Das Imperium schlägt zurück? – G20-Täter vor Gericht
In Hamburg wird ein 21-jähriger Niederländer im Zusammenhang mit den G20-Krawallen zu einer Freiheitsstrafe von 2 Jahren und 7 Monaten verurteilt. Eine Entscheidung, die unterschiedliche Reaktionen ausgelöst hat – Entsetzen und Begeisterung. Wie entsteht eine Strafe? Ist das Urteil zu hart?
Der Kommentator des NDR, Gerd Wolff, scheint zufrieden:
Er bezeichnet das Urteil als eines, das „mit Augenmaß begründet“ sei. Da bekommt man den Verdacht, dass Herr Wolff sich nicht allzusehr mit Strafrecht und vor allem Strafzumessung auskennt.
Die Basis der Strafzumessung ist in § 46 StGB geregelt:
§ 46 Grundsätze der Strafzumessung
(1) 1Die Schuld des Täters ist Grundlage für die Zumessung der Strafe. 2Die Wirkungen, die von der Strafe für das künftige Leben des Täters in der Gesellschaft zu erwarten sind, sind zu berücksichtigen.
(2) 1Bei der Zumessung wägt das Gericht die Umstände, die für und gegen den Täter sprechen, gegeneinander ab. 2Dabei kommen namentlich in Betracht:
die Beweggründe und die Ziele des Täters, besonders auch rassistische, fremdenfeindliche oder sonstige menschenverachtende,
die Gesinnung, die aus der Tat spricht, und der bei der Tat aufgewendete Wille,
das Maß der Pflichtwidrigkeit,
die Art der Ausführung und die verschuldeten Auswirkungen der Tat,
das Vorleben des Täters, seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse sowie
sein Verhalten nach der Tat, besonders sein Bemühen, den Schaden wiedergutzumachen, sowie das Bemühen des Täters, einen Ausgleich mit dem Verletzten zu erreichen.
(3) Umstände, die schon Merkmale des gesetzlichen Tatbestandes sind, dürfen nicht berücksichtigt werden.
Es gibt keine klar festgelegte Strafe – außer bei Mord – die man in irgendeinem Katalog nachschlagen könnte. Es gibt überhaupt nicht die einzig richtige Strafe. Es gibt nur einen gewissen Spielraum, innerhalb dessen die Strafe vom Gericht bestimmt wird. Das ist der sogenannte Strafrahmen, der sich aus den Strafdrohungen der verletzten Straftatbestände ergibt. Strafzumessung ist die Aufgabe des Gerichts, nicht die einer Rechenmaschine.
Die Ermittlung der Strafe folgt dabei immer dem gleichen Prinzip. Nachdem die Tat als solche festgestellt ist, das Gericht also davon überzeugt ist, dass der Täter einen bestimmten Straftatbestand oder auch mehrere erfüllt hat und nicht gerechtfertigt oder entschuldigt ist, muss zunächst der gesetzliche Strafrahmen gefunden werden.
Der in Hamburg verurteilte Niederländer wurde wegen schweren Landfriedensbruchs, gefährlicher Körperverletzung, eines besonders schweren Angriffs auf Vollstreckungsbeamte und Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte schuldig gesprochen. Klingt gewaltig.
Tatsächlich hatte er zwei leere Bierflaschen – nicht etwa gefüllte, abgeschlagene oder brennende – auf einen Polizisten geworfen und diesen auch getroffen. Da dieser in voller Körperschutzausrüstung, so nennt man diese Ritterrüstungsähnlichen rund 22 Kilogramm schweren Spezialklamotten, unterwegs war, verspürte er zwar einen kurzen Schmerz, war aber sowohl in der Lage, den Täter zu ergreifen, als auch ohne Sanitätereinsatz weiter zu arbeiten. Die Widerstandshandlung des Verurteilten bestand nur darin, sich auf dem Boden in eine Embryohaltung zu begeben und die Muskeln anzuspannen.
Nun sind die genannten Delikte allesamt keine Lappalien, es sind aber eben auch keine Schwerverbrechen, es sind nicht einmal Verbrechen, sondern Vergehen. Der Unterschied zwischen Verbrechen und Vergehen besteht in der angedrohten Mindeststrafe. Nur Taten, die im Mindestmaß mit Freiheitsstrafe von einem Jahr oder darüber bedroht sind, heißen Verbrechen.
Der Strafrahmen des besonders schweren Landfriedensbruchs – und das ist das schwerste Delikt in der angeklagten Reihe – geht von 6 Monaten bis zu 10 Jahren. Das mag jetzt für Laien so klingen, als seien dann 2 Jahre und 7 Monate völlig in Ordnung, weil weit von einer möglichen Höchststrafe entfernt, Strafrechtler sehen aber eher, wie weit die ausgesprochene Strafe sich schon von der Mindeststrafe und den sonst in ähnlichen Fällen verhängten Strafen entfernt hat.
Wenn der zutreffende Strafrahmen gefunden wurde – was gar nicht mal immer funktioniert – muss das Gericht zunächst innerhalb dieses Rahmens einen weiteren Rahmen finden. Man schleicht sich also von außen nach innen an die angemessene Strafe heran. Dazu muss das Gericht den Unrechts- und Schuldgehalt der Tat bewerten. Messgeräte gibt es dafür nicht. Nur wage Anhaltspunkte. Die Mindeststrafe ist für die denkbar leichtesten, die Höchststrafe für die denkbar schwersten Fälle gedacht. Daraus ergibt sich dann ein gewisser Spielraum zwischen der gerade schon angemessenen und der gerade noch angemessenen Strafe.
Eine einzige richtige Strafe mag es zwar als Ideal geben, aber Menschen – und vergessen Sie bitte nie, dass auch Richter Menschen sind – sind nicht dafür geschaffen, absolute Ideale zu erkennen oder gar zu verwirklichen. In einer Kammer können sich die Richter wenigstens noch austauschen, aber so ein Amtsrichter ist da ganz alleine mit seiner Entscheidung, was eine gewisse Risikoerhöhung für Ausreißer bei der Strafzumessung mit sich bringt.
Irgendwas um diese ideale Strafe herum muss es also auch tun. Um das Ganze für die Entscheider etwas zu erleichtern, werden seit Generationen ominöse, nirgendwo zu Papier gebrachte traditionelle – ich nenne das jetzt mal – Strafrahmengebräuche gepflegt, die sich von Landgerichtsbezirk zu Landgerichtsbezirk erheblich unterscheiden können. Strafverteidiger können ein trauriges Lied davon singen. Köln ist nicht Koblenz und Hamburg nicht München. Zwingend sind die aber auch nicht.
So wie ein vernünftiges Essen auf dem Festland in Ostfriesland (ich empfehle den Asea Wok in Wittmund) deutlich weniger kostet, als auf einer ostfriesischen Insel, so sind auch die strafrechtlichen Preise recht unterschiedlich verteilt. So wurde z.B. ein Pegida-Anhänger, der einen russischen Kameramann krankenhausreif geprügelt hatte, vom Amtsgericht Dresden zu einer Geldstrafe von 80 Tagessätzen zu je 55.–€ verurteilt. Das könnte man als Schnäppchen ansehen, obwohl eine solche Strafe durchaus vertretbar sein kann.Ob ein Asylbewerber, der einen Pegida-Anhänger verprügelt hätte, da mit einer ähnlichen Strafe weggekommen wäre, man weiß es nicht.
Bei der Ermittlung der individuellen Strafe für den Angeklagten muss das Gericht alles das, was im § 46 StGB drin steht, möglichst vollständig abarbeiten. Also strafschärfende und strafmildernde Gesichtspunkte berücksichtigen.
Das beginnt mit dem bisherigen Leben des Täters: Hat er Vorstrafen oder nicht? Der Niederländer hatte keine. Wie ist er aufgewachsen, heile Familie oder pures Chaos, Heim, (Jugendliche und Heranwachsende werden nach einem ganz anderen Prinzip verurteilt, das in dieser Kolumne nicht berücksichtigt wird) oder war er besonders alt? Hatte er bisher ein geregeltes Leben oder hat er eher die Karriere eines notorischen Kriminellen eingeschlagen? Der Niederländer ist Student. Hatte er schwere Krankheiten oder Behinderungen? Gehört er zu den besonders Schlauen – was sowohl gut als auch schlecht sein kann – oder ist er eher ein schlichtes Gemüt?
Weiter geht es mit dem Tatmotiv. Gab es ein vielleicht Mitverschulden des Tatopfers an der Situation, war der Täter alkoholbedingt enthemmt, war sein Motiv vielleicht sogar ehrenwert oder gerade das Gegenteil? Gab es eine Gruppendynamik?
Wie sah es mit der konkreten Tatausführung aus? Hatte er die Bierflaschen dabei oder lagen die darum? Die lagen wohl da rum. Der Wurf mit einer leeren Bierflasche ist z.B. deutlich ungefährlicher, als z.B. der Wurf mit einer vollen, einem Pflasterstein oder einem Dartpfeil. Konnte man da eine besondere kriminelle Energie entdecken? Zeigt sich in der Tat eine brutale, menschenverachtende oder rassistische Gesinnung? Ist er ein grausamer Täter? Hat er ein besonderes Vertrauensverhältnis missbraucht? Wohl kaum. Oder gab es eine Gruppendynamik? Schon eher. Hatte er seine Tat geplant oder war es eher eine spontane Handlung?
Wie sind die Folgen der Tat? Wurde das Tatopfer schwer geschädigt oder hat es sich nur mal kurz geschüttelt? So richtig schlimm kann die Verletzung des Beamten nicht gewesen sein, wenn er sofort weiter mitmischen konnte. Wurde das Opfer traumatisiert? Auch wenn Polizeibeamte selbstverständlich kein Freiwild sind, verkraften sie in ihrer Kampfmontur den Wurf von Bierflaschen vermutlich ohne größere psychische Probleme, während eine ungeschützte Frau im Sommerkleid oder ein gebrechlicher Senior mit Rollator einen solchen Wurf als traumatisierend erleben könnte. Wäre es anders, hätte der Beamte möglicherweise den falschen Beruf erwählt. Welche Verletzungen hat das Opfer erlitten? Hatte es einen blauen Fleck oder eine klaffende Wunde? Oder gar nichts außer zweimal Aua?
Die Körperverletzung dürfte sich angesichts der Schutzkleidung eher im alleruntersten Bereich der denkbaren Verletzungen bewegt haben. Auch bei der Widerstandshandlung habe ich schon deutlich schlimmere Dinge gesehen, als das Zusammenrollen und Anspannen der Muskeln. Der hat offenbar weder geschlagen noch getreten, er hat sich nur „schwer“ gemacht, wie kleine Kinder, die nicht ins Bett getragen werden wollen. Ja, auch das ist Widerstand, aber eben von der harmlosesten Sorte.
Wie hat der Täter sich nach der Tat verhalten? War er geständig? Oder war er gar reuig? Hat er sich entschuldigt oder sieht er gar nicht ein, dass er etwas falsch gemacht haben könnte?
Glauben Sie jetzt bitte nicht, das wäre eine vollständige Liste. Da ist noch jede Menge Luft nach oben. Hat das Gericht all diese Faktoren zusammengetragen und gewichtet, entschließt es sich zu einer konkreten Strafe. Die Vorstellungen von Staatsanwaltschaft und Verteidigung laufen da schon häufig weit auseinander. Dass das Urteil des Gerichts aber so sehr über den Antrag der Staatsanwaltschaft hinausgeht, ist eher selten. In Hamburg war das schon ganz schön heftig, was der Strafrichter auf die von der Staatsanwaltschaft beantragte Strafe von einem Jahr und neun Monaten draufgeschlagen hat. Etwa ein Drittel der beantragten Strafe zusätzlich ist schon sportlich, aber halt auch irgendwie verdächtig.
Wenn der vom Strafmaß begeisterte NDR-Info Kommentator schreibt,
Das jüngste Hamburger Urteil widerlegt die Befürchtung, dass dieser Staat seine Bürger nicht schützen könne – oder wolle. Es ist ein Urteil gegen den Zeitgeist, gegen den Eindruck, dass jeder dem Gemeinwesen den Stinkefinger zeigen kann, wenn er nur dreist genug ist.
dann ist das in mehrfacher Hinsicht Unfug. Durch die Verurteilung des Niederländers wurde kein einziger Bürger geschützt. Immer wenn ein Straftäter vor Gericht steht, ist eine Straftat bereits geschehen und eben gerade nicht verhindert worden. Strafrechtliche Reaktion ist eben immer nur Reaktion.
Noch größerer Unfug ist aber die Behauptung, es handele sich bei dem Urteil um ein solches gegen den Zeitgeist. Gegen den wird zwar in den unterschiedlichsten Medien angeschrieben und dem wird auch alles Mögliche unterstellt, vor Gericht steht der aber nicht. Da steht ein ganz individuell angeklagter Mensch, dem eine ganz genau beschriebene Tat vorgeworfen wird. Und für diesen Menschen ist eine genau auf ihn abgestimmte Strafe zu finden.
Selbstverständlich können bei der Strafzumessung grundsätzlich auch generalpräventive Gesichtspunkte, also Gesichtspunkte der Abschreckung anderer potentieller Täter, eine Rolle spielen. Der Tatrichter darf aber die Strafe aus solchen Gründen nur dann höher bestimmen, als sie sonst ausgefallen wäre, wenn eine gemeinschaftsgefährliche Zunahme solcher oder ähnlicher Taten, wie sie zur Aburteilung stehen, festgestellt worden ist. Der Schutz der Allgemeinheit durch Abschreckung – nicht nur des Angeklagten, sondern auch anderer möglicher künftiger Rechtsbrecher – rechtfertigt eine schwerere Strafe, als sie sonst angemessen wäre, nur dann, wenn hierfür eine unbedingte Notwendigkeit besteht. Das trifft aber allein in den Fällen zu, wo bereits eine gemeinschaftsgefährliche Zunahme solcher oder ähnlicher Straftaten, wie sie zur Aburteilung stehen, festgestellt worden ist
Das Mao zugeschrieben Zitat:
Bestrafe einen, erziehe hundert
ist nicht Bestandteil des StGB.
Dafür, dass es zu einer gemeinschaftsgefährlichen Zunahme solcher Delikte gekommen ist, müsste das Gericht in seinem Urteil belastbare Fakten nennen. Auf die bin ich gespannt. Die alleine von der Polizei geführte Polizeistatistik wird da nicht ausreichen. Hat das Gericht womöglich seine Straferhöhung nur allgemein auf den Gesichtspunkt der Generalprävention gestützt, indem es z.B. darauf abstellt, dass wegen des besonderen Interesses der Öffentlichkeit Tat, Strafmaß und Begründung in hohem Umfang bekannt würden und daher geeignet seien, potentielle Täter zur Überlegung zu bringen und abzuschrecken, beschriebe diese Erwägung keinen zur Begründung der Generalprävention zulässigerweise verwertbaren Umstand, der außerhalb der bei Aufstellung eines bestimmten Strafrahmens vom Gesetzgeber bereits berücksichtigten allgemeinen Abschreckung liegt.
Ein Urteil
gegen den Eindruck, dass jeder dem Gemeinwesen den Stinkefinger zeigen kann, wenn er nur dreist genug ist.
wäre system- und verfassungswidrig, da es den Angeklagten lediglich zum Abschreckungsobjekt degradiert und damit bei der Strafzumessung den Grundsatz der schuldangemessenen Strafe und den Grundsatz des Schutzes der Menschenwürde verlassen würde. Das hätte etwas von einer öffentlichen Auspeitschung zur Abschreckung anderer. Wir sind hier nicht in Saudi-Arabien oder China. Solche Schauprozesse mögen zwar dem ein oder anderen gefallen, mit modernem Strafrecht hat das aber nichts zu tun.
Der Amtsrichter begründete das Strafmaß in der mündlichen Urteilsbegründung u.a. mit einer Gesetzesverschärfung zum Schutz von Amtsträgern bei Diensthandlungen. Die hat es zweifellos gegeben, allerdings bezog sich diese Strafschärfung lediglich auf die Mindeststrafe, die auf 3 Monate angehoben wurde. Eine solche Erhöhung der Mindeststrafe ist aber für sich alleine kein Grund, nun auch unter dem Strich zu derart viel höheren Strafen als gemeinhin zu kommen. Eine als unangemessen hart empfundene Strafe kann im Übrigen äußerst kontraproduktiv im Sinne einer Generalprävention sein. Wird die Strafe als „Rache des Imperiums“ angesehen, dann kann sie unter Umständen mehr Schaden anrichten, als eine als gerecht empfundene Strafe. Sowohl beim Täter, als auch bei anderen G20-Gegnern.
Ob das auf den ersten Blick außergewöhnlich harte Urteil Bestand haben wird, kann man ohne Teilnahme an der Hauptverhandlung und Lektüre der Urteilsbegründung nicht seriös beantworten. Aus meiner nunmehr 30-jährigen Erfahrung als Strafverteidiger wage ich aber die Prognose, dass das Rechtsmittelgericht – möglich wäre eine Berufung zum Landgericht oder eine sogenannte Sprungrevision zum Oberlandesgericht – eher zu einer deutlich milderen Bestrafung kommen wird, die auch die Möglichkeit einer Bewährung einschließt. Ich hätte da maximal mit 18 Monaten und einer Strafaussetzng zur Bewährung gerechnet. Alles andere würde mich doch sehr wundern.