Der Angel Heart der Musik ist tot

Zum Tode von Dr. John ein Porträt, dass Ulf Kubanke vor kurzem hier und in der Tageszeitung Freie Presse veröffentlichte:
Ihr wollt Voodoo, Blues, Cajun und Psychedelic Rock? Kein Problem: In diesen Tagen feiert seinen 50. Geburtstag. Der Autor ist Dr. Johns Meilenstein „Gris-Gris“ und dem Musiker in dieser Ausgabe seiner Kolumne auf den okkulten Fersen.


Vor einem halben Jahrhundert erschien das ebenso faszinierende wie musikhistorisch bedeutende Album „Gris-Gris“ von Blues-Urgestein Dr. John. Weiße Männer können keinen Blues? Von wegen! Im Jahr 1968 war der gebürtige Malcolm John Rebennack nicht nur irgendein „Whitey“. Er war viel mehr. Der Night Tripper nannte er sich, war tief verwurzelt in der Voodoo-Kultur seiner Heimat New Orleans und schenkte der Welt dieses Gumbo aus archaischer Ritualmusik, filetiertem Blues und psychedelischem Rock.

Ein Konzert im tiefen Louisiana Ende der 60er Jahre:

Die ekstatische Geräuschkulisse schwoll an. Ihr Lärm wurde ohrenbetäubend. Ein erster Kampf begann. Blut spritzte auf den wie stets makellos weissen Anzug Dr. Johns. Der Doktor stand auf, und es ward schlagartig still. Nach einer kaum wahrnehmbaren Bewegung seines linken kleinen Fingers waren die Flecken verschwunden und jener Hahn, auf den er gesetzt hatte, gewann. Natürlich, der Doktor gewann fast immer.

New Orleans 1961: Die Magie und der Verlust, der Zauber und der Preis, das Geschenk und das Opfer sind essentieller Teil des Voodoo. Und man bezahlt immer. Sieben Jahre vor seinem Opus Magnum gründet Dr. John seine erste ureigene Band. Professionelle Erfahrungen hatte er längst gemacht und war ein bereits geschätzter Gitarrist und Sessionmusiker. So spricht alles für ein reibunsloses Emporklimmen auf der musikalischen Karriereleiter. Doch manchmal kommt es ganz anders, nicht wahr? Manchmal fährt einem das Schicksal mit Wucht in die Parade.

So auch hier. Ausgerechnet dieser leidenschaftliche, nicht im Geringsten zu Gewalt neigende Musiker gerät eines Nachts unverschuldet in eine Auseinandersetzung, die in derber Schlägerei mündet. Sein Gegner greift zu unfairen Mitteln, greift zum Gewehr und legt auf ihn an. Doch Rebennack schnappt sich den Lauf, lenkt ihn ab. Beim Versuch, dem Anderen die Waffe zu entreißen, löst sich ein Schuss. Von diesem Moment an ist die Fingerkuppe seines rechten Ringfingers ebenso Geschichte wie die Pläne als Gitarrist. Der Finger bleibt gelähmt.

Doch Dr. John, The Night Tripper, wie er sich bald nennen wird, ist kein Typ für Jammern und Zähneklappern. Der hochmusikalische Künstler war bereits seit frühester Kindheit vom Voodoo ebenso gebannt wie infiziert. Auch der Titel „Dr. John“ geht auf einen gleichnamigen Haitianer zurück, der im Bayou des 19 Jahrhunderts als farbiger freier Mann lebte. So geschätzt wie gefürchtet hielt er Reptilien und Skorpione als Hausgefährten zwischen menschlichen Schädeln, die als Kerzenhalter dienten. Er galt als mächtiger Magier, als Voodoo-Meister, der Rituale abhielt und verwunschene Amulette – sogenannte Gris-Gris – verhökerte. Der Legende nach gab es um 1860 ein gemeinsames rituelles Spektakel von Voodoo-Priester und Pauline Rebennack – seiner Urahnin – in einem örtlichen Hurenhaus. Ob dies wahr ist oder Mär? Pauline existierte jedenfalls und der dunkle Priester wurde kurzzeitig eingesperrt für derlei Treiben. In wenigen Jahren wird diese Story Rahmenhandlung des Albums werden.

Vorher gibt die Verwurzelung im Voodoo ihm jedoch Kraft und Eingebung, instrumental umzusatteln. Für rhythmische Passagen steigt er auf den Bass um, dessen vier Saiten sich mit vier Fingern leichter spielen lassen. Im Zentrum von Komposition und Performance steht jedoch von nun an das Klavier. Beides zusammen erschließt seiner Musik und den Auftritten eine Tiefe, die ohne den Vorfall womöglich nie entstanden wäre.

Gris-Gris – Das Debütalbum als Meilenstein

Die klangästhetische Bedeutung der Platte kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Das zeigt sich besonders bei einer Betrachtung aus der Zeit heraus. 1968 steckte vieles noch in den Kinderschuhen oder war gänzlich ungeboren. Jefferson Airplane, Grateful Dead, Cream oder Pink Floyd entwickelten 1967 – während Dr. John die Scheibe aufnahm – bereits den Prototyp des Psychedelic Rock. Doch ausformuliert war das Genre längst nicht. Der Night Tripper entschied, dass der Blues eine heftige Portion Voodoo-Medizin bräuchte. Und er war der erste seiner Art. Sogar Howlin‘ Wolfs berühmte Psychedelic-Blues-LP aus dem Jahr 1969 entstand erst nach bzw. wegen „Gris-Gris“.

All diese Alben der Kollegen wirken trotz ihrer eigenen Strahlkraft in Punkto Rohheit, Schroffheit, vergleichsweise wie nette Episoden aus der Kita-Ecke der Populärmusik. Das ist weder übertrieben noch despektierlich gemeint. Man höre nur einmal die knochenklappernde, unheilvoll groovende und ebenso manische wie psychotische Aura der Gefahr, die dieses Album umgibt. Nichts davon hat in 50 Jahren auch nur Spurenelemente von Patina angesetzt. Trotz 50 in die Sümpfe gegangener Jahre: Nichts davon klingt heute auch nur im Ansatz harmlos.

Woran mag das liegen? Die Antwort ist simpel: Nur scheinbar handelt es sich hier um eine Show. Der Grusel ist echt. Die schillernde Dunkelheit ist echt. Die Auschweifung des Rituals ist echt. Authentisch vielleicht nicht im Sinne tatsächlich übernatürlicher Magie, gleichwohl in der Methodik. Die Band bestand ausnahmslos aus echten New Orleans-Musikern, deren Glaube mit dem Voodoo verwachsen war. Auch wurden hier real flankierende Zeremonien verwendet, deren Naturell semidokumentarisch in die Arrangements einfloss. Man lud echte Mambos, Bocore und Houngans – verschiedene Titel der weiß- und schwarzmagischen Priesterkaste – ein. Hilfreich war sicherlich auch der eine oder andere LSD-Trip während der Aufnahmen.

Heraus kommt ein Meilenstein von einem Album. „Gris-Gris“ verhält sich zum Rest der Musikwelt wie „Angel Heart“ zum Rest der Filmwelt. Es verbindet den kultischen, groovy Akt mit der Urkraft des Blues sowie der Härte des Rock. Das Ergebnis ist eine ekstatische, wundervolle und ein wenig fiese Messe, in der Schatten und Licht miteinander ringen. This is gothic Blues!

Zwei Anspieltipps drängen sich förmlich auf. „Gris-Gris Gumbo Ya-Ya“ eröffnet den Reigen mit mit kurz angerissenen Bläsern und in Trance versetzender Schwüle.

„The call me Dr. John, known as the Night Tripper…“ knurrt er dem Hörer entgegen und erzählt die Story seines Bühnencharakters und dessen okkulter Fähigkeiten. Mit dem später einsetzenden „I Walk On Guilded Splinters“ serviert einen betörend tanzbaren Cocktail aus Cajun-Groove und eingängiger Rock-Dynamik.

Endstation Diesseits

Rebennack ist mittlerweil fast 80 Jahre alt. Doch dem Night Tripper war kein so langes Leben vergönnt. Noch ein, zwei ebenfalls vorzügliche Nachfolgeplatten lang hielt er sein Alterego am Leben. Danach kürzte er den Künstlernamen zum simplen Dr. John, der seit 2011 einen Ehrenplatz in der Rock’n’Roll Hall Of Fame inne hat. Sicher, die Musik war noch immer solide und charmant. Doch verglichen mit diesem Nachtfeuer von einem Album ist das seit mehr als 40 Jahren gebotene Büffet harmlos, konventionell und leider auch ein wenig betulich. Vom wilden, sexy Höllenzug zur gemütlichen Kaffeefahrt? Leider ja!

Ist dies Zufall? Wohl kaum. Etwa Kalkül oder Berechnung? Sicher nicht. Manche sagen, dass er mit den Drogen auch die Mr. Hyde-Seite aus seinem Leben verbannte. Im Bayou jedoch erzählt man, der Doktor habe seine Nase ein wenig zu weit ins sumpfige Terrain von Voodoo und Mystik vorgewagt. Dort habe er Pforten einer Wahrnehmung geöffnet, die besser verborgen geblieben wären. Sie würden sich nie wieder gänzlich schließen. Es bleibe eben immer etwas zurück, wenn man sich mit dem Bayou misst.

Ulf Kubanke

Ehemaliger Anwalt; nun Publizist, Gesprächspartner und Biograph; u.a. für Deutschlands größtes Online-Musikmagazin laut.de.

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