Die Wahrscheinlichkeit, Terroropfer zu werden

Wer behauptet, dass es unwahrscheinlicher ist, Opfer eines Terroranschlags zu werden, als am Essen zu ersticken, hat keine Ahnung. Oder er lügt.


Es wird gegenwärtig gern behauptet, dass die Wahrscheinlichkeit, Opfer eines Terroranschlags zu werden, viel geringer sei, als etwa von einem Auto überfahren zu werden oder am Essen zu ersticken.

Die Wahrheit ist: Man weiß es nicht. Man kann die „Wahrscheinlichkeit, Opfer eines Terroranschlags zu werden“ nämlich gar nicht ausrechnen.

Häufigkeiten aus der Vergangenheit

Jede Wahrscheinlichkeitsberechnung über das Eintreffen bestimmter Ereignisse geht von der Annahme aus, dass die Bedingungen, die zum Eintreffen dieses Ereignisses beitragen, ungefähr gleich bleiben, sodass die tatsächliche Häufigkeit der vergangenen Ereignisse als Wahrscheinlichkeit für die Zukunft genommen werden kann.

Bei einer Lotterie klappt das z.B. ganz gut, zumal da auch technisch sicher gestellt wird, dass die Bedingungen konstant bleiben.

Beim Autounfall ist das schon schwieriger, da die Bedingungen sich ändern: Die Zahl der Autos ändert sich, die Technik und die Regeln ebenso.

Was das Ersticken beim Essen betrifft, ist die Sache auch ziemlich einfach: Wir essen heute so ähnlich wie vor ein paar Jahren, wir verspeisen die gleichen Nahrungsmittel und machen das auf ganz ähnliche Weise.

Wenn sich die Bedingungen ändern, kann man versuchen, das in die Berechnung der Wahrscheinlichkeit einzubauen. Man kann etwa sagen, dass sich durch die Zunahme des Verkehrs um soundsoviel Prozent die Wahrscheinlichkeit, bei einem Unfall zu sterben, ebenfalls um soundsoviel Prozent erhöht. Wenn man dann also wüsste, wie viele Autos im nächsten Jahr mehr auf den Straßen unterwegs sind, dann wüsste man auch, oder könnte es wenigstens schätzen, wie nächstes Jahr die Chancen stehen, eine Autofahrt zu überleben.

So etwas funktioniert natürlich nur, wenn alle anderen Bedingungen gleich bleiben, insbesondere, wenn wir unser Verhalten nicht ändern. Wenn wir z.B. vorsichtiger fahren, weil wir denken, das Autofahren sei gefährlicher geworden, ändert das gleich wieder die Wahrscheinlichkeit.

Genau genommen gibt es also gar keine Wahrscheinlichkeiten für Ereignisse, bei denen menschliches Verhalten im Spiele ist, das wiederum durch Aussagen über Wahrscheinlichkeiten bestimmt wird. Manche behaupten zwar, sie könnten selbst diese Änderung des menschlichen Verhaltens mit in ihre Berechnungen einbauen aber – Entschuldigung – die lügen. Oder sie überschätzen sich maßlos. Es sind diese Soziologen, Wahlforscher und Ökonomen, die dann, mit den realen Entwicklungen konfrontiert, immer sagen: „Ja, dies und das, das hat man ja nun wirklich nicht vorhersehen können!“

Zurück zum Terroranschlag. Hier trifft erst mal alles zu, was auch für die eben schon genannten Ungewissheiten gesagt wurde. Natürlich wissen wir nicht mal, wie wir uns verhalten sollen, um der Gefahr eines Terroranschlags zu entgehen. Wir wissen auch nicht, ob das irgendjemand wollen würde. Niemand weiß, ob die Leute z.B. seltener in Einkaufszentren oder zu Konzerten gehen werden – oder ob sie trotzig „Nun erst recht!“ sagen.

Vor allem aber wissen wir derzeit nicht, ob es in Zukunft mehr oder weniger Terroranschläge geben wird, ob die Terroristen sich viele kleine oder wenige große Ziele aussuchen werden, ob unsere Sicherheits-Behörden irgendwie effizient Anschläge verhindern können werden.

Aus all dem ergibt sich: Es gibt keine berechenbare „Wahrscheinlichkeit, bei einem Terroranschlag ums Leben zu kommen“. Wie groß, im Nachhinein betrachtet, die Häufigkeit dieser Todesursache in den nächsten Jahren sein wird, ob sie höher oder niedriger liegt als beim „Ersticken beim Essen“ – niemand kann das sagen. Es mag sein, dass die, die es trotzdem tun, ehrenwerte Motive haben. Sie wollen uns beruhigen, sie wollen, dass wir locker bleiben. Aber sie lügen, oder sie haben eben keine Ahnung davon, was Wahrscheinlichkeit ist.

Trotzdem locker bleiben

Locker bleiben sollten wir trotzdem. Wir können schauen, wie Menschen in Ländern, in denen Terror schon längst Alltag ist, mit dieser realen Gefahr umgehen, ganz ohne Wahrscheinlichkeitsberechnung. Wir sollten uns probeweise mal mit dem Gedanken beschäftigen, dass der nächste Anschlag ganz in der Nähe der eigenen Wohnung sein könnte, dass wir bald einmal an einem abgesperrten Tatort vorbeigehen müssen, dass es demnächst mal jemanden trifft, den wir weitläufig gekannt haben.

Terroropfer sind ja nicht nur die, die dabei sterben, sondern auch die, die dabei Freunde und Verwandte verlieren, auch die, die dem Terror im Alltag begegnen müssen. Und das werden in Zukunft vielleicht ziemlich viele sein. Wir sollten anfangen, darüber zu sprechen, wir sollten uns fragen, wie wir damit umgehen werden. Wie wir das Überleben überleben und wie wir uns dabei gegenseitig helfen können.

Das ist eine bessere Methode, sich auf die Zukunft vorzubereiten, als uns mit Zahlenspielen über „Wahrscheinlichkeiten“ zu beruhigen.

Hinweis: Die Frage, wer überhaupt Angst vorm Terrorismus hat, wird in meiner neuen Kolumne diskutiert.

Jörg Phil Friedrich

Der Philosoph und IT-Unternehmer Jörg Phil Friedrich schreibt und spricht über die Möglichkeiten und Grenzen des digitalen Denkens. Friedrich ist Diplom-Meteorologe und Master of Arts in Philosophie.

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