Masern
Am 21. Juli 2022 entschied das Bundesverfassungsgericht über die Masernimpfpflicht. Keine leichte Entscheidung. Eine Kolumne von Heinrich Schmitz
Bild von Gerd Altmann auf Pixabay
Ich kann mich nicht an allzu viele Ereignisse aus meiner Vorschulzeit erinnern. Eigentlich sind es nur zwei. Das eine war meine Flucht aus einem Kindergarten genannten Souterrain. Da war ich schon fünf. Bis dahin war es nicht üblich, in einen Kindergarten zu gehen. Da ich es gewohnt war, mich draußen in der Umgebung frei zu bewegen, bekam ich beim Anblick einer größeren Menge in einem Raum eingesperrter, mir völlig unbekannter, lauter Kinder gleich mal die Panik und kletterte in einem Moment, wo die Kindergärtnerin, die ich auch noch Tante nennen sollte, obwohl ich die auch nicht kannte, aus dem offenen Fenster in die Freiheit. Ich lief dann einen knappen Kilometer zurück nach Hause, wo meine Mutter erst mal stinkesauer war. Die Flucht war erfolgreich, aber letztlich vergeblich. Denn am nächsten Tag musste ich wieder hin. Und da passte man dann ab sofort natürlich besser auf mich auf. Irgendwann gefiel es mir sogar dort, solange ich nicht Ringelrein tanzen musste.
Kinderkrankheit
Das zweite einschneidende Erlebnis hing mit dem ersten zusammen. Irgendwann ging es mir nicht so besonders. Meine Eltern meinten zwar, ich wolle mich vor dem Kindergarten drücken, aber das war es nicht. Erst war mir nur wie bei einer Erkältung mit etwas Fieber. Aber nach ein paar Tagen schoss das Fieber in die Höhe und ich fühlte mich recht beschissen. Der Kinderarzt kam und stellte fest, dass ich Masern hätte. Kindergarten war erst mal vorbei. Stattdessen lag ich im Bett rum und wusste nicht mehr, ob ich wach war oder schlief. Außerdem fürchtete ich um meine Schönheit, nachdem ich im Bad mal in den Spiegel gesehen hatte. Der ganze Körper war mit roten Pöckchen übersät, die auch noch juckten und brannten. Der einzige Vorteil des Krankseins war, dass ich jede Menge Eis essen durfte, meine Mutter mir mein damaliges Lieblingsessen (Vorsicht Triggerwarnung) Nudeln mit viel kalter Butter, Maggi und Eigelb lieferte und mir vorlas. Selbst mein Vater schaute regelmäßig vorbei und brachte irgendwelche Sachen mit. Das dauerte ungefähr zwei Wochen, aber damit war das Elend leider nicht vorbei. Von da an hatte ich regelmäßig Mittelohrentzündungen und wurde nach der damaligen Hammermedizin regelmäßig mit ekelhaft schmeckendem Antibiotikasaft voll geschüttet.
Warum erzähle ich Ihnen das? Nun, seit den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts, muss kein Kind diese Tortur mehr mitmachen. Auch andere sogenannte Kinderkrankheiten wie Mumps, Röteln und Windpocken lassen sich vermeiden. Damals nicht. Die Röteln gingen zwar an mir vorbei, aber Mumps und Windpocken durfte ich erleben. Hätte ich gerne drauf verzichtet.
Impfsegen
Die Mehrfachimpfstoffe, die gegen Masern und die anderen Krankheiten schützen, sind ein Segen für die Menschen. Trotzdem gibt es immer noch oder vielleicht auch zunehmend Eltern, die ihre Kinder nicht impfen lassen wollen.
Und das aus den unterschiedlichsten Gründen. Es gibt Eltern, die meinen, dass Impfungen das natürliche Immunsystem ihrer Kinder zerstören oder zumindest schwächen würden. Das ist zwar wissenschaftlich nicht belegt, wird aber gerade auch von Anhängern der Homöopathie gerne behauptet. Wieso die denken, ihre Kinder gehörten zu den 999, die keine Masern-Enzephalitis bekommen und u.U. daran sterben könnten? Ich weiß es nicht. Meiner Frau und mir war dieses Risiko groß genug, um alleine deshalb unsere Kinder impfen zu lassen.
Dann gibt es noch diejenigen, die meinen, der Staat, die Pharmaindustrie oder eine seltsame Weltverschwörung würden versuchen, mittels Impfungen die Kontrolle über die Menschheit zu bekommen. Mag sein, dass die zu viel Resident Evil geguckt haben. Mit Argumenten sind die auch nicht zu erreichen.
Einwände
Was es sonst noch so alles an Einwänden gegen die Masernimpfung gibt, kann man auf der Seite des RKI nachlesen.
Und trotz oder auch wegen dieser Einwände, hat der Gesetzgeber eine Impfpflicht gegen Masern beschlossen. In § 20 Abs. 8 Satz 3 IfSG heißt es:
(8) Folgende Personen, die nach dem 31. Dezember 1970 geboren sind, müssen entweder einen nach den Maßgaben von Satz 2 ausreichenden Impfschutz gegen Masern oder ab der Vollendung des ersten Lebensjahres eine Immunität gegen Masern aufweisen:
1.
Personen, die in einer Gemeinschaftseinrichtung nach § 33 Nummer 1 bis 3 betreut werden,
2.
Personen, die bereits vier Wochen
a)
in einer Gemeinschaftseinrichtung nach § 33 Nummer 4 betreut werden oder
b)
in einer Einrichtung nach § 36 Absatz 1 Nummer 4 untergebracht sind, und
3.
Personen, die in Einrichtungen nach § 23 Absatz 3 Satz 1, § 33 Nummer 1 bis 4 oder § 36 Absatz 1 Nummer 4 tätig sind.
Ein ausreichender Impfschutz gegen Masern besteht, wenn ab der Vollendung des ersten Lebensjahres mindestens eine Schutzimpfung und ab der Vollendung des zweiten Lebensjahres mindestens zwei Schutzimpfungen gegen Masern bei der betroffenen Person durchgeführt wurden. Satz 1 gilt auch, wenn zur Erlangung von Impfschutz gegen Masern ausschließlich Kombinationsimpfstoffe zur Verfügung stehen, die auch Impfstoffkomponenten gegen andere Krankheiten enthalten. Satz 1 gilt nicht für Personen, die auf Grund einer medizinischen Kontraindikation nicht geimpft werden können.
Bei den genannten Gemeinschaftseinrichtungen handelt es sich um Kindertageseinrichtungen und Kinderhorte, die nach § 43 Absatz 1 des Achten Buches Sozialgesetzbuch erlaubnispflichtige Kindertagespflege und Schulen und sonstige Ausbildungseinrichtungen.
Kinderkram
Das bedeutet, wer sein Kind in den Kindergarten schicken will, muss es impfen lassen.
Klar, dass das ein massiver Eingriff, sowohl in das Recht der Eltern aus Art. 6 GG als auch in das Recht auf körperliche Unversehrtheit des Kindes gem. Art. 2 GG, ist. Und ebenso klar, dass jemand gegen diese Regelung vor das Bundesverfassungsgericht ziehen würde.
Stehen – wie derzeit in Deutschland – ausschließlich Kombinationsimpfstoffe zur Verfügung, ist § 20 Abs. 8 Satz 3 IfSG verfassungskonform so zu verstehen, dass die Pflicht, eine Masernimpfung auf- und nachzuweisen, nur dann gilt, wenn es sich um Kombinationsimpfstoffe handelt, die keine weiteren Impfstoffkomponenten enthalten als die gegen Masern, Mumps, Röteln oder Windpocken.
Die Impfstoffproduzenten können also nicht einfach was anderes reinmixen, egal wie sinnvoll das vielleicht wäre.
Für die Kläger eine herbe Enttäuschung.
Das Gericht sagt:
I. 1. a) Die beanstandeten Regelungen des Infektionsschutzgesetzes greifen in mehrfacher Hinsicht jedenfalls zielgerichtet mittelbar in das Grundrecht der beschwerdeführenden Eltern aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG ein. Entscheiden sich die Eltern in Wahrnehmung ihrer durch Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG geschützten Gesundheitssorge gegen eine Impfung ihres Kindes, ist dies mit nachteiligen Konsequenzen für die ansonsten den Eltern – zur Wahrnehmung ihrer Sorge für die durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützte Entfaltungsfreiheit ihrer Kinder – eröffneten Möglichkeiten einer Betreuung in bestimmten Gemeinschaftseinrichtungen verbunden. Art und Gewicht dieser Konsequenzen für das die Gesundheitssorge betreffende Elternrecht sind dergestalt, dass sie nach Zielsetzung und Wirkung einem unmittelbaren Eingriff in Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG entsprechen. Die Wirkungen der Kombination aus Pflicht zum Nachweis der Masernimpfung und Verlust der Möglichkeit der Inanspruchnahme staatlicher Betreuungsangebote beziehungsweise fehlender Durchsetzbarkeit des Anspruchs auf einrichtungsbezogene frühkindliche und vorschulische Förderung sind denen einer zwangsweise gegen den Elternwillen durchgeführten Masernimpfung von Kindern weitgehend äquivalent.
Und erkennt damit, dass es für die Eltern durchaus, obwohl es keinen unmittelbaren Zwang durch Zwangsimpfungen gibt, erhebliche Konsequenzen hat, wenn sie ihre Kinder nicht impfen lassen. Man muss das nicht tun, aber man muss dann halt sehen, wie man seine Kinder betreut. Und man muss halt anderweitig dafür sorgen, dass die Kinder soziale Kontakte haben. Ob das wirklich der Weisheit letzter Schluss ist, weiß ich nicht.
Aber das Gericht muss ja nicht der Weisheit letzten Schluss suchen, sondern lediglich prüfen, ob der Gesetzgeber seinen Gestaltungsspielraum innerhalb der Grenzen der Verfassung ausgeübt hat.
Und da meint das Gericht:
Die in § 20 Abs. 8, 9 und 12 IfSG festgelegten Pflichten verfolgen ebenso wie das bei Ausbleiben des Nachweises eintretende Betreuungsverbot (§ 20 Abs. 9 Satz 6 IfSG) einen verfassungsrechtlich legitimen Zweck, nämlich den Schutz vulnerabler Personen vor einer für sie gefährlichen Masernerkrankung. Gleiches gilt für die Übertragung der Erfüllung der Nachweispflicht von Kindern auf ihre Eltern in § 20 Abs. 13 Satz 1 IfSG. Die Annahme des Gesetzgebers, von Personen, die keinen ausreichenden Impfschutz oder eine Immunität gegen Masern aufweisen, könnten Gefahren für das Leben und die Gesundheit insbesondere von Personen ausgehen, die sich selbst nicht durch eine Impfung vor einer Masernerkrankung zu schützen vermögen, beruht auf zuverlässigen Grundlagen und hält auch der strengen verfassungsrechtlichen Prüfung stand. Innerhalb seines allerdings wegen der gesicherten Erkenntnislage und des Gewichts der Grundrechtseingriffe engen Einschätzungsspielraums konnte der Gesetzgeber in Einklang mit dem Verfassungsrecht von einer Gefahrenlage durch eine Masernerkrankung für verletzliche Personen ausgehen, insbesondere Säuglinge oder andere Personen, die sich nicht selbst durch eine Impfung schützen können.
Es hält die Regelungen für verhältnismäßig geeignet und auch erforderlich.
Die Pflichten, bei Betreuung in bestimmten Gemeinschaftseinrichtungen eine Masernimpfung auf- und nachzuweisen, sowie das bei Ausbleiben des Nachweises geltende Betreuungsverbot sind sowohl zum Schutz des Einzelnen als auch zum Schutz der Bevölkerung vor Masern im verfassungsrechtlichen Sinne erforderlich. Unter Berücksichtigung des dem Gesetzgeber hier zukommenden Einschätzungsspielraums ist nicht erkennbar, dass andere, in der Wirksamkeit eindeutig gleiche, aber die betroffenen Grundrechte von Kindern und Eltern weniger stark einschränkende Mittel zur Verfügung standen. Es ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass der Gesetzgeber andere Maßnahmen zur Gewährleistung des angestrebten Individual- und Gemeinschaftsschutzes als nicht sicher gleich wirksam angesehen hat. Dafür konnte er sich auf hinreichend tragfähige Grundlagen stützen.
Dabei verkennt das Gericht nicht, dass der Eingriff in die Grundrechte der Eltern wie die der Kinder ein massiver ist. Aber:
Die angegriffenen Vorschriften greifen mit nicht unerheblichem Gewicht zielgerichtet mittelbar sowohl in das Elternrecht aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG als auch in die körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) der Kinder ein. Die Eingriffe erfolgen dabei in unterschiedlicher Weise und mit verschiedenem Gewicht. Das Eingriffsgewicht in das Grundrecht der beschwerdeführenden Kinder aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG korrespondiert mit dem des Eingriffs in das auf die Gesundheitssorge bezogene Elternrecht.
Demgegenüber verfolgt der Gesetzgeber mit den angegriffenen Vorschriften den Schutz eines überragend gewichtigen Rechtsguts, der hier auch dringlich ist. Die angegriffenen Vorschriften dienen dem Schutz vor einer Masernerkrankung. Demnach ist insoweit das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit betroffen, wobei es um den Schutz einer Vielzahl von Personen, insbesondere von vulnerablen Personen geht, die sich nicht selbst durch eine Impfung wirksam schützen können. Dem Schutz der Gesundheit der Bevölkerung kommt ein hohes Gewicht zu. Aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG kann daher eine Schutzpflicht des Staates folgen, die eine Risikovorsorge gegen Gesundheitsgefährdungen umfasst. Angesichts der sehr hohen Ansteckungsgefahr bei Masern und den mit einer Masernerkrankung verbundenen Risiken eines schweren Verlaufs besteht eine beträchtliche Gefährdung des Rechtsguts der körperlichen Unversehrtheit Dritter. Die Annahme des Gesetzgebers, ohne die in den angegriffenen Regelungen getroffenen Maßnahmen würde die Impfquote weiter stagnieren und gleichzeitig könne die Anzahl der Masernausbrüche in Kindertagesstätten und in der Kindertagespflege steigen, beruht auf tragfähigen Grundlagen und ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.
Das war keine einfache Entscheidung und es ist auch keine Entscheidung, die die Impfgegner irgenwie überzeugen wird. Gleichwohl halte ich die Entscheidung für richtig und freue mich über jedes Kind, das – wenn auch nur auf den Druck des Gesetzgebers hin – vor diesen Krankheiten bewahrt wird.