Corona und kein Ende?

Wir sollten uns den Corona-Appell der Kanzlerin zu Herzen nehmen, meint Kolumnist Henning Hirsch

Coronavirus
Bild von freakwave auf Pixabay

Die Zahlen steigen, steigen und steigen. Ob es sich dabei nun um die zweite, die Verlängerung der ersten oder den Vorboten der dritten Welle handelt, ist völlig egal. Ob die Zahlen exponentiell explodieren oder nur temporär nach rechts gekrümmt linear anwachsen, ist eigentlich auch nicht so superwichtig. Ob es daran liegt, dass heute mehr getestet wird als noch vor Wochen oder Monaten, interessiert mich als Laien ehrlich gesagt ebenfalls nur am Rande. Fakt ist: Die Gesundheitsämter melden jeden Tag neue Höchststände an Infizierten, die Belegung der Betten auf den Intensivstationen mit Covid-19-Patienten nimmt wieder zu. Wenn die Entwicklung weiter so voranschreitet wie im September und Oktober gehen wir einem äußerst ungemütlichen Spätherbst entgegen. Karl Lauterbach, den die einen für einen notorischen Schwarzseher, die anderen für die sozialdemokratische Reinkarnation der trojanischen Kassandra ansehen, prognostiziert für diesen Fall einen zweiten Lockdown. Und man mag zu Karl Lauterbach stehen wie man will: Er hat sich bisher in Bezug auf Corona so gut wie nie mit seinen Vorhersagen geirrt.

Lockdown: Da war doch mal was in ferner Vergangenheit?
Ich frische gerne Ihre Erinnerung auf:

Lockdown = Ausgangssperre oder auch eine Absperrung bzw. Versiegelung von Gebäuden und Bereichen.

Shutdown = Situation, in der ein Unternehmen (vorübergehend) seinen Betrieb einstellt.

Lock- & Shutdown = mittelschwere Katastrophen

Beides wäre eine mittelschwere Katastrophe. Und zwar sowohl für viele Familien, die dann wieder beginnen müssten, ihre Kinder zu Hause zu unterrichten und zu bespaßen als auch für große Teile unserer Wirtschaft. Bis weit in den Oktober hinein habe ich deshalb gedacht: Ein neues Herunterfahren des öffentlichen Lebens wird es nicht geben. Wir sind weiter, haben gelernt, mit dem Virus zu leben, uns vor ihm zu schützen. Hin und wieder gibt es lokale Ausbrüche und lokale Hotspots, bei denen es völlig reicht, sie lokal zu bekämpfen. Anscheinend war das aber Wunschdenken meinerseits gewesen. Denn falls die Zahlen weiter so in die Höhe schnellen, wie sie es seit Wochen tun, ist binnen Monatsfrist Gesamt-Deutschland als Hotspot zu betrachten. Von unseren europäischen Nachbarn, wo es im Moment noch schlimmer aussieht als bei uns, brauchen wir hier erst gar nicht zu reden. Horrorbilder wie die vom März in Bergamo tauchen plötzlich vor meinem geistigen Auge auf. Nur dass diese Szenen dann in Köln und Castrop-Rauxel spielen.

„Ist bei uns in Deutschland nicht möglich“, sagen Sie?
„Ich klopfe abergläubisch 3x auf meine hölzerne Tischplatte“, sage ich.

Falls einige sich im Juli und August in bierseliger Stimmung an dichtgedrängten Ostseestränden der Illusion hingegeben haben sollten, ‚aus und vorbei‘, so werden wir nun, wo draußen die Temperaturen sinken, schnell wieder mit der harten Realität konfrontiert: Das Virus war nie weg. Es hat eine kurze Verschnaufpause eingelegt und macht sich nun frisch erholt daran, uns ein weiteres Mal heimzusuchen. Ob es noch exakt derselbe Erreger wie im Frühjahr ist oder das Ding in den Sommerferien ein-, zwei-, dreimal mutierte: Wen, außer den Experten, juckt das? Es handelt sich nach wie vor um ein hochansteckendes Virus, das, wenn es schlecht läuft, den Infizierten ins Krankenhaus und, wenn es noch schlechter läuft, von dort in die Kühlkammer befördert.

„Es sind doch aber nur wenige, die daran sterben und die, die sterben, sind alt und waren vorerkrankt. Wir können doch nicht ein ganzes Volk in Sippenhaftung für eine kleine Risikogruppe nehmen“, sagen Sie nun?
„Sie mich auch“, erwidere ich.

Ansteckungsgefahr wächst täglich

Die Wahrscheinlichkeit, mit Covid-19 persönlich Bekanntschaft zu machen, wächst von Tag zu Tag. Kannte ich Corona bis in den Spätsommer hinein nur vom Hörensagen – z.B. der Kindergarten im Nachbarviertel schließt für zwei Wochen, weil eine Erzieherin sich angesteckt hatte –, so kommen die Einschläge nun im Herbst näher. Erst gestern wurde mir von einer befreundeten Familie berichtet, bei der fünf Personen gleichzeitig erkrankt sind und der Mann, jünger als ich, wegen schwerer Symptome bereits nach 48 Stunden ins Krankenhaus abtransportiert wurde, während sich Mutter und Kinder in strenger häuslicher Quarantäne befinden. Oha, dachte ich, so schnell kann’s gehen und überlegte, wann statistisch gesehen ich selbst an der Reihe bin.

Nun neige ich weder zu Schwarzmalerei, noch zu Alarmismus. Lag selbst 10x auf der Intensivstation und weiß, dass es auch von dort wieder einen Weg nach draußen gibt. Das Virus wird uns nicht alle killen; dafür ist die Mortalität Gottseidank zu gering. Es wird uns jedoch nicht so schnell in Ruhe lassen und uns, falls wir nicht energisch gegensteuern, in den kommenden Monaten einige zehntausend vermeidbare Todesfälle bescheren.

Die effektivste Methode, SARS-CoV-2 zu stoppen, bestünde darin, dass wir ALLE vier Wochen lang zu Hause bleiben. Vorher ordentlich Klopapier, Dosenravioli und Corned Beef hamstern und dann mit dem Arsch festgetackert auf dem Sofa kreuz und quer durch Netflix zappen. Dem Erreger keine Chance bieten, vom einen zum anderen Wirt weiterzuspringen, der biologischen Malware den humanen Nährboden entziehen, das Teil schlichtweg aushungern. Ob’s dann jedoch tatsächlich für immer und ewig vorbei ist, oder uns eventuell im März eine neue Welle von Asien oder Afrika oder vom Nordpol herkommend überrollen wird, weiß allerdings auch niemand so genau.

Deshalb bleibt es beim weiter oben Gesagten: ein zweiter bundesweiter Lock-/ Shutdown kann nur die allerletzte Möglichkeit sein, falls alle anderen, weniger invasiven Maßnahmen versagen sollten. Denn ein erneuter Shutdown würde ein Branchensterben bisher nicht gekannten Ausmaßes nach sich ziehen. Hand aufs Herz: Wann sind Sie das letzte Mal ins Kino, zu einer Musikveranstaltung, ins Theater gegangen? Haben Sie sich mit einem Gastronomen oder Hotelbesitzer darüber unterhalten, was die für Umsatzeinbrüche in diesem Jahr verkraften müssen? Wissen Sie, wie viele Clubs & Nachtlokale in den vergangenen Monaten ihre Pforten für immer schließen mussten? Haben nicht zahlreiche Arbeitgeber Corona als willkommenen Vorwand genommen, um Belegschaft, die sie eh schon länger loswerden wollten, erst in Kurzarbeit und im Anschluss in die Jobcenter zu schicken? Der Kitt der Kurzarbeit verstellt im Moment den klaren Blick auf das wahre Ausmaß der sich in Bälde anbahnenden ökonomischen Katastrophe. 2021, sobald die Maßnahme ausläuft, wird als das Jahr mit DEN Rekord-Arbeitslosenzahlen in die Geschichtsbücher eingehen.

Lieber arbeitslos als tot?

„Lieber arbeitslos als tot“, meinen Sie?
„Habe ich im Frühjahr noch genauso gesehen“, antworte ich. Heute hingegen graut mir manchmal vor einer Depression, wie wir sie Ende der 20-er Jahre des vergangenen Jahrhunderts schon mal erlebt haben. Auch wenn man die Situationen damals und heute nicht 1 zu 1 miteinander vergleichen kann, so ähneln sich ökonomische Depressionen doch darin, dass sie sich oft als hartnäckig erweisen und als unappetitliche Folge das Erstarken der radikalen politischen Ränder im Schlepptau haben.

So lange die Inzidenzwerte nicht in die Stratosphäre schießen, die Krankenhäuser nicht am Limit arbeiten u.v.a. die Mortalitätsrate nicht explodiert, sollten wir deshalb ALLES versuchen, die Pandemie mit hausärztlichen Mitteln (i.e. Maske beim Einkaufen und auf der Straße tragen, Abstand halten, Menschenmengen meiden, lieber einmal zu oft als einmal zu wenig zu Hause bleiben, die Möglichkeiten von Homeoffice und Homeschooling umfangreich nutzen etc. etc.) in den Griff zu bekommen, als Gefahr zu laufen, dass wir qua Gesetz/ Verordnung pünktlich zum Start der Adventszeit unsere vier Wände bis zum Frühjahr nicht mehr verlassen dürfen und Gastronomie & Hotellerie der endgültige Todesstoß versetzt wird. Der leicht erkältete Patient Deutschland, der sich im Moment noch mit Mitteln aus der Hausapotheke selbst kurieren kann, würde dann mit dauerhaft 40° Grad Fieber auf die ökonomische Intensivstation verfrachtet. Länge des Aufenthalts und Rückkehr zu alter Stärke völlig ungewiss.

Der Optimist in mir sagt, wir werden es mit Masken und Rückzug auf die Wohnzimmercouch schaffen, weil wir Menschen vernünftige und soziale Wesen sind. Der Pessimist hält dagegen: „Vernünftig und sozial? Vergiss es! Das klappt nie und nimmer. Es gibt immer noch ne Menge Leute, die sich störrisch und grob fahrlässig der Prävention verweigern. Spätestens an Weihnachten wird der nationale Infektions-Notstand ausgerufen.“

Bleibt nur zu hoffen, dass sich möglichst viele am eindringlichen Appell der Kanzlerin ausrichten. Denjenigen, die der Kanzlerin, egal was die gerade empfiehlt, grundsätzlich misstrauen, sei zusätzlich ein Tipp meiner Großmutter väterlicherseits ans Herz gelegt: Im Krieg und bei Seuchen ist Vorsicht eine Tugend. Die Dame hat mit diesem Motto zwei Weltkriege und die Spanische Grippe relativ unbeschadet überlebt und wurde knapp 100 Jahre alt, weshalb mir der Ratschlag vernünftig zu sein scheint. Ich jedenfalls habe mir zusätzlich zum Netflix- jetzt auch noch ein Maxdome-Abo zugelegt und ein Dutzend Romane in Amazon bestellt, damit mir beim (noch freiwillig) Zu-Hause-bleiben auch bestimmt nicht langweilig wird.

Und wie lange soll das (freiwillige) Zu-Hause-bleiben dauern, wollen Sie abschließend wissen? Halt so lange, bis die Werte wieder absinken und ein Impfstoff zur Verfügung steht. Und der Impfstoff wird kommen. Da bin ich SEHR zuversichtlich.

Henning Hirsch

Betriebswirt und Politologe, Comicleser, Filmjunkie, Bukowski- und FC- (es gibt nur einen FC: nämlich den aus Köln) Fan, trockener Alkoholiker. In die Abstinenz startete er mit einem Roman: Saufdruck. Seitdem tippt er abends Kurzgeschichten und Gedichte. Da die Schreiberei alleine nicht satt macht, verdient er tagsüber seine Kaltmiete und die Kühlschrankfüllung mit Marketing & Orga. Henning Hirsch lebt im Bonner Süden und ist Vater von drei Kindern ... Wer mehr von ihm lesen möchte: www.saufdruck.de

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