Ciao Mesut!

Unschöner Abgang eines begnadeten 10ers. Über katastrophales Krisenmanagement und Alltagsrassismus regt sich Kolumnist Henning Hirsch auf


Nein, man muss das Erdogan-Foto vom Mai nicht gutheißen, wenn man in dieser Sache Partei für Mesut Özil ergreift. Niemand – es sei denn Verwandten in der Türkei droht Ungemach, falls man sich dem Schnappschuss verweigert – ist gezwungen, sich gemeinsam mit einem Autokraten ablichten zu lassen und dem ein handsigniertes Trikot zu überreichen. Von daher war der Termin entweder notwendig – um eben Familie in der Heimat zu schützen – oder aber ein Affront gegen das demokratische Eigenbild des deutschen Fußballs oder, in der abgemilderten Variante, eine Dummheit. Die Wogen der medial angefeuerten Empörung zwischen Garmisch und Flensburg schlugen hoch, die beteiligten Spieler Özil, Gündogan und Tosun gerieten in Erklärungsnot.

Die Vorgeschichte

Dem DFB, in seiner Funktion als Sommer-Arbeitgeber während der Vorbereitungsphase für die Weltmeisterschaft in Russland, standen mehrere Optionen der Reaktion offen: (a) die beiden Akteure Ö und G mit sofortiger Wirkung vom Dienst suspendieren (b) eine überzeugende Aussage mit gegebenenfalls nachfolgender reumütiger Entschuldigung einfordern (c) die Aktion zur Privatangelegenheit der Spieler erklären. Man entschied sich für einen Hybrid: Besuch bei BP Frank-Walter Steinmeier zuzüglich kleines Statement von Gündogan. Nachhakende Journalisten wurden mit „Den Fauxpas nicht überbewerten. Wir befinden uns kurz vor dem Turnier“, abgespeist. Es galt die Devise: Augen zu und durch.

Als nach drei mittelmäßigen und großenteils lustlos abgespulten Partien die WM für die deutsche Mannschaft bereits in der Vorrunde zu Ende war, entluden sich Volkes Zorn und Häme in voller Wucht über Özil. Anstatt den 10er – 2009 U-21 Europa- und Weltmeister 2014 – in Schutz zu nehmen, rührte kein Übungsleiter oder Funktionär auch nur den kleinen Finger, um dem einstigen Vorzeige-Integrationsschüler beizuspringen. Nach einigen Wochen der Grabesruhe dann plötzlich Bierhoff: „Wir haben Spieler bei der deutschen Nationalmannschaft bislang noch nie zu etwas gezwungen, sondern immer versucht, sie für eine Sache zu überzeugen. Das ist uns bei Mesut nicht gelungen. Und insofern hätte man überlegen müssen, ob man sportlich auf ihn verzichtet.“. Grindel setzt noch einen drauf und fordert per Ultimatum eine tiefschürfende Erklärung vom Spieler.

Der öffentliche Pranger

Und hier packt mich nun die Wut. Anstatt offen und ehrlich zuzugeben, „Wir haben durch die Bank weg Fehler gemacht. Und zwar sowohl die Teamleitung als auch die Spieler“ oder alternativ weiter zu schweigen, greift man sich einen heraus, versteigt sich gar zu der Behauptung, das Londoner Treffen hätte große Unruhe ins Team hineingebracht. Was für ein Bullshit!! Als ob Kimmich, Hector und Reus nicht schlafen, essen und trainieren konnten, weil Kollege Mesut Präsident Erdogan die Hand geschüttelt hatte.

Özil, derart in die Ecke gedrängt, hält ein paar Tage die Füße still und hämmert dann gestern eine dreiteilige Generalabrechnung in die Tastatur. Auch dieser Text ist nicht glücklich gelungen – einer meiner Facebookfreunde bezeichnete das Konvolut als Leberwurstbriefe –: viel zu lang, viel zu vieles miteinander vermischt, keinerlei Eigenkritik. Aber zwei Sätze haben es in sich: „In den Augen von Grindel und seinen Helfern bin ich Deutscher, wenn wir gewinnen, und ein Immigrant, wenn wir verlieren… Gibt es Kriterien, ein vollwertiger Deutscher zu sein, die ich nicht erfülle?“

Verbaler Sprengstoff – Wie lange hält sich Grindel noch?

Das ist verbaler Sprengstoff. Eine Lunte, die, kaum dass sie angezündet wurde, bereits droht, große Teile der selbstgerechten Funktionärsriege in die Luft zu jagen. Der DFB, der gerne Werbung mit dem Motto „Gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit!“ macht, liefert ausgerechnet einen türkischstämmigen Spieler ans Messer? Warum nicht Kroos, weshalb nicht Müller, wo war Hummels? Sie spielten ALLE weit unterhalb ihrer Möglichkeiten. Was war mit der veralteten Ballbesitzstrategie, die zu ermüdendem Schlafwagenfußball führte? Dauernder Veränderung der Startelfformation, Einwechslungen, die Nullkommanichts brachten, guten Stürmern, die man zu Hause ließ? Alles nebensächlich? Die alleinige Schuld fürs Scheitern trägt Özil??

Was sich in den sozialen Medien und den Leserbriefspalten der Zeitungen über dem Gelsenkirchener an Häme entlud, kann mit einem einzigen Wort beschrieben werden: Alltagsrassismus. Auch ich habe ihn ab und an als Schönwetterspieler tituliert, der in engen Matches gerne abtaucht, die Ärmel nicht hochkrempelt, sich auf seinem unbestreitbaren Talent ausruht. Aber: dasselbe gilt für Kroos. Letztlich gilt es für die gesamte Generation der Nivea- und Nutellakicker. Und dass es diesen stromlinienförmigen Spielertypus gibt – dafür trägt der DFB die Verantwortung.

Der Fußballforen- und Facebook-Lynchmob schießt sich auf einen – von insgesamt 23 – Akteuren ein und niemand aus der Führungsriege springt ihm bei. Bierhoff und Grindel gießen zusätzlich Öl ins Feuer, geben Özil somit zum Abschuss frei, der um seinen Job bangende Bundestrainer hält sich bedeckt. Das ist erbärmlich.

Jetzt hat sich der Verband die – vorhersehbare und unnötige – Diskussion „Wie Ernst ist es dir mit dem Kampf gegen den Rassismus?“ ins Haus geholt. Weil der Manager seinen eigenen Hintern aus der Schusslinie bringen will und der Oberfunktionär lieber eitle Pressekonferenzen abhält, statt das persönliche Gespräch mit dem Spieler zu suchen. Grindel und Bierhoff zerdeppern in Rekordzeit, was tausende Vereine in Jahren aufgebaut haben: Fußball als Integrationsprojekt für Kinder und Jugendliche aus Einwandererfamilien.

Und deshalb müssen auf Özil nun schnell die beiden Brandstifter folgen, will der DFB glaubwürdig bleiben. In der Hoffnung, dass endlich ein Profi auf dem Chefsessel des größten Sportverbands der Welt Platz nimmt. Jemand, der Krisenmanagement beherrscht und der im Sinne der Gleichberechtigung ebenfalls Matthäus zur Ordnung ruft, sobald sich der Ehrenspielführer bei Putin einschleimt. Jemand, der sich kritisch zu Austragungsorten wie Katar äußert und der es nicht lustig findet, wenn Beckenbauer behauptet, auf den dortigen Baustellen keine Sklaven gesehen zu haben. Es ist elende Doppelmoral, an Özil ein Exempel zu statuieren und in anderen, ähnlich gelagerten Fällen, inaktiv zu bleiben.

Ciao Mesut!

Dem scheidenden Mittelfeldstrategen rufe ich ein wehmütiges „Ciao Mesut!“ hinterher. „Du hast uns ne Menge schöner Momente beschert“. Bester 10er seit Uwe Bein, der im linken kleinen Zeh mehr Ballgefühl besitzt als die meisten seiner Kollegen in zwei Füßen. Mögest du in Zukunft besser beraten werden, dich von Erdogan-Terminen fernhalten und im Herbst deiner Karriere nochmal Erfolge mit Arsenal feiern. Der deutsche Fußball verliert mit dir einen seiner wenigen Künstler.

Henning Hirsch

Betriebswirt und Politologe, Comicleser, Filmjunkie, Bukowski- und FC- (es gibt nur einen FC: nämlich den aus Köln) Fan, trockener Alkoholiker. In die Abstinenz startete er mit einem Roman: Saufdruck. Seitdem tippt er abends Kurzgeschichten und Gedichte. Da die Schreiberei alleine nicht satt macht, verdient er tagsüber seine Kaltmiete und die Kühlschrankfüllung mit Marketing & Orga. Henning Hirsch lebt im Bonner Süden und ist Vater von drei Kindern ... Wer mehr von ihm lesen möchte: www.saufdruck.de

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