Ein Roman, der nicht aus dem Schatten seiner Vorbilder tritt.

Kester Grants Der Hof der Wunder setzt sich vielfältig zu den beiden Klassikern Das Dschungelbuch und Die Elenden in Beziehung. Das bekommt der ansonsten recht soliden Parallelwelt-Geschichte eher nicht. Literatur-Kolumne von Sören Heim


Kester Grants Der Hof der Wunder setzt sich vielfältig zu den beiden Klassikern Das Dschungelbuch und Die Elenden in Beziehung. Das bekommt der ansonsten recht soliden Parallelwelt-Geschichte eher nicht.

Darum geht es: Die Unterwelt des Paris des mittleren 19. Jahrhunderts ist in Gilden unterteilt, die gemeinsam und gegeneinander das organisierte Verbrechen in der Stadt gestalten. Leser, bzw. Hörer folgen den Bemühungen der Jungen Nina, ihre Schwester aus den Fängen von Kaplan, einem besonders üblen Gildenführers, zu befreien. Dazu tritt sie der Diebesgilde bei. Es ist eine ganze Reihe von Aufgaben zu absolvieren, ehe es gelingen kann, Verbündete zu ermutigen, den Kampf mit dem mächtigen Kaplan aufzunehmen.

Das Elend großer Vorbilder

Und die Kämpfe sind das große Problem von Der Hof der Wunder. Nein, nicht die der Protagonisten. Die mit den literarischen Vorbildern. Grant stellt sich gleich in die Tradition zweier großer Meisterwerke der Weltliteratur, und das scheint mir keine kluge Entscheidung. Eng angelehnt ist Der Hof der Wunder an Victor Hugos Meisterwerk Die Elenden und der sich aufdrängende Vergleich wirft oft allzu grelles Licht auf die Schwächen des Ersteren (Der titelgebende Hof der Wunder allerdings stammt aus Der Glöckner von Notre Dame). Das Paris Mitte des 19. Jahrhunderts ist für Der Hof der Wunder tatsächlich nicht mehr als Kulisse. Kein Bild prägt sich wirklich ein, keine Lebenssituation abseits der Gilden wird ernsthaft gezeigt. Und selbst diese „Elenden“ (denn so nennen sich die Mitglieder des Hofes der Wunder), sie können in ihrem Elend gar nicht wirklich erscheinen. Denn es sind die Verwicklungen des Alltags, die Kontraste, der Aufstieg und das Fallen und die zwischenmenschlichen Konflikte an sich relativ normaler Menschen, die das Elend in Die Elenden so greifbar machen. Die Halbwelt dort fasziniert und schockiert, auch dadurch, dass sie zwar überall ihre Finger im Spiel hat, doch für den Leser nie wirklich zu greifen ist. Dagegen ist Der Hof der Wunder verwaltete Welt pur, wie man sie auch aus modernen Fantasy-Romanen kennt. Es gibt zahlreiche Gilden, alle haben ihren Namen und Redewendungen, nichts bleibt wirklich im Dunkeln, für alles gibt es ein Schema, als werde schon auf das Klassensystem eines etwaigen RPGs zum Buch geschielt. Die meisten Figuren sind eher Nomenklatur als glaubhafte Personen, die eine Welt vermitteln. Auch das Dschungelbuch ist ein Roman oder ein Geschichten-Kosmos, der durch Situationen erzählt wird, und genügend Ambivalenzen lässt, um der Vorstellungskraft Raum zu geben. In Der Hof der Wunder ist es einerseits in Redewendungen und einigen Zitaten anwesend, andererseits sollen der Dschungel durch Paris und die Tiergruppen durch die Gilden gespiegelt werden. Auch dieser Vergleich bekommt Der Hof der Wunder nicht.

Was der Roman hätte leisten können

Wer aufgrund der beworbenen Parallelen zu Die Elenden zu diesem Buch gegriffen hat, wird sich wünschen:

– Ein alternatives Paris, das tatsächlich durch glaubhafte Interaktionen der Bevölkerung, eingebettet in ebenso glaubhafte Beschreibungen, lebendig wird.

– Eine tiefere Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Situation: Was heißt das, die Revolution ist gescheitert? Gescheitert, wie sie ja auch in unserer Welt gescheitert ist? Mit dem Bürgerkönig und Napoleon dem Dritten? Oder auf ganz andere Weise gescheitert? Welche politischen und sozialen Strukturen halten Menschen im Elend? Ist Verbrechen in einer solchen Situation Notwendigkeit, oder wählen die Mitglieder des Hofes der Wunder nicht doch den einfachsten Ausweg?

All solches wird kaum berührt. Stattdessen bekommt man eine Abenteuergeschichte, in der Diebe Diebe sind und Meuchelmörder Meuchelmörder, nicht viel anders also als im Fantasyroman Paladine Paladine oder Magier Magier. Man wird sich, wenn man auf der Suche nach einer Abenteuergeschichte ist, wahrscheinlich nicht langweilen, das Buch hat ein paar gelungene Momente, und wäre vielleicht ohne allzu offene Verweise auf Viktor Hugo deutlich besser gefahren.

Es handelt sich um den ersten Teil einer Trilogie, das Ende ist weit offen. Zum Kauf kann man eigentlich nur raten, wenn der Wille besteht, alle drei Romane zu lesen oder zu hören.

Sören Heim

Sören Heim ist Journalist, Übersetzer und Schriftsteller. Er ist Träger des kosovarischen Preises für moderne Dichtung „Pena e Anton Pashkut“ (Stift des Anton Pashku) und des Sonderpreises „Favorit von Daniel Glattauer“ der art.experience 2014. In HeimSpiel schreibt Sören Heim mit Heimvorteil zu den Schnittpunkten von Kunst, Kultur und Gesellschaftspolitik. Er beleuchtet die unerwartete Bedeutung ästhetischer Fragestellungen für zeitgenössische Debatten, die mit Kunst auf den ersten Blick kaum Berührungspunkte haben. Und wo immer, sei es in der Politik, sei es in der Ökonomie, sei es gar im Sport, er auf geballten Unsinn und Unverstand trifft, wagt der Kolumnist auch das ein oder andere Auswärtsspiel. Bisher erschien die Kolumne HeimSpiel im Online-Debattenmagazin The European. Daneben veröffentlicht Heim in mehreren Literaturzeitschriften vornehmlich Lyrik und dichte Kurzprosa, und bloggt auf der eigenen Homepage aus seinem Zettelkasten. Monographien: Kleinstadtminiaturen: Ein Roman in 24 Bildern. Girgis Verlag: 2016 – ISBN: 978-3939154181.Cover nur Front Gewogene Worte: Nachdichtungen aus dem Chinesischen. edition maya: 2016 – ISBN: 978-3930758463.cover kathaStrophen. Experimente in Rhythmus und Melodie. Chiliverlag: 2017 -ISBN: 978-3943292541.FrontCover 2_bleu Algenhumor: Gedichte für das dritte Jahrtausend. Girgis Verlag: 2016 – ISBN: 978-3939154228.algen Audio-Exklusiv: La vie! La jeunesse! – Hörmordkartell 2017

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