Winnetou mal als Fantasyroman lesen?
Kolumnist Sören Heim wagt eine – partielle – Verteidigung der Romane Karl Mays
Die ideologiekritischen Einwände gegen Winnetou dürften mittlerweile allen bekannt sein, die sich dafür interessieren. Den Rest wird man nicht erreichen. In Kürze: May habe am Bild des „Edlen Wilden“ in Deutschland maßgeblich mitgeschraubt und unzähligen Generation zu einer kitschigen Vorstellung amerikanischer Ureinwohner verholfen. Des weiteren sei er bis heute einer der wichtigsten Massenvermarkter jener Romantik, die das „Natürliche“ gegen das „Künstliche“ stellt, Kultur gegen Zivilisation und er habe zudem durch die Bevölkerung des Wilden Westens mit zahlreichen guten Deutschen jenes Zuschlagen der Deutschen zu den natürlichen Kulturvölkern mitbegünstigt, das später nicht nur der Nationalsozialismus gegen jüdische, angelsächsische und/oder amerikanische „Künstlichkeit“ in Stellung brachte und bis heute bringt (und, möchte ich hinzufügen, die schließliche Christianisierung Winnetous ist ein klassischer Fall von erpresster Versöhnung: Statt einen Konflikt auszuagieren, wird ein Mäntelchen darüber gebreitet, geradezu zynisch, da May sowieso seine Parteinahme für die „Indianer“ gewissermaßen als Sterbehilfe ansieht. Denn quasi christlich-hegelianisch geht seine Geschichtsphilosophie so: Es ist zwar unrecht, was die Weißen den Ureinwohnern antun, vor dem Hintergrund der weltgeschichtlichen Entwicklung aber unvermeidbar. Wenn die Ureinwohner aussterben, so sollen sie wenigstens als Christen aussterben).
Nicht so eindeutig wie gedacht
Alles, wenn auch überspitzt, nicht ganz falsch, doch damit noch lange nicht richtig. Zumal mir scheint, seit dem Cultural Turn in den Literaturwissenschaften wird die unmittelbare Wirkmächtigkeit von Literatur deutlich überzeichnet. Während Literatur sich tatsächlich rückblickend als guter Seismograph gesellschaftlicher Tendenzen erweist, sind doch die Fälle selten, in denen man eindeutig eine gesellschaftliche Umwälzung auf Texte zurückführen kann und nicht etwa die Texte auf sich bereits anbahnende Tendenzen.
So oder so. Ganz so einfach ist es mit Mays Amerikabild am Ende allerdings nicht. Davon kündet bereits das Vorwort zu Winnetou I, in dem der Autor erklärt, die westliche Eroberung habe die Ureinwohner daran gehindert, zu zeigen, wozu sie etwa staatenbildend fähig seien. Die Trope vom Edlen Wilden negiert May also ausdrücklich (und immer wieder, auch wenn er sie andernorts dann wieder naiv bedient). Und dass, noch ehe die Kolonisation richtig begann, auch in Nordamerika Ureinwohner-Staaten durch die Pocken zerstört und Mays „Indianer“ quasi nur Karikaturen umherschweifender Versprengter dieser großen Katastrophen waren, das konnte der Autor tatsächlich nicht wissen. Soziologisch fabriziert May zwar einigen beeindruckenden Unfug, doch muss man ihm definitiv zugute halten, dass er sich im Gegensatz zu anderen Autoren von Abenteuerliteratur ernsthaft bemüht hat. Und auch wenn ich mich regelmäßig dagegen verwehre, die Dezimierung der Ureinwohner in Amerika mit geplantem Völkermord und besonders dem Holocaust verglichen zu sehen, man kann doch kaum leugnen, dass May im fraglichen Konflikt tendenziell auf der richtigen Seite stand.
Ich möchte diesen Kampf hier nicht von Grund auf neu ausfechten: May ist in vielem ein typisch deutscher Romantiker; auch wenn seine Stoßrichtung eine durchweg antirassistische ist, nutzt er rassistische Zuschreibungen (sogar während flammender Denunziationen des Rassismus!), und manchem hat die Hochstapelei den Autor ordentlich vergällt (Ich dagegen finde diesen Aspekt wunderbar, Mays Lügen waren so dick aufgetragen, das wahrhaftige Schreiben wird im Buch so oft thematisiert und ebenso die Tatsache, dass ein echter Westman ein Buch niemals anfassen würde. Dass Deutschland sich belügen ließ, wirft auf die Leser ein viel schlechteres Licht als auf May. Ja, Winnetou 2 handelt sogar von einem Lebemann, der, um ein Drama über einen wahnsinnigen Dichter zu schreiben sich als wahnsinniger Dichter ausgibt, und darüber wahnsinnig wird!).
Woher die Faszination?
Stattdessen möchte ich aufgrund des sowieso schon sehr freien Realitätsbezuges vorschlagen, Winnetou einmal probeweise als fantastischen Roman ohne Magie zu lesen (vgl. Der Mond der brennenden Bäume). Dann versteht sich die Faszination, die die Werke bis heute ausüben, aus einer rein literarischen Perspektive womöglich besser.
Denn Mays Amerika ist eine fantastische Sphäre! Sie besteht aus Landkarten mit wenigen markant herausgehobenen Schauplätzen (Llanos Estacado! Pueblos! Rockys! Ölfelder! Canyons. Immer wieder Canyons!), ist von lauter skurrilen Gestalten bevölkert und wird von wahrhaften Monstern bewohnt:
Der Grizzly ist ein naher Verwandter des ausgestorbenen Höhlenbären und gehört eigentlich mehr der Urzeit als der Gegenwart an. Er wird bis neun Fuß lang, und ich habe Exemplare erlegt, welche ebenso viel Zentner schwer waren. Seine Muskelkraft ist so riesig, daß er, einen Hirsch, ein Fohlen oder eine Bisonfärse im Rachen, mit Leichtigkeit davontrabt. Ein Reiter kann ihm nur dann entfliehen, wenn er ein sehr kräftiges und ausdauerndes Pferd besitzt, sonst holt ihn der graue Bär sicher ein. Bei der riesigen Stärke, der absoluten Furchtlosigkeit und nie ermüdenden Ausdauer des Grizzlybären gilt seine Erlegung unter den Indianern natürlich für eine ungeheuer kühne Tat.
Im Worldbuilding ist May dabei zahlreichen Fantastikern definitiv überlegen. Ihm gelingt es, Landschaften plastisch dastehen zu lassen, ohne dabei auf überlange Beschreibungen zurückzugreifen, seine Figuren sind gleichzeitig perfekte Stock-Charaktere (ideal für junge Leser zur Indikation) und dabei unglaublich lebendig, was meist durch einige hervorgehobene Eigenschaften und Phrasen erreicht wird. May wirft immer wieder direkt in neue Handlungen und liefert, was man über die Welt wissen muss, in Beobachtungen und Gesprächen nach. Nur selten gibt es mal richtige Info-Dumps, wie sie etwa Der Herr der Ringe beinahe zu ersticken drohen. Ja, lange bevor das Mode wurde, erfand May für seine Welt sogar eine eigene Sprache die, wenn man weiß, dass es sich größtenteils um Bullshit handelt, heute teilweise zum Schreien komisch ist. Man kann aber doch nachvollziehen, dass das fasziniert hat und für viele Leser noch immer funktioniert. Da ziehen „Indsmen“ durch die Prärie, Neulinge sind „Greenhorns“, die man ausgerechnet dem erfahrenen „Yankee“ gegenüberstellt – eigentlich ja ein abwertender Begriff für Bewohner des Nordostens, besonders für Städter, Kampfnamen werden mit „Old-“ gebildet. Indianer sagen „Uff“ und „Howgh“ und „Pshaw“ und weiße Waldläufer reden sich mit „Mesch’schurs“ an. Und während sich im Falle von Der Herr der Ringe und seinen Epigonen vor allem wahrhafte Fans in die erfundenen Sprachen einarbeiten, die darüber hinaus als Lebendige Sprache im Werk nur selten eine Rolle spielen, wird das Kunst-Western-Denglisch mit Pseudoindianischen Einsprengseln (samt modifizierter Satzstellung) durch die Winnetoubücher hindurch so konsequent gesprochen, dass es zu großen Teilen in die deutsche Umgangssprache eingegangen ist. Ebenso das 1×1 des Schleichens, der Hüftschuss und dergleichen mehr.
Ein verkappter Humorist?
Wobei man gleich nachschieben sollte, dass die Romane sich weit weniger ernst nehmen, als dass Leser es bis heute tun. Winnetou enthält zahlreiche unfreiwillig komische Passagen, doch auch nicht gerade wenige freiwillig komische, die das Werk heute teilweise fast wie eine Westernsatire wirken lassen. Von der absoluten Übermacht des Bücherwurms Old Shatterhand in nahezu jeder Situation über kluge Belehrungen wie „Ein Greenhorn macht im wilden Westen ein so starkes Lagerfeuer, daß es baumhoch emporlodert, und wundert sich dann, wenn er von den Indianern entdeckt und erschossen worden ist, darüber, daß sie ihn haben finden können“, bis hin zur Figur des Sam Hawkens – der Humor von Winnetou ist tatsächlich ziemlich „over the top“, so dass ich angesichts der Begleiter Old Shatterhands, Parker und Stone, immer mal wieder an die Köpfe hinter South Park denken musste. Und der Witz macht die Sache definitiv genießbarer, als wäre die Räuberpistolen mit ernsthafter Miene vorgetragen.
Dabei ist zuletzt allerdings die Dramaturgie von Winnetou I für einen Abenteuerroman durchaus gelungen. Von einem relativ klassischen Heldenreisen-Beginn aus werden mehrere Spannungsbögen geschlagen, die den Leser immer recht direkt in die Handlung werfen, ihm alles, was er zu wissen braucht, nach und nach enthüllen, und innerhalb des großen Gesamtbogens bzw. Doppelbogens (bis zur Blutsbruderschaft / Jagd auf Santer) zumindest niemals Langeweile aufkommen lassen. Dass die Hauptcharaktere dabei quasi unverwundbar sind, stört wenig. Konvention ist das in den meisten Spannungsromanen, und dass es hier derart zelebriert wird, trägt zu dem Gemisch aus freiwilliger und unfreiwilliger Komik bei, das den Romanen den besonderen Reiz verleiht. Dass fast alle Romane nach dem gleichen Schema (Old Shatterhand wird immer wieder als Greenhorn eingeschätzt) beginnen, nervt allerdings irgendwann.
Mit all dem möchte ich mich nun nicht gleich Arno Schmidt anschließen, der in May bekanntlich einen großen Schriftsteller sah. Aber auch wenn Winnetou als ernsthafter Roman und/oder philosophisches Werk über den Untergang der amerikanischen Ureinwohner natürlich zigtausend Schwächen hat, als quasi-fantastischer Text gelesen offenbaren sich durchaus auch Stärken.
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