent-Hürde scheitert. Bloß, wie soll diese Kleinstpartei jemals in die Nähe dieser Hürde gelangen, wenn ihre Anhänger die Flinte schon vor dem ersten Schuss mutlos ins Korn werfen? Wäre ich Fan einer Kleinstpartei (okay, bin ich nicht), dann würde ich die eifrig wählen und zudem Werbung für sie machen. Mich vielleicht sogar in ihr engagieren. Aber das würde den durchschnittlichen Nicht-Wähler, der lieber über die Widrigkeiten des (genau genommen: seines) Lebens jammert, als aktiv was zu unternehmen, maßlos überfordern.

Die meisten Nicht-Wahl-Begründungen sind Nebelkerzen

Wie man unschwer erkennen kann, zünden die o.g. Erklärungsmuster alle nicht so richtig. Es sind Nebelkerzen, die den Blick auf die eigentliche Wahrheit verschleiern sollen, die da lautet: Ich, der Nicht-Wähler, bin zu bequem, mich im Vorfeld zu informieren. Ich habe keinen Bock, rechtzeitig Briefunterlagen anzufordern und wenn am Wahltag die Sonne scheint, gehe ich lieber ins Schwimmbad als an die Wahlurne. Gemäß dem modernen Wohlstandsmantra: Chillen & grillen first!

Dass Nicht-Wähler sich mehr Gedanken über ihr Nicht-Wählen machen als Wähler für ihre Wahlentscheidung ist eine nette Erzählung, die in sporadischen Einzelfällen zutreffen mag, jedoch ganz sicher nicht für das Gros der Wahlverweigerer zutrifft.

Zum Schluss der Kolumne – deren Leserschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit v.a. aus Wählern und weniger aus Nicht-Wählern bestehen wird – bleibt festzuhalten:
(a) Wenn jeder Zweite bei einer Landtagswahl zu Hause auf dem Sofa bleibt bzw. lieber zum Grillen geht, ist das ein Trauerspiel
(b) Die Begründungen, warum man nicht wählt, sind überwiegend substanzloses Blabla
(c) Eine Wahlpflicht beseitigt das grundlegende Problem (Kompetenzmangel gepaart mit Interessenlosigkeit) nicht
(d) Abhilfe würde vielleicht mehr politische Bildung in Schule, Ausbildung und im Berufsleben schaffen
(e) Über ein Absenken der 5-Prozent-Hürde sollte nochmal nachgedacht werden. Damit kleine Parteien eine realistischere Chance erhalten. Man könnte durchaus 3% ausprobieren, ohne gleich Gefahr zu laufen, in Weimarer Verhältnisse der Unregierbarkeit abzugleiten

Und ansonsten gilt: Nicht-Wählen ist auch nicht klüger, als sich täglich mit RTLZWEI zuzuballern.

Henning Hirsch

Betriebswirt und Politologe, Comicleser, Filmjunkie, Bukowski- und FC- (es gibt nur einen FC: nämlich den aus Köln) Fan, trockener Alkoholiker. In die Abstinenz startete er mit einem Roman: Saufdruck. Seitdem tippt er abends Kurzgeschichten und Gedichte. Da die Schreiberei alleine nicht satt macht, verdient er tagsüber seine Kaltmiete und die Kühlschrankfüllung mit Marketing & Orga. Henning Hirsch lebt im Bonner Süden und ist Vater von drei Kindern ... Wer mehr von ihm lesen möchte: www.saufdruck.de

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