Humanitäre Katastrophe jetzt beenden

In den Lagern auf den griechischen Inseln herrscht blanke Not. Wenn Europa jetzt nicht hilft, macht es sich vollends unglaubwürdig. Eine Kolumne von Heinrich Schmitz


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Auf Lesbos ist die Kacke am dampfen und zwar nicht nur im übertragenen Sinne. Da hausen über 20000 Menschen in einem Lager, das für 3000 Menschen gedacht war, auf allerengstem Raum. Die ausländischen Hilfskräfte haben die Insel aus Angst vor der Corona-Pandemie längst verlassen. Insgesamt leben in den Lagern auf den griechischen Inseln Lesbos, Chios und Samos rund 42000 Menschen in allergrößter Not. Mitten in Europa. In der Region, in der die EMRK gilt, die Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten.

Das muss für die Menschen in den Lagern wie Hohn klingen. Ihre Menschenrechte sind in der Europäischen Union nichts als ein Spielball nationaler Egoismen. Solidarität Fehlanzeige. Es gilt das Trumpsche Gesetz des XY First.

Europäische Werte?

Ja, es gibt die Corona-Pandemie. Und die ist auch kein Klacks. Ja, die bedroht die Wirtschaft aller EU-Länder und das Leben vieler Millionen Menschen in der ganzen Welt. Aber kann das ein Grund sein, alle Werte, auf die man in Sonntagsreden immer so stolz ist, in den Wind zu schießen? Dürfen wir Europäer wirklich so ekelhaft egoistisch sein, dass wir die Menschen in den Lagern ihrem Schicksal überlassen? Ich habe in den letzten Tagen von einigen Menschen auf diese Frage tatsächlich ein „leider ja“ gehört. „Jetzt müssen wir die Grenzen schließen“ – ein feuchter Traum der Rechtspopulisten wird wahr –, „Wir müssen jetzt „an uns selbst denken“, „uns vor Fremden schützen“. Klar sind die aktuellen Kontakteinschränkungen eine Belastung nicht nur für die Wirtschaft, sondern auch für die meisten Bürger. Klar vermisse ich meine Kirchplatz-Kaffeerunde jeden Samstag um 11 Uhr. Und klar bekomme ich angesichts einer Justiz im Notmodus ganz realistische Existenzängste, weil ich heute nicht weiß, wie ich nächsten Monat meine Verbindlichkeiten bedienen soll. Aber gemessen mit der Not der Menschen in den Lagern ist das alles nicht so schlimm.

Ein paar Tage zuhause mit Ausgehsperre, Kontaktverbot und Homeoffice können schon an den Nerven zerren. Vor allem wenn auch noch die lieben Kleinen behütet, betreut und bespaßt werden müssen. Nun stellt Euch dieses Szenario vor, nur ohne Wohnung, ohne Entertainmentprogramm, ohne ausreichende sanitäre Einrichtungen, ohne ausreichende medizinische Versorgung, zusammengepfercht in einem völlig überfüllten Zeltlager, mit vielen anderen auf kleinstem Raum und in bitterer Kälte. Geht gar nicht, oder? Genau! Deshalb müssen die Schutzsuchenden aus dem Flüchtlingslager auf Lesbos so schnell wie möglich evakuiert und in Sicherheit gebracht werden! Beendet die dramatischen Zustände in Moria und holt die Menschen dort raus! Jetzt!“
(c) Lorenz Meyer (Journalist, Autor & Satiriker)

Wie sehr der Egoismus die Menschen vergiftet, sieht man an dem eingebildeten Klopapiermangel, der einzig darauf zurückzuführen war, dass gehamstert wurde, als gäbe es nie mehr Klopapier. Hätte jeder nur wie immer das gekauft, das er zum Abwischen braucht, jeder hätte genug bekommen. Aber so scheint der Mensch zu sein: Ich, ich, ich.

Solidarität in der Not

Es ist so leicht, den Wohltäter zu mimen, wenn es einem selbst gut geht und man aus dem Vollen schöpfen kann. Vermutlich hilft man dann auch gar nicht mal so sehr aus Solidarität mit den Mitmenschen, sondern weil es sich einfach geil anfühlt, wenn man sich als Wohltäter brüsten kann. Schwieriger wird es dann schon, wenn man selbst in eine Notlage gerät. Dann noch teilen? Dann noch anderen helfen, die man nicht einmal persönlich kennt?

Nun muss niemand selbst sein Leben gefährden, um das Leben anderer zu retten. So wie der italienische Priester, der starb, weil er auf ein Beatmungsgerät verzichtete, um einen anderen zu retten. Das kann man von niemandem verlangen. Aber darum geht es auch gar nicht.

Wie man sieht können zur Stützung der Wirtschaft innerhalb weniger Tage Milliardensummen aufgebracht werden. Da kann die heilige Kuh der Schwarzen Null in Nullkommanix ins Schlachthaus gebracht werden. Ein kleiner Bruchteil dieser wahnsinnigen Summen hätte schon vor Monaten ausgereicht, um die Lage in den Lagern zu beenden und die Menschen in einem Europa der Menschenrechte ankommen zu lassen.

Das Gefasel von einer europäischen Lösung an der sich alle EU-Staaten beteiligen müssten, ist eine durchsichtige und billige Ausrede dafür, selbst nichts tun zu müssen.

Geholfen werden muss dann, wenn Not da ist. Ja, wir können nicht jeden Hungernden auf der ganzen Welt versorgen. Aber wir haben die verdammte Pflicht und Schuldigkeit wenigstens die Menschen, die sich auf dem Gebiet der Europäischen Union befinden, auch so zu behandeln, wie es die viel beschworenen europäischen Werte verlangen. Und wenn keiner mitmachen will, dann schaffen wir das auch alleine.

Geltendes Recht

Die EMRK ist keine Vorlage für schwülstige Reden und Gedenkveranstaltung. Sie ist geltendes Recht. Nun wird es keinem der Lagerinsassen gelingen, dieses Recht auch einzuklagen, bevor er in dem Lager verreckt ist; aber wir, ja ebenfalls Sie, können unsere Regierungen auffordern, diesem geltenden Recht auch Geltung zu verschaffen. Jetzt, nicht irgendwann.

Ich habe am Freitag, kurz bevor ich diese Kolumne begann, eine Kampagne unterschrieben, die ich Ihnen dringend ans Herz legen möchte.

https://humans-4-humanity.com/

Trotz Corona, trotz persönlicher Nöte. Lassen Sie uns einfach Menschen bleiben.

Und wenn Sie noch nicht überzeugt sind, lesen Sie einfach noch ein paar Stimmen einiger Unterzeichner, wie z.B.:

Seit Jahren ist die humanitäre Katastrophe in den Lagern auf Lesbos und anderen Inseln bekannt. Die Bürger vieler Staaten sind bereit zu helfen. Es müssen nur endlich die Regierenden ihre menschenverachtende Hartherzigkeit ablegen.Jetzt ist es höchste Zeit zu handeln!“
(c) Horst Eckert, Krimiautor

oder

Europa muss sich entscheiden: Wollen wir die progressive, menschenrechtsorientierte Zivilisation sein, die wir in der ganzen Welt vorgeben zu sein oder werden wir uns vom Wiedererstarken des Nationalismus und staatlicher Egomanie in der Welt treiben lassen und unsere humanistischen Werte über Bord werfen?“
(c) Orkan Özdemir, Integrations- und Fluchtpolitischer Sprecher der SPD Fraktion Berlin/Tempelhof-Schöneberg

Oder hier: weitere Stimmen.

Heinrich Schmitz

Heinrich Schmitz ist Rechtsanwalt, Strafverteidiger und Blogger. In seiner Kolumne "Recht klar" erklärt er rechtlich interessante Sachverhalte allgemeinverständlich und unterhaltsam. Außerdem kommentiert er Bücher, TV-Sendungen und alles was ihn interessiert- und das ist so einiges. Nach einer mit seinen Freital/Heidenau-Kolumnen zusammenhängenden Swatting-Attacke gegen ihn und seine Familie hat er im August 2015 eine Kapitulationserklärung abgegeben, die auf bundesweites Medienecho stieß. Seit dem schreibt er keine explizit politische Kolumnen gegen Rechtsextreme mehr. Sein Hauptthema ist das Grundgesetz, die Menschenrechte und deren Gefährdung aus verschiedenen Richtungen.

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