Von Kolumnen und Fake News

Dass Deutschland und die EU zu wenig Impfdosen – und dann noch grob fahrlässig bei den falschen Herstellern – geordert hätten, ist ein Schauermärchen, das an Fake News heranreicht. Kolumne von Henning Hirsch

Bild von S. Hermann & F. Richter auf Pixabay

»Ihr Deutsche seid ein Volk von üblen Klugscheißern«, sagte meine englische Bekannte oft, wenn sie mich in Köln besuchte. Lange vor dem Brexit.
»Klugscheißer gibt es in jedem Land der Erde«, antwortete ich.
»Aber nirgendwo so flächendeckend und dermaßen humorlos wie bei euch«, legte sie nach, und dann wechselten wir das Thema und sprachen über das Wetter.

Die nächste Sau im digitalen Dorf

An Weihnachten ging es in den sozialen Netzwerken zur Abwechslung mal ein paar Tage beschaulich zu, Bilder von Weihnachtsbäumen und freizügigen Heiligabend-Dekolletés gefolgt von Leichte-Küche-Tipps für 2021 bestimmten die Szene. So ruhig kann’s durchaus weitergehen, dachte ich am Silvesterabend, überlegte, ob ich am Morgen darauf ein Katzenbild oder einen Poesiealbumspruch poste, legte mich schlafen, erwachte ausgeruht und friedlich, wollte gerade meinen Poesiealbumspruch hochladen, als ich feststellte, dass die alte Jauchegrube Facebook direkt nach dem Jahreswechsel erneut zu brodeln und rumoren begann. Also alles wie immer. Ich packte das Poesiealbum wieder in die Schublade und informierte mich erstmal, welche Sau nun durch digitale Dorf getrieben wurde, und weshalb man sie trieb.

Es ging/ geht um den (angeblich) schleppenden Impfstart in Deutschland. Viel zu langsam, andere Länder seien da weitaus schneller als wir. Na ja, was erwarten die Superschlauen nach drei, vier Tagen: Dass wir da schon das gesamte Land geimpft haben?, dachte ich. Aller Anfang ist schwer und holprig. Hauptsache, wir werden bis zum Sommer damit fertig. Woche 1 finde ich persönlich da völlig uninteressant.

Schaut auf Israel, Bahrein, Singapur, Liechtenstein, Tuvalu und die Marshallinseln; da sind sie überall schon viel weiter als bei uns, hielt mir die Superschlau-Fraktion entgegen, als ich meinen Einwand, den Erfolg bei einem Marathon nicht schon nach den ersten 400 Metern prognostizieren zu können, in diversen Threads platzierte. Wenn man sich die Zahlen der o.g. Länder dann anschaut, stellt man zwar fest, dass sie bereits ein paar Kilometer des Marathons absolviert haben, jedoch z.T. früher mit dem Impfen begannen und vom Ziel der Flächendeckung auch noch (sehr) weit entfernt sind. Abgerechnet wird am Ende und nicht, wenn das Rennen sich noch im absoluten Anfangsstadium befindet.

Und was ist mit der Einkaufspolitik, kommt dann.
Was soll mit der Einkaufspolitik sein, frage ich zurück.
Die war grob fahrlässig verfehlt, Herr Kolumnist!
Verfehlt, und dann auch noch grob fahrlässig??
Lesen Sie denn keine Zeitung, Herr Hirsch?

!!Was für’n Superlativ im Focus!!

Auslöser für das Verfehlte-Einkaufspolitik-Gerücht war wohl eine Focus-Kolumne von Jan Fleischhauer, die den schönen Titel „Merkels Impfstoff-Versagen: Die verheerendste Entscheidung der Kanzlerin in 15 Jahren Amtszeit“ trägt. Wow! denke ich, das ist ja mal ein Superlativ, verheerendste Entscheidung, der Kanzlerin, in 15 Jahren und hänge direkt noch ein weiteres Wow! dran.

Es folgen Sätze wie:

Deutschland hat es leider versäumt, beizeiten ausreichend Impfstoff zu ordern.
„Beziehungsweise die Regierung hat diese für die Gesundheit der Bürger zentrale Aufgabe nach Brüssel delegiert, wo man leider auch in Gesundheitsdingen zunächst die politischen Aspekte in den Blick nimmt und dann erst die pragmatischen.

Satz 1 ist Unfug, Satz 2 trifft bis zum Komma zu; danach wird auch er zu Unfug.

Hier die offiziellen (bisherigen) Bestellmengen der EU (in Mio. Dosen):
(1) CureVac: 405
(2) AstraZeneca: 400
(3) Johnson & Johnson: 400
(4) Sanofi-GSK: 300
(5) BioNTeck/Pfizer: 300
(6) Moderna: 160

Ergibt in der Addition 1.965 Mio. (also knapp 2 Mrd.) Impfdosen.

Damit könnte jeder der 450 Mio. Einwohner der EU 4.5x geimpft werden (was eine 100%-ige Impfbereitschaft unterstellt, die ja ohnehin nicht gegeben ist).

Dass die nationalen Regierungen sich für eine Zentralisierung der Beschaffung entschlossen: dafür gab es gute Gründe. Z.B.
(a) Risikosplitt (6 potenzielle Lieferanten sind besser als 3 oder gar nur 1)
(b) Verhinderung eines nationalen Wettlaufs (der vermutlich schlecht für die ärmeren EU-Mitglieder ausgegangen wäre) -> Verteilungsgerechtigkeit
(c) Konzentration der Expertise in Brüssel
(d) Heraushandeln besserer Konditionen.

Praktiziert jeder Konzern genauso. Die Beschaffung strategisch wichtiger Produkte ist bei der Mutter zentralisiert, die diese dann wieder an die Töchter anhand vorher vereinbarter Schlüssel verteilt. Das ist jetzt wahrlich keine EU-spezifische oder gar sträflich falsche Vorgehensweise.

Dass es so gemacht wird, stand seit Juni 2020 fest. Nachzulesen bspw. in der öffentlich zugänglichen Presse-Ecke der Europäischen Kommission.

Haben die SPD-Minister geschlafen, als im Kabinett über die Beschaffung diskutiert wurde?

Wo waren die ganzen Besserwisser damals?
Wo war die SPD, die sich heute über die (angeblich) verfehlte Einkaufspolitik der Regierung (der sie selbst seit drei Jahren angehört) beschwert? Haben deren Minister, als das im Kabinett diskutiert wurde, allesamt geschlafen? Haben sie – was noch schlimmer wäre – evtl. überhaupt nicht verstanden, worüber der Gesundheitsminister und die Kanzlerin redeten? Und dann die Entscheidung einfach stumm abgenickt? Müßig, sich darüber Gedanken zu machen. Es gilt weiterhin die Feststellung meiner englischen Bekannten: »Ihr Deutsche seid ein Volk von üblen Klugscheißern.«
In diesem Fall mal nicht von Bundestrainer-Klugscheißern, sondern von Einkaufspolitik-Amateuren, die es (im Nachhinein) besser wissen als die Profis im ungeliebten Brüssel.

Bleiben wir bei der auslösenden Fleischhauer-Kolumne:

Bereits im Sommer hatte sich abgezeichnet, dass der aussichtsreichste Kandidat aus Mainz kam und nicht aus Paris. Dennoch schloss die EU-Kommission ausgerechnet mit Sanofi einen der beiden ersten Verträge ab, also dem französischen Pharmakonzern, der für seine Unzuverlässigkeit bekannt ist.

Das sind Sätze aus der Abteilung Propaganda. Niemand konnte im vergangenen Sommer wissen, welcher Hersteller bis zum Jahresende das Rennen machen wird. Niemandem war klar, wer eine schnelle Zulassung erhält. Und bei Unsicherheit ist ein Risiko-Splitt – in diesem Fall die Verteilung der Bestellung auf 6 mögliche Lieferanten – immer eine kluge Option. Würde jeder andere (Profi-!) Einkäufer ebenfalls so handhaben. Kein Profi (!) verlässt sich auf einen einzigen Zulieferer, so lange überhaupt nicht absehbar ist, ob der mit der Entwicklung rechtzeitig fertig wird und wenn er irgendwann fertig wird, jemals die notwendige Menge bereitstellen kann. Für die Behauptung, Sanofi sei bekanntermaßen unzuverlässig, bleibt Fleischhauer den Beweis schuldig. Für mich klingt das stark nach germanischer Überheblichkeit: Was jenseits von Spaghetti Carbonara, Rotwein und Bœuf bourguignon aus romanischen Ländern kommt, taugt nichts. Typische deutscher Porschefahrer-Dünkel.

Die Wahrheit ist: Gegen Biontech sprach zweierlei, die deutsche Herkunft und die Allianz mit Pfizer, dem großen Rivalen aus New York. Wenn man sich bei Leuten umhört, die mit den Verhandlungen vertraut sind, hört man, dass die Franzosen die Impfstoffbestellung als eine Frage des Ansehens betrachteten. Deshalb war auch klar, dass die Bestellung bei Biontech niemals über die 300 Millionen Impfdosen hinausgehen durfte, die man im September bei Sanofi geordert hatte. Das sei eine Sache der nationalen Ehre. Man glaubt es sofort.

Auch hier wieder Blabla bar jeglicher belastbarer Quelle. Gegen BionTech sprach u.a., dass das Vakzin durchgängig bei minus 70° kühl gelagert werden muss. Soviel ich weiß, kann die EU jederzeit in Mainz nachordern. Wie bei den anderen Herstellern ebenfalls. Die Frage ist bloß: kann BioNTech auch innerhalb vertretbarer Fristen so viel liefern wie Deutschland, die EU, letztlich die gesamte Welt gerne kaufen würden? Schnelle Antwort: mit hoher Wahrscheinlichkeit Nein. Weshalb – ich wiederhole mich – es eine kluge Entscheidung der EU war, die Beschaffung auf ein halbes Dutzend Produzenten zu streuen.

Die Trennlinie zwischen Kolumne und Fake News muss scharf bleiben

Und an dieser Stelle habe ich keine Lust mehr, noch weitere Sätze aus der Fleischhauer-Kolumne zu zitieren und auf ihren Wahrheitsgehalt hin zu überprüfen. Auch wenn Kolumnen keine wissenschaftlichen Aufsätze und keine neutralen Artikel im Nachrichtenteil sind, sie bei psychologischer Betrachtung nichts anderes darstellen als das wöchentliche Lamento alter Männer, denen zu Hause keiner mehr zuhören mag, weshalb sie ihren Weltschmerz und/oder Weltzorn halt notgedrungen im Abstand von 7 Tagen in die Laptop-Tastatur hämmern müssen. Geht mir ja genauso. Kolumnisten dürfen ungeprüfte Hypothesen aufstellen, sticheln, reizen und am Ende des Textes was anderes behaupten als zu Beginn. Alles möglich. Niemand mag eine 100 Prozent politisch-korrekt-langweilige Kolumne lesen. Es kann munter nach links und rechts ausgeteilt werden, und der Kolumnist darf nie Angst vor einem Shitstorm haben. Trotzdem sollten auch Kolumnen einen gewissen Wahrheitskern enthalten bzw. die Wahrheit nicht dermaßen verdrehen, bis sie keine Kolumnen mehr sind, sondern an Fake News heranreichen.

Und Sätze wie dieser (okay, ich zitiere doch noch einen):

Was, wenn sich herausstellen sollte, dass ihre [gemeint ist die Kanzlerin. Anm. des Verf.] Unachtsamkeit das Sterben verlängert? Dass es ihre Fehlentscheidung war, die jeden Monat Menschenleben kostet, die andernfalls hätten gerettet werden können?

sind zum einen mega-übel und befördern zum anderen die Fakenews-Produktion in den sozialen Medien, wo dann – ohne die konkreten Zahlen zu kennen – bloß noch davon geschwafelt wird, Deutschland hätte sträflich zu wenig Impfdosen geordert.

Ich will hier nicht langweilen mit Notfallzulassung, Rüstzeit, Logistik, Kühlketten, Nachfrager, die den doppelten Preis zahlen, werden bevorzugt behandelt u.ä.; denn auch das hier ist eine Kolumne und kein Fachaufsatz über professionelles (!) Beschaffungswesen, sondern schließe mit einem Kommentar den ich in einer Facebook-Diskussion aufgestöbert habe:

Ich kann auch am Donnerstag die Lottozahlen vom Mittwoch sagen und Herrn Fleischhauer dafür kritisieren, dass er falsch getippt habe.

Mehr gibt’s zu dieser elenden Klugscheißer-Debatte von meiner Seite aus nicht zu sagen.

Henning Hirsch

Betriebswirt und Politologe, Comicleser, Filmjunkie, Bukowski- und FC- (es gibt nur einen FC: nämlich den aus Köln) Fan, trockener Alkoholiker. In die Abstinenz startete er mit einem Roman: Saufdruck. Seitdem tippt er abends Kurzgeschichten und Gedichte. Da die Schreiberei alleine nicht satt macht, verdient er tagsüber seine Kaltmiete und die Kühlschrankfüllung mit Marketing & Orga. Henning Hirsch lebt im Bonner Süden und ist Vater von drei Kindern ... Wer mehr von ihm lesen möchte: www.saufdruck.de

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