Kehren die „alten Geister“ zurück? Der „alte“ und der „neue“ europäische Nationalismus aus historischer Perspektive

Die modernen europäischen Nationalbewegungen, die vor etwa zwei Jahrhunderten auf der politischen Bühne erschienen, traten zunächst in einem „romantischen“ Gewand auf. Ihre Verfechter entwarfen die Vision von einem harmonischen Zusammenleben der Völker. Nur ein Hindernis stand aus ihrer Sicht der Verwirklichung dieser Vision im Wege – dies waren die europäischen Dynastien, die das „alte Regime“ verkörperten. Die Entwicklung des europäischen Nationalismus nach der Revolution von 1848 sollte hier eine große Ernüchterung bringen. Es stellte sich heraus, dass die europäischen Dynastien nicht das einzige Hindernis auf dem Weg zur allgemeinen Völkerverständigung waren.


In der gegenwärtigen Publizistik wird unentwegt vor dem Aufkommen eines neuen Nationalismus gewarnt, und dies ausgerechnet in Europa, das im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zur Genüge erlebt hatte, welch verhängnisvolle Folgen der rücksichtlose nationale Egoismus haben kann. Der Münchner Historiker Magnus Brechtken schreibt in der „Süddeutschen Zeitung“ vom 12. Februar 2018:

(Die) neuen Nationalismen offenbaren einen bedrohlichen Kulturwandel europäischer Politik. Setzen sie sich durch, enden wir – in letzter Konsequenz – dort, wo wir vor 1945 und 1914 standen: in der Konkurrenz egozentrischer Nationalstaaten, die meinen, den Nachbarn übervorteilen zu müssen.

Kehren also die „alten Geister“ zurück? Um diese Fragen zu beantworten, muss man sich zunächst etwas genauer mit dem „alten“ europäischen Nationalismus (vor 1945) befassen. Was verlieh ihm seine scheinbar unüberwindliche Kraft? Warum vermochte er, seine durchaus mächtigen ideologischen Kontrahenten immer wieder zu bezwingen?

„Gesunder Volksegoismus“?

Eine Zäsur bildete hier die Revolution von 1848, die in der historischen Literatur nicht nur mit dem emanzipatorischen Freiheitsdrang, sondern auch mit dem Triumph der nationalen Egoismen in Verbindung gebracht wird. Besonders deutlich spiegelte sich dies am Schicksal Polens wieder. Vor 1848 stellte die Solidarität mit dem unterdrückten Polen eine Art Prüfstein für die revolutionäre Gesinnung dar. Dieses Solidaritätsgefühl sollte jedoch, ausgerechnet nach dem Ausbruch der Revolution, von der die Polen so viel erwartet hatten, deutlich abkühlen. Vor die Wahl zwischen der Prinzipien- und der Interessenpolitik gestellt, wählten die europäischen Revolutionäre aus dem bürgerlich-liberalen Lager in der Regel die letztere. Besonders enttäuscht waren die Polen von der Haltung Frankreichs, das als wichtigster Befürworter der polnischen Unabhängigkeit galt. Der Außenminister der infolge der Februarrevolution von 1848 in Paris entstandenen provisorischen Regierung, Alphonse de Lamartine, wollte auf keinen Fall wegen Polen einen Krieg riskieren: Wir lieben Polen, Italien und alle anderen unterdrückten Völker, erklärte er am 27. März 1848, aber über alles andere lieben wir Frankreich.

Noch deutlicher distanzierten sich damals die deutschen liberalen Gruppierungen von Polen. Sich für die polnische Unabhängigkeit einzusetzen, bedeutete für die Deutschen nicht nur internationale Verwicklungen zu riskieren, sondern auch territoriale Verluste hinzunehmen. Als dies erkannt wurde, nahm die Polenbegeisterung der deutschen Revolution rapide ab. Denn das, wonach sie strebte, war nicht nur die Freiheit, sondern auch die Macht: „Die Bahn der Macht ist die einzige, die den gärenden Freiheitstrieb befriedigen und sättigen wird“, erklärte im September 1848 der liberale Abgeordnete der Frankfurter Nationalversammlung, Friedrich Christoph Dahlmann. Die klassische liberal-demokratische Forderung nach der Wiederherstellung eines freien Polen sei in einen Konflikt mit der Forderung nach der Sicherung der deutschen Position im Osten geraten, schrieb der Münchner Historiker Thomas Nipperdey.

Bei der Polendebatte in der Frankfurter Paulskirche vom Juli 1848 entschied sich eine große Mehrheit der Abgeordneten für den „gesunden Volksegoismus“ und gegen den „sentimentalen, kosmopolitischen Idealismus“, d.h. gegen Polen.

Zwar wurde der „sacro egoismo“ der Nationen während der Revolution von 1848/49 in einigen Fällen durchbrochen. Dazu zählte z.B. die massive polnische Unterstützung für die ungarische Revolution von 1848/49 oder die internationalistische Haltung der deutschen und der französische Linken. Dennoch handelte es sich hier nur um Randerscheinungen. Die internationale Solidarität der Revolutionäre sei wesentlich geringer gewesen als diejenige der Gegenrevolutionäre, bemerkt in diesem Zusammenhang der ungarisch-französische Historiker François Fejtö.

Nach dem Scheitern der Revolution von 1848 gerieten die Verfechter der liberalen „Prinzipienpolitik“ zunehmend in die Defensive. Ihre Haltung galt für ihre Kontrahenten als antiquiert. Als „modern“ galt nun die rücksichtslose Real- und Interessenpolitik. Besonders deutlich spiegelte sich diese Tendenz in der einflussreichen Schrift des enttäuschten 48er August Ludwig von Rochau „Grundsätze der Realpolitik“ (1853) wider. Rochau schrieb: Die Macht allein sei für die Nationen die erste Bedingung des Glücks, und ein Volk, das auf sie verzichte, gehöre zu den Toten.

Die Positionen, die Rochau 1853 formuliert hatte, wurden, insbesondere nach den berauschenden Erfolgen Bismarcks in seinem Kampf um die Reichsgründung (1864-1871), zu einer Art Programm der national gesinnten Kräfte in Deutschland, auch aus dem liberalen Lager. Der politische Idealismus wurde von ihnen nun als ein Zeichen politischer Unreife verworfen. Der bereits erwähnte Münchner Historiker Thomas Nipperdey hat die für das nationalistische Zeitalter typische Betrachtungsweise folgendermaßen charakterisiert:

Die Nation ist für sie die innerweltlich am höchsten rangierende überindividuelle Gruppe – nicht der Stand, die Konfession, … die Landschaft und Region und nicht die Klasse oder die politische Richtung im Weltbürgerkrieg: die Nation ist die Gruppe, die den höchsten Loyalitätsanspruch stellt und stellen darf.

„Die Arbeiter haben kein Vaterland“

Diese Verabsolutierung des nationalen Denkens wurde im damaligen Europa indes nicht widerspruchslos hingenommen. Die marxistisch orientierte Arbeiterbewegung gehörte zu den wichtigsten Kontrahenten der auf den nationalen Egoismus fixierten Kräfte. Im „Manifest der Kommunistischen Partei“ vom Februar 1848 schrieben Marx und Engels: „Die Arbeiter haben kein Vaterland. Man kann ihnen nicht nehmen, was sie nicht haben“.

So stellten die 1864 gegründete Erste und die 1889 entstandene Zweite Internationale ein radikales Gegengewicht zu den in nationalen Kategorien denkenden politischen Gruppierungen Europas dar. Nicht zuletzt deshalb wurden z.B. die deutschen Sozialdemokraten „im Reichstag und in der Presse als ´Reichsfeinde´, von Wilhelm II. sogar als ´vaterlandslose Gesellen´ denunziert“, so der Kölner Historiker Otto Dann.

Trotz solch gehässiger Angriffe verteidigten die sozialdemokratischen Parteien hartnäckig ihren internationalistischen Standpunkt und setzten ihre schonungslose Kritik an dem übersteigerten Nationalismus fort, der das damalige Europa in ein Pulverfass verwandelte. Die Führer der Zweiten Internationale waren stolz darauf, dass gerade die deutsche und die französische sozialistische Partei zu denjenigen Mitgliedern der Internationale gehörten, die besonders eng miteinander kooperierten. Dies ungeachtet der Tatsache, dass nationalistische Emotionen die beiden Völker immer stärker voneinander trennten. Wiederholt warnte die Führung der Zweiten Internationale die Europäer vor der immer akuter werdenden Kriegsgefahr. In ihrer berühmt gewordenen Baseler Resolution vom Jahre 1912 richtete der damalige Kongress der Zweiten Internationale folgende Worte an die europäischen Regierungen:

Der Kongress warnt die herrschenden Klassen, nicht durch kriegerische Maßnahmen das Elend der Massen zu vergrößern, das durch die kapitalistischen Produktionsmethoden verursacht worden ist. Er fordert eindringlich den Frieden… Es wäre reine Dummheit für die Regierungen, wenn sie nicht wahrnähmen, dass der bloße Gedanke an die Ungeheuerlichkeiten eines Weltkrieges unvermeidlich die Entrüstung und die Revolte der Arbeiterklasse hervorrufen würde.

Der „Sündenfall“ der Zweiten Internationale?

Wenn man all das bedenkt, ist das Verhalten der Mehrheit der sozialdemokratischen Parteien kurz nach dem Ausbruch des Weltkrieges, nämlich die Bewilligung der Kriegskredite, nicht leicht zu verstehen. Viele europäische Regierungen dachten unmittelbar vor dem Kriegseintritt mit Sorge daran, wie die Sozialisten auf den Krieg reagieren würden. Antikriegsdemonstrationen, Massenstreiks und andere revolutionäre Ausschreitungen hielt man für sehr wahrscheinlich. Die Leichtigkeit, mit der sich die Mehrheit der Sozialisten von der patriotischen Argumentation der jeweiligen Regierungen überzeugen ließ, war für viele überraschend.

Die Einreihung führender Parteien der II. Internationale in die jeweilige nationale Einheitsfront hielten Vertreter des linken Flügels der Arbeiterbewegung, die den Krieg weiterhin ablehnten, für einen Verrat der sozialdemokratischen Führer an den Massen. Diese These wiesen indes die Befürworter der im August 1914 vollzogenen politischen Wende im sozialdemokratischen Lager entschieden zurück. Ihr Handeln erklärten sie nicht zuletzt durch den Druck, den die von der nationalen Euphorie erfassten Massen auf sie ausübten. Wenn die SPD-Fraktion im Reichstag am 4. August 1914 gegen die Kriegskredite gestimmt hätte, hätte sie jeglichen Einfluss auf ihre Massenanhängerschaft verloren, hob im Oktober 1914 Vertreter des rechten Flügels der SPD, Konrad Haenisch, hervor. Darin stimmten mit Haenisch auch andere SPD-Führer überein.

Es ist nicht leicht zu sagen, ob die sozialdemokratischen Führer Deutschlands, Frankreichs und einiger anderer kriegführender Staaten im Sommer 1914 unter dem Druck der eigenen Anhänger oder aus eigenem Antrieb gehandelt hatten. Eines steht aber fest. Die nationale Ideologie, die seit Mitte des 19. Jahrhunderts auf die bürgerlichen Schichten vieler europäischer Länder eine immer stärkere Faszination ausgeübt hatte, dehnte ab Sommer 1914 ihren Einfluss auch auf viele ihrer schärfsten Kritiker aus dem Lager der marxistisch orientierten Arbeiterbewegung aus. Erst die Einreihung der sozialdemokratischen Parteien der kriegführenden Länder in die jeweilige nationale Front machte den Ersten Weltkrieg zu einer Art Volkskrieg. Zu den wenigen Gruppierungen, die sich diesem Sog entzogen, gehörten die italienischen Sozialisten, die russischen Bolschewiki und einige kleinere Gruppierungen im linken Spektrum der Zweiten Internationale.

Die „Nationalisierung“ des Bolschewismus

Das 1917 entstandene bolschewistische Regime und die von den Bolschewiki im März 1919 gegründete Kommunistische Internationale setzen sich radikal mit dem sogenannten „Sündenfall“ führender Parteien der Zweiten Internationale vom Sommer 1914 auseinander und fühlten sich weiterhin dem antinationalistischen Vermächtnis des „Kommunistischen Manifestes“ verpflichtet. Ihren Kampf um die Macht in Russland fassten die Bolschewiki zunächst ausschließlich als Dienst an der proletarischen Weltrevolution, nicht als Selbstzweck auf. So verkörperte das bolschewistische Regime zunächst den totalen Bruch sowohl mit der russischen als auch mit der europäischen Vergangenheit, auch mit der Ideologie des sogenannten „bürgerlichen Nationalismus“. Im Laufe der Zeit begriffen aber die neuen Machthaber, dass dieser totale Bruch weder möglich noch wünschenswert war. Der britische Sowjetologe Edward Hallett Carr bemerkte einmal, dass jedem revolutionären Bruch mit der Vergangenheit nach einer gewissen Zeit die Sehnsucht nach Wiederherstellung der geschichtlichen Kontinuität folge. Diese Beobachtung Carrs scheint auch für den sowjetischen Staat zutreffend zu sein. Bereits in den 1930er Jahren fand eine Art „Nationalisierung“ bzw. „Russifizierung“ des Bolschewismus statt. Versinnbildlicht wurde dieser Prozess durch die Entmachtung der Schule des Historikers Michail Pokrowski (1868-1932), die in der sowjetischen Historiographie zunächst dominiert hatte. Für die Autoren dieser Schule stellte das vorrevolutionäre Russland den Inbegriff der Unterdrückung dar. Sie interpretierten die russische Geschichte vor allem vom Klassenstandpunkt aus und waren nicht bereit, sich mit der vergangenen Größe Russlands zu identifizieren. Dieser Interpretation stand Stalin bereits in den 1920er Jahren skeptisch gegenüber. Nicht zuletzt seiner Initiative entsprang die immer schärfer werdende offizielle Kritik an den Postulaten der Pokrowski-Schule seit Mitte der 1930er Jahre. Man warf ihr Schematismus und Vereinfachungen vor. Die Idee der nationalen Größe Russlands durfte nun offiziell propagiert werden. Dennoch hat sich der Bolschewismus mit der nationalen russischen Idee niemals gänzlich identifiziert. Die Verherrlichung der russischen Nation wurde von den bolschewistischen bzw. stalinistischen Ideologen immer mit einem „aber“ versehen. Sie waren sich nämlich darüber im Klaren, dass unzählige Sympathisanten der Sowjetunion sowohl im Westen als auch in den Entwicklungsländern Moskau in erster Linie deshalb unterstützten, weil es das Zentrum der „Weltrevolution“ war, und nicht darum, weil es die universale Bedeutung des Russentums propagierte. Um allen diesen Zwängen gerecht zu werden, mussten die sowjetischen Führer, trotz ihres Hangs zum russozentrischen Denken, ihr „internationales Gesicht“ wahren.

Die asynchrone Entwicklung in Ost und West nach 1945

Dieses Spannungsverhältnis zwischen der internationalistischen Phraseologie und den halbwegs geduldeten und instrumentalisierten nationalen Symbolen stellte den roten Faden der Entwicklung der Sowjetunion und seit 1945 auch des gesamten Ostblocks dar.

Hier muss man darauf hinweisen, wie asynchron sich der westliche Teil Europas auf der einen und die von den Kommunisten beherrschte östliche Hälfte des „alten“ Kontinents auf der anderen Seite nach 1945 entwickelten.

Das Trauma der beiden Weltkriege führte im Westen zu einer grundle­genden Veränderung der politischen Kultur. Man sah hier allmählich ein, dass die Verklärung des nationalen Egoismus, wie sie seit der Mitte des 19. Jahrhunderts praktiziert worden war, in eine Sackgasse führte. Diese Er­kenntnis lag auch den europäischen Integrationsprozessen zugrunde. Im Osten hingegen gelangte etwa zur gleichen Zeit das von den Kommunisten lange unterdrückte Nationalgefühl zu einem erneuten Durchbruch. Insbesondere nach dem Scheitern des „revisionistischen Erneuerungsprojekts“ von Prag im Jahre 1968 begann in Osteuropa eine nationale Renaissance, die mit der Verklärung der eigenen Vergangenheit verknüpft war. Das zukunftsorientierte Pathos der kommunistischen Ideologie wurde durch traditionalisti­sche Weltbilder abgelöst. Diese Rückbesinnung auf die jeweilige nationale Vergangenheit wurde indes mit der Sehnsucht verknüpft, nach „Europa zurückzukehren“. So gut wie niemand rechnete aber damit, dass dieser Traum sich in absehbarer Zeit verwirklichen ließe. Die kommunistischen Regime galten einerseits als unreformierbar, andererseits als unbezwingbar. Erst die Gorbatschowsche Perestroika setzte dieser politischen Erstarrung ein Ende. Ohne sie wären die friedlichen Revolutionen in Osteuropa und die Überwindung der deutschen und der europäischen Spaltung wohl undenkbar gewesen.

Die Überwindung des Ost-West-Konflikts und die europäische Identitätskrise

Der lang gehegte Traum ging in einer völlig unerwarteten Weise, und zwar innerhalb kürzester Zeit in Erfüllung:

 „Die Freiheit kam wie eine ´Diebin in der Nacht´“, sagte einige Jahre später der polnische Publizist Henryk Woźniakowski: „Niemand hatte gedacht, dass es so rasch gehen würde.

Die Euphorie, die die friedlichen Revolutionen in Europa ausgelöst hatten, ließ aber bekanntlich sehr schnell nach. Heute erlebt der europäische Gedanke, ausgerechnet nach einem seiner größten Erfolge – nämlich nach der Überwindung der europäischen Spaltung – eine tiefe Krise. Der Münchner Politikwissenschaftler Werner Weidenfeld schrieb vor kurzem:

 Europa ist das Narrativ ausgegangen. Der Begründungskontext erodiert…Die Erfolgsgeschichte gerät in Vergessenheit. … Der Halt ist verloren gegangen.

Der eingangs erwähnte „neue Nationalismus“ scheint zum wichtigsten Profiteur dieser von Weidenfeld beschriebenen Entwicklung zu werden, und zwar sowohl im Osten als auch im Westen des Kontinents. Im Osten ist diese Entwicklung in erster Linie mit manchen Schwierigkeiten der Transformationsprozesse verbunden. Dass der Weg der postkommunistischen Länder zu einer „offenen Gesellschaft“ äußerst beschwerlich sein wird, stellte keine Überraschung dar. Nach vierzig bzw. siebzig Jahren kommunistischer Herrschaft mussten sie einen beispiellosen Transformationsprozess erleben: Von einer Gesinnungsdiktatur zu einer pluralistischen Gesellschaftsordnung, von einem Polizei- zu einem Rechtsstaat, von einer dirigistischen Plan- zu einer freien Marktwirtschaft. Kein Wunder, dass diese tiefgreifende Umwälzung sich so holprig gestaltet. Von manchen Kritikern werden all diese Probleme allerdings nicht mit dem schweren kommunistischen Erbe, sondern in erster Linie mit den neu entstandenen demokratischen Systemen assoziiert. Aber auch im Westen begann nach der Beendigung des Ost-West-Konflikts eine Orientierungskrise. Bis 1989-91 stellte der europäische Gedanke im frei gebliebenen westlichen Teil des Kontinents eine Alternative zu den „geschlossenen Gesellschaften“ des Ostens dar. Die Gefahr, die von dem bis an die Zähne bewaffneten Warschauer Pakt ausging, wirkte mobilisierend auf die offenen Gesellschaften des Westens, stärkte ihre Identität. Vergleichbare Gefahren von außen bedrohen aber die heutige EU nicht mehr. Die Herausforderung, die die Putinsche „gelenkte Demokratie“ für den Westen darstellt, lässt sich, trotz ihrer außerordentlich aggressiven Ukraine-Politik, mit derjenigen des Warschauer Paktes wohl nicht messen. Die neue Bedrohung wird übrigens von den einzelnen EU-Mitgliedern unterschiedlich bewertet. Dazu kommen noch andere Herausforderungen, die die Union zu zerreißen drohen, – die Eurokrise, die Flüchtlingskrise, der Brexit, der Populismus, tiefe Risse im transatlantischen Verhältnis seit der Wahl Donald Trumps zum amerikanischen Präsidenten und einiges mehr.

Kehren die 1930er Jahre zurück?

Trotz alledem lässt sich die heutige Identitätskrise der EU mit der Krise der 1930er und der beginnenden 1940er Jahre, also mit dem Zeitalter der siegreichen totalitären Diktaturen und der erodierenden Demokratien nicht vergleichen. Dessen ungeachtet sprechen viele Autoren beinahe elegisch vom „Abgesang“ des Westens. Vergleichbare kulturpessimistische Stimmen konnte man auch in den 1930er Jahren hören. Sie hatten damals übrigens eine viel größere Berechtigung als heute. Beispielhaft hierfür war der Artikel „Die Apologie des Pessimismus“ des russischen Dichters Jurij Iwask, der kurz vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs in der russischen Exilzeitschrift „Nowyj Grad“ (Die neue Burg) erschien. Das Jahrhunderte alte humanistische und christliche Europa befinde sich nun in einem letzten Entwicklungsstadium, so Iwask, sein Untergang sei unausweichlich. Die Aufgabe der Zeit bestehe lediglich in der Verzögerung dieses Untergangs, um einen „Nekrolog“ zu Ehren der vergangenen Größe der europäischen Kultur zu verfassen. Iwask Klagelied rief eine zornige Entgegnung des russischen Exilhistorikers Georgij Fedotow hervor. Der Glaube an ein unausweichliches Schicksal, amor fati, sei dem Christentum fremd, so Fedotow. Der Niedergang der christlichen Kulturen sei nicht schicksalsgegeben. Diejenigen, die eine große Idee oder einen Glauben vermissten, in deren Namen sie das vorherrschende Chaos bekämpfen könnten, müssten sich auf die Suche danach begeben. Gerade als freie Menschen seien wir dazu verpflichtet, nach einem solchen Glauben zu suchen, der uns helfen werde, Auswege aus der Krise zu finden.

Fedotows mahnende Worte aus dem Jahr 1939 bleiben bis heute aktuell.

Leonid Luks

Der Prof. em. für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt wurde 1947 in Sverdlovsk (heute Ekaterinburg) geboren. Er studierte in Jerusalem und München. Von 1989 bis 1995 war er stellvertretender Leiter der Osteuropa-Redaktion der Deutschen Welle und zugleich Privatdozent und apl. Professor an der Universität Köln. Bis 2012 war er Inhaber des Lehrstuhls für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte an der KU Eichstätt-Ingolstadt. Er ist Geschäftsführender Herausgeber der Zeitschrift Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte.

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