Auch eine Muslimin kann sexuell frei sein

Mit „Der alltägliche Islamismus“ hat die Schweizer Politikwissenschaftlerin Elham Manea ein weiteres wichtiges Buch zum Verständnis des Islamismus und seiner Auswirkungen auf Gesellschaften vorgelegt. Unser Kolumnist Heiko Heinisch sprach mit ihr über den politischen Islam, das Kopftuch, Parallelgesellschaften und die ideologischen Gemeinsamkeiten von gewaltfreien Islamisten und Dschihadisten.


Heiko Heinisch: Elham Manea, Ihr aktuelles Buch trägt den Titel „Der alltägliche Islamismus“. Was genau verstehen Sie unter Islamismus?

Elham Manea: Der gewaltlose Islamismus propagiert eine Ideologie des politischen Islams und zugleich eine radikale Interpretation des Islams. Sie teilt die Welt in zwei Lager: die Gläubigen und die Ungläubigen. Die Gläubigen sollen das Banner des Islams hochhalten und ihn, wenn nicht mit Gewalt, so aber doch durch die Dawa, durch missionarisches Predigen, verbreiten. Dieser Ansicht nach ist der Islam nicht lediglich eine Religion: Er ist Staat und Religion.  Die erste Form ist der Neofundamentalismus (gesellschaftlicher Islam). Er entwickelte sich in verschiedenen extremistischen Bewegungen, die im 18. Jahrhundert aufkamen und den Medina-Islam verbreiteten; sie entstanden im Wesentlichen als Gegenreaktion auf die Herausforderungen der Moderne. Ein Beispiel dafür ist der salafistische Wahhabismus oder sein südasiatisches Pendant, der Deobandi-Islam. Die zweite Form, der politische Islam, ist eine politische Ideologie, die in den Interpretationen des Neofundamentalismus wurzelt. So ist etwa die Muslimbruderschaft – der Prototyp des politischen Islamismus – in religiöser Hinsicht salafistisch geprägt. Die Pendants der Muslimbruderschaft in Südasien und der Türkei sind Jamaat-e-Islami und Milli Görüş. Alle Bewegungen, die diesem ideologischen Spektrum angehören, zielen auf Dominanz. Sie sind antidemokratisch und zutiefst totalitär und diskriminierend, denn sie streben eine Gesellschaft an, in der die Menschenrechte über religiöse Zugehörigkeit definiert werden. Das heißt, es gibt Menschen erster, zweiter und dritter Klasse.

Die Bürde des weißen Mannes

H.H.: In Ihrem Buch sprechen sie vom „essentialistischen Paradigma“, dem sich heute viele linke und liberale Intellektuelle verpflichtet fühlen. Muss man diesen Essentialismus, also die Reduktion der Identität von Menschen auf ihre religiöse Zugehörigkeit, nicht auch als Teil des islamistischen Programms betrachten?

E.M.: Das stimmt. Islamisten instrumentalisieren die Bürde des weißen Mannes, d.h. die mit dem Kolonialismus und Imperialismus verbundenen Schuldgefühle, die dazu geführt haben, dass viele Linke und Liberale glauben, sie müssen bestimmte Gruppen, wie etwa die Muslime, beschützen. Aber während sie das tun, verleugnen sie ihre eigenen Werte, die darauf basieren, dass Menschen als gleichwertig betrachtet werden, als Bürgerinnen und Bürger, als Individuen, die vor dem Gesetz gleich sind. Stattdessen reduziert man Muslime auf ihre religiöse Identität. Das bedeutet, man sieht mich nicht als Elham Manea mit der Vielfältigkeit meiner Identität, sondern nur als muslimisch religiösen Menschen, obwohl ich womöglich gar nicht sehr gläubig bin. Muslime gehören gemäß diesem Paradigma alle in die Gruppe der Muslime, die als Gruppe über Rechte verfügt. Interessanterweise hat dies dazu geführt, dass Politiker und Politikerinnen oft die Zusammenarbeit mit Islamisten suchen, weil diese ihre Wahrnehmung davon, was ein Muslim ist, bestätigen. Solche Politikerinnen und Politiker lassen Islamisten definieren, was ein Muslim/eine Muslimin ist.

H.H.: Kann man also sagen, dass sowohl linke und liberale, als auch rechte Essentialisten ebenso wie Islamisten die Menschen in Gruppe einteilen, also im Falle des Islam in „Muslime“ und alle anderen?

E.M.: Islamisten sehen nur einen Islam. Sie sehen keine Diversität in dieser Religion. Die Essentialisten sind im Prinzip genauso. Sie sehen nur Muslime und diese Muslime müssen nach ihrer Auffassung religiös sein und ihren Glauben in einer bestimmten Art leben und sich auf eine bestimmte Art verhalten.

Das Kopftuch – nur ein Stück Stoff?

H.H.: Mir fällt auf, dass sich in der Gesellschaft ein bestimmtes Bild vor allem von der Muslimin durchsetzt: Die muslimische Frau ist die Frau mit Kopftuch. Wenn ein Politiker sich mit „Muslimen“ zeigen will, müssen Frauen mit Kopftuch dabei sein, und wenn Medien über „Muslime“ oder den Islam berichten, ist auf dem Bild meist eine Frau mit Kopftuch zu sehen.

E.M.: Ja, und damit sagen sie alle, dass Frauen muslimischen Glaubens, die kein Kopftuch tragen – und das ist die überwiegende Mehrheit der muslimischen Frauen – keine richtigen Musliminnen sind. Das ist ein Diskurs, der von Islamisten in der islamischen Welt geführt und gefördert wird und ich finde es befremdlich, dass wir denselben Diskurs jetzt auch hier haben. Er besagt im Kern, dass eine gute Muslimin Kopftuch trägt und das Kopftuch ein islamisches Symbol ist. Aber nein! Es ist kein islamisches Symbol, es ist ein islamistisches Symbol.

H.H.: Die Rechtsanwältin Raja A., die mein Kollege Henning Hirsch vor zwei Wochen interviewt hat, sagt: „Das Kopftuch ist Ausdruck individueller Religiosität und hat nichts mit patriarchalen Machtstrukturen zu tun.“

E.M.: Ich verstehe zwar, dass sie das so sieht, weil das ihr Beweggrund ist, das Kopftuch zu tragen, aber ich bezweifle, dass ihre Aussage über ihre persönliche Motivation hinaus Gültigkeit beanspruchen kann. Es gibt einfach genug Beispiele, um dem zu widersprechen. Man muss nur genau hinschauen, was in der islamischen Welt passiert ist, was Islamisten machen, wenn sie die Kontrolle über eine Gesellschaft übernehmen. Was machen sie als erstes? Sie schreiben eine Ordnung vor, in der die Frauen Kopftuch oder Burka tragen müssen. Da geht es nicht mehr um Freiheit. Das war so im Iran, in Afghanistan mit den Taliban, in Saudi Arabien, im Sudan mit der Muslimbruderschaft, in Gaza mit der Hamas und das war so mit dem IS in Syrien und dem Irak.

Interessanterweise kommt es aktuell in der arabischen Welt zu einer Gegenbewegung, gegen das Kopftuch, die sich zum Teil auch religiöser Argumente bedient.

H.H.: Raja A. sagte im Interview, das Kopftuch habe viel mit religiösen Werten zu tun und nennt in diesem Zusammenhang „Frömmigkeit“, „Zufriedenheit“, „Bescheidenheit“. Weiter sagte sie, das Kopftuch gebe ihr Schutz vor dem eigenen Ich, es bedeute Keuschheit. Wie bewerten Sie diese Beschreibung?

E.M.: Auch ohne Kopftuch kann man all das sein. Das ist das eine. Aber eine Muslimin muss nicht keusch sein, sie kann auch sexuell frei sein. Ich sehe keinen Widerspruch zwischen Liebe und Gott. Warum sollte ich zwischen den beiden wählen müssen?

H.H.: Raja A. sagt auch, das Gebot zum Kopftuch stünde im Koran. Sehen sie das auch so?

E.M.: Nein. Ich kenne den Koran sehr gut und weiß, dass es darin keine Vorschrift gibt, die uns Frauen auffordert, Kopftuch zu tragen. Es geht im Koran um einen Unterschied zwischen Sklavinnen und freien Musliminnen. Die Sklavinnen durften oft nicht einmal ihre Brüste bedecken. Dadurch waren sie als Sklavinnen erkennbar. Man kann sich im Internet Fotos ansehen oder auch auf YouTube Videos des Sklavenmarktes in Saudi Arabien Mitte der 1960er Jahre. Die Frauen wurden auf diesem Markt mit unbedeckten Brüsten zum Verkauf angeboten. Das war die Realität. Mit der Bedeckung der muslimischen Frau sollte eine deutlich sichtbare Unterscheidung zu den Slavinnen geschaffen werden. Es ging also bei der Bedeckung um einen Klassenunterschied.

Auch die von Raja A. genannten Hadithe [nach islamischer Überlieferung Aussprüche und Handlungen Mohammeds, Anm. H.H.] muss man mit Vorsicht betrachten. Jenes etwa, welches die Art der Bedeckung beschreibt, wurde von Hasan al Banna, dem Gründer der Muslimbruderschaft, benutzt, obwohl er wusste, dass es sich dabei um ein sehr schwaches Hadith, also eine ungesicherte Überlieferung, handelte. Man darf die historische Prägung von Religionen nicht übersehen. Und in diesem Zusammenhang sehe ich das Kopftuch als Ausdruck patriarchaler Macht und Kontrolle über die Frau. Ich sehe es als Symbol von Islamisten, ich sehe es als eine sehr intelligente Strategie, die es ermöglicht, den Diskurs um das Kopftuch zu mainstreamen und uns einzureden, das Kopftuch gehöre zu einer liberalen Gesellschaft.

Schauen wir uns die Entwicklung des Diskurses an: Zunächst hat man von Frauenrechten gesprochen, vom Recht der Frau, das Kopftuch zu tragen, heute sprechen wir von Kinderrechten, also vom Recht der Kinder, Kopftuch zu tragen. Und mit der Zeit sprechen wir über das Recht, Burka zu tragen. Junge Frauen können in vielen Situationen in eine Identitätskrise geraten, können hier in europäischen Gesellschaften als muslimische Frauen ihre Identität suchen und dann kommt dieser islamistisch geprägte Diskurs, der ihnen gemeinsam mit dem essentialistischen Paradigma einredet, zur muslimische Frau gehöre das Kopftuch untrennbar dazu.

Kopftuchverbot in der Schule

H.H.: In Österreich aber auch in Deutschland wird aktuell ein Verbot des Kopftuchs in Kindergärten und in Schulen bis zum 14. Lebensjahr diskutiert. Ist ein solches Verbot sinnvoll?

E.M.: Ich war eine der ersten Unterzeichnerinnen der Kampagne für ein Verbot des Kopftuchs in Schulen von terre des femmes in Deutschland. Ich verstehe auf der einen Seite die Ängste jener, die sagen, dass die jungen Mädchen dadurch in der Schule ausgegrenzt werden. Aber ich muss auf der anderen Seite auch darauf beharren, dass man das Kopftuch nicht ohne die Dimension des religiösen und sozialen Drucks sehen darf. In meinem Buch zeige ich das am Beispiel der belgischen Gemeinde Antwerpen: Wo die Anzahl muslimischer Schüler eine kritische Masse in einer Schule oder einem Viertel erreicht, bekommen Gruppendruck und -dynamik eine solche Durchschlagskraft, dass die Mädchen gezwungen werden, Kopftuch zu tragen. Hier gibt es keine Wahlfreiheit mehr. Aus meiner Sicht müssen wir aus den Schulen einen safe space machen, einen sicheren Ort schaffen. Es geht nicht, dass ihnen an diesem Ort gesagt wird, entweder du trägst das Kopftuch oder du bist eine Schlampe. Was eine österreichische Lehrerin in ihrem Buch „Kulturkampf im Klassenzimmer“ schildert, entspricht genau dem, was in der Schule in Antwerpen passiert ist, die ich in meinem Buch beschreibe. Oder auch in Molenbeek in Brüssel. Das sind keine Einzelfälle, das passiert in Deutschland, in Österreich, in Belgien, in Großbritannien.

H.H.: Schauen wir uns das weltweit größte islamistische Netzwerk an: Die Muslimbruderschaft. Können Sie etwas zu ihren Zielen und ihrer Strategie sagen?

E.M.: Salafisten erkennt man zumeist und sie stehen auch offen zu ihren Zielen. Die Muslimbruderschaft und ihre Anhänger sieht man nicht so einfach. Sie arbeiten mit einem langen Atem und viel Geduld im Verborgen und nähern sich ihren Zielen Schritt für Schritt. Im europäischen oder nordamerikanischen Kontext versuchen sie, die Kontrolle über islamische Gemeinschaften zu erlangen. Wie machen sie das? Sie schaffen Strukturen, gründen Organisationen. In unseren freien Gesellschaften haben sie ein Recht darauf, Organisationen aufzubauen. Und sie haben die Ressourcen und verfügen über das Geld, das in großem Stil zu tun. Dabei präsentieren sie sich als Sprecher der muslimischen Gemeinschaft. Aber die Anliegen, die sie dabei vertreten, sind islamistische Anliegen, nicht die Anliegen der Mehrheit der Muslime.

Ihr Ziel ist das gleiche wie in islamischen Ländern: Sie wollen die Kontrolle über die Kindererziehung, über den Lehrstoff der Schulen und die Ausbildung der Imame. Wenn ihnen das gelingt, dann wissen sie, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis sie eine Generation geprägt haben, die gemäß ihrer Lesart des Islam lebt, denkt und handelt.

Das essentialistische Paradigma vieler Politiker führt leider dazu, dass sie mit Vertretern der Muslimbruderschaft zusammenarbeiten, sie dadurch aufwerten und bei der Erreichung ihrer Ziele unterstützen. Sie betrachten die Muslime nicht als Bürgerinnen und Bürger mit individuellen Bedürfnissen und Lebensentwürfen, sondern als Muslime, die spezifisch muslimische Bedürfnisse haben: Die Trennung von Buben und Mädchen, Kopftuch, Halal und Haram. Alle diese religiösen Anliegen, die vor allem den Anliegen der Islamisten entsprechen, werden von unseren Politikerinnen und Politikern als Anliegen DER Muslime betrachtet, weil sie nicht in der Lage sind, aus ihrem essentialistischen Paradigma herauszukommen.

Islamisten betreiben Schulen

H.H.: In Wien hat die Islamische Föderation mit Beginn des Schuljahres zwei neue islamische Privatschulen eröffnet, darunter auch eine Volksschule. Hinter der Islamischen Föderation verbirgt sich die islamistische türkische Bewegung Milli Görüş, die ich als den türkischen Arm der Muslimbruderschaft bezeichnen würde. Was denken Sie, wenn Sie das hören?

E.M.: Ich finde es irritierend. Wir haben in unserer Gesellschaft eine klare Grenze gezogen: Rechtsaußen würden wir die Erziehung unserer Kinder nicht anvertrauen, aber wenn religiöse rechtsaußen Gruppierungen das machen, schauen wir weg, vor allem, wenn es um Muslime geht. Das ist sehr problematisch. Dabei geht es nicht um religiöse Erziehung an sich, es geht darum, wie sie instrumentalisiert wird. Das macht den Unterschied. Ich zeige in meinem Buch, wie die Islamisten Erzählungen aus der Geschichte Mohammeds herausgreifen, in neuem Kontext in die Gegenwart übertragen und den Kindern einreden, sie müssten sich heute daran ausrichten, müssten heute danach leben, sie seien angewiesen, die Ungläubigen zu hassen und zu bekämpfen, als ob sie in der Zeit Mohammeds leben würden. Damit leisten sie nicht nur der Abgrenzung und geschlossenen Parallelgesellschaften Vorschub, sondern erodieren den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft. Das darf nicht sein. Wir brauchen Maßnahmen, die verhindern, dass Islamisten über Schulen und Kindergärten die Erziehung von Kindern in der Hand haben.

H.H.: Sie haben sich bereits in ihrem letzten Buch, „Women and Shari’a Law“, mit entstehenden Parallelgesellschaften befasst und in Großbritannien mehrjährige Feldforschung zu diesem Thema betrieben. In ihrem neuen Buch schreiben Sie, wo die Politik des Unterschieds beginne, dort setze eine Dynamik ein, die zu Segregation und Menschenrechtsverletzungen vor allem gegenüber Frauen und Kindern führe und die letztlich das gesellschaftliche Vertrauen aushöhle und die Solidarität untergrabe. Das Ergebnis wären schlussendlich monokulturelle Enklaven und nicht die multikulturelle Gesellschaft?

E.M.: Wir sehen das in verschiedenen Kontexten: In Großbritannien, in einem Stadtteil wie Molenbeek in Belgien oder in Schweden, das ich ausführlich in meinem Buch erwähne. Wenn Multikulturalismus bedeuten würde, dass wir einander in unseren Unterschieden bezüglich Herkunft, Hautfarbe oder Religion respektieren, dann ist das kein Problem. Aber wenn wir diese Charakteristiken zu einer Politik des Unterschieds formulieren, dann haben wir ein Problem. Wir können unterschiedlich sein, aber gleichzeitig brauchen wir Gemeinsamkeiten und zwar vor allem dort, wo sie uns zusammenbringen. Hier in Europa ist das der Humanismus, sind das Werte wie Gleichberechtigung, Religionsfreiheit, die auch bedeutet, dass man Religionen kritisieren kann und darf, und Meinungsfreiheit. Das sind Werte, die gelebt sein wollen. Aber in geschlossenen Parallelgesellschaften haben diese Werte keinen Wert und darunter müssen meist vor allem die Frauen leiden.

Es ist bedenklich, dass nicht realisiert wird, dass die Politik der Unterschiede, die uns sagt, wir müssen bestimmte Gruppen anders behandeln, nichts anderes ist, als eine Politik der ’Apartheid‘, also der Trennung. Es sind zwei Seiten einer Medaille. In den USA hat man einst die Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe voneinander getrennt und dann behauptet, sie seien gleichberechtigt, separate but equal hieß das, was natürlich nicht stimmte. Heute macht der Multikulturalismus das gleiche, wenn auch mit guter Absicht: Er teilt Menschen nach Herkunft, Kultur und Religion in Gruppen und schiebt jede Gruppe in eine eigene Schublade, in eine eigene Rechtsenklave mit eigenen Regeln, die nicht demselben Rechtsverständnis folgen, dass in der Mehrheitsgesellschaft vorherrscht. Und dann sagt man uns, nur dadurch ließe sich Gleichheit herstellen. Mit anderen Worten: um Gleichheit herzustellen, wird die Ungleichheit betont.

Geschlossene Communitys

H.H.: Sie schreiben in ihrem Buch, dass Mainstreaming des Islamismus, wie sie es nennen, also die Tatsache, dass es Islamisten in den vergangenen 40 Jahren gelungen ist, ihre Auslegung zum Mainstream im Islam zu machen, führe dazu, dass andere Stimmen zum Schweigen gebracht würden, während sich in muslimischen Gemeinden eine „Kultur des Extremismus“ ausbreite.

E.M.: Die systematische Arbeit von islamistischen Gruppierungen macht die Situation in geschlossenen islamischen Communitys schlimmer als in anderen solchen Gemeinschaften. Sie übernehmen die Kontrolle und bringen ein fanatisches und extremistisches Element in muslimischen Gemeinschaften ein, sowie ein streng patriarchales Konzept, das auf dem Dogma der Familienehre basiert.

Die Lesart des Islam, die Frau Wiesinger in ihrem Buch „Kulturkampf im Klassenzimmer“ schildert und mit der sie in ihrer Schule konfrontiert ist, das ist eine fundamentalistische, eine extremistische Form des Islam. Offenbar ist es islamistischen Kreisen gelungen, den Diskurs in der Schule zu bestimmen, ihn zu mainstreamen. Ganz in der Nähe der Schule befinden sich zwei Moscheen, die von Milli Görüs und von ATIB [der österreichische Ableger der staatlichen türkischen Religionsbehörde Diyanet, Anm. H.H.] betrieben werden.

H.H.: Sie schreiben in ihrem Buch, der IS sei das Produkt eines religiösen Diskurses „und dieser Diskurs ist heute in weiten Kreisen Mainstream geworden“. Können Sie das erläutern?

E.M.: Es ist sehr einfach zu sagen, die Religion habe mit dem IS und der Gewalt nichts zu tun. Es gibt natürlich auch die friedliche Lesart des Islam, der auch sehr viele Menschen folgen, aber es gibt eben auch die fundamentalistische Interpretation. Die Gewalt steht dabei erst ganz am Ende einer langen Entwicklung und wird auch nur von einer kleinen Gruppe ausgeübt. Daher müssen wir verstehen, was vorher geschehen ist, was in den letzten 50 Jahren in der islamischen Welt passiert ist.

Diese wird seit Jahrzehnten zu einem großen Teil von korrupten Eliten regiert, die immer wieder Bündnisse mit Islamisten geschlossen haben, um ihre Macht zu legitimieren. Dafür mussten die Gesellschaften einen hohen Preis bezahlen. Man ließ den Islamisten viel freien Raum, in den Moscheen, in Koranschulen, aber auch in den Volksschulen und in den Medien. Das hat dazu geführt, dass Einstellungen in die Gesellschaft getragen wurden, von denen wir in den arabischen Gesellschaften zuvor nichts gehört hatten. Vor 50 Jahren hat keiner dem Hass gegenüber Christen, Jesiden oder Ahmadiyya das Wort geredet. In Ägypten etwa hat man weitgehend friedlich zusammengelebt. Heute aber ist es als Muslim verpönt, mit ihnen befreundet zu sein, Christen Frohe Weihnachten zu wünschen oder gar mit ihnen zusammen zu feiern. Da merkt man, dass die islamistische Botschaft zum Alltag geworden ist. Daher auch der Titel meines Buches „Der alltägliche Islamismus“.

Ein Beispiel: Die ägyptische Journalistin Rabab Kamal beobachtete, dass jedes Mal, wenn ein Terroranschlag auf eine christliche Kirche oder auf Kopten verübt wurde, diese Taten zwar verurteilt würden. Wenn sie aber um Gnade für die Seelen der Getöteten bitte, würden dieselben Leute erwidern: „Gnade können wir für sie nicht erbitten. Das sind ja keine Muslime. Die gehören in die Hölle.“ Dieselbe Auslegung des Islam, die den Terroristen gebietet, Ungläubige zu töten, verbietet jenen, die den Terrorismus ablehnen, für die Seelen der Opfer des Terrors zu beten. Das ist Mainstream geworden und das ist das Problem.

In meinem Buch zeige ich, dass die Strukturen, die diese Auslegung verbreiten, auch hier in Europa aktiv sind und dagegen müssen wir vorgehen. Wir müssen das Mainstreaming des Islam durch die Islamisten stoppen. Tun wir es nicht, wird irgendwann der Punkt kommen, an dem wir uns fragen werden, warum wir nicht viel früher eingegriffen haben. Die Polarisierung, die wir zurzeit erleben, macht mir Angst. Das Erstarken der Rechtsaußen macht mir Angst, aber was mir auch Sorgen bereitet, ist, dass viele auf der anderen Seite nicht über bestimmte Probleme sprechen wollen, nur weil sie glauben, damit den Rechten zu helfen. Dabei ist es doch gerade umgekehrt: Die Rechtsaußen leben und profitieren davon, wenn diese Probleme nicht ernsthaft angegangen werden.

Das freundliche Lächeln des Islamismus

H.H.: Sie schreiben, dass das Problem von Intellektuellen in der Islamischen Welt sehr wohl gesehen und auch angesprochen und diskutiert wird.

E.M.: Ja, das ist interessant zu sehen. In der arabischen Welt spricht man heute mit großer Klarheit über diese Probleme, man benennt sie. Man zahlt noch immer einen hohen Preis dafür, aber man ist bereit, darüber zu sprechen. Im arabischen Raum gibt es auch eine Entwicklung weg von der Religion. Immer mehr Menschen wenden sich von der Religion ab. Der Atheismus ist bei vielen jungen Männern und Frauen en vogue, weil sie merken, dass die verbreitete dogmatische und fundamentalistische Religion alles kaputt macht. Der IS war wie ein Punkt, an dem sich die Leute gefragt haben: ist es das, was wir wollten?

Die Muslimbruderschaft hat sich stets als moderate und gute Kraft dargestellt, bis man gesehen hat, dass das, was sie wirklich  anstreben, viel mit dem zu tun hat, wofür der IS steht. Wenn man die Originalliteratur der Muslimbruderschaft und die Manifeste ihrer Leitfiguren liest, erkennt man, dass sich ihr Programm nicht wirklich von jenem des IS unterscheidet. Sie lehnen die Sklaverei nicht ab, sie lehnen Steinigungen nicht ab, sie lehnen Mord für Apostasie oder für Beleidigung des Propheten nicht ab. Sie vertreten die gleiche Ideologie. Der IS ist ein Endprodukt des Projektes der Muslimbruderschaft. Und diesen Zusammenhang haben sehr viele Menschen in der arabischen Welt verstanden.

H.H.: Gehen wir als Gesellschaften hier in Europa den Islamisten auf den Leim?

E.M.: Leider! Wir glauben dem adrett gekleideten Menschen mit dem freundlichen Lächeln und sehen dahinter nicht den islamistischen Ideologen. Wir unterschätzen die Islamisten. Aber sie sind nicht nur intelligent, sie wissen auch genau was sie wollen und gehen raffiniert vor.

Die Zusammenarbeit mit staatlichen Behörden und auch die Arbeit mit Kindern ist ihnen ein besonderes Anliegen. Sie verfolgen eine klare Strategie und man sollte unbedingt ihre Schriften beachten, denn dort stehen sie offen zu dem, was sie wollen und wie sie vorgehen – man muss es nur lesen. Ihr Ziel ist keine demokratisch-pluralistische Gesellschaft, sie verfolgen ein totalitäres Projekt. In einem von ihnen geschaffenen System sind die Menschen nicht gleich, nur die Gläubigen haben dort Rechte. Und wenn man diese religiöse Komponente gegen „Rasse“ austauscht, dann dürfte klar sein, wovon ich spreche.


Elham Manea: Der alltägliche Islamismus. Terror beginnt, wo wir ihn zulassen, Kösel Verlag München 2018.

Heiko Heinisch

Nach Abschluss des Geschichtsstudiums arbeitete Heiko Heinisch u.a. am Ludwig-Boltzmann-Institut für historische Sozialwissenschaft. Nach längerer freiberuflicher Tätigkeit arbeitet er seit Mai 2016 als Projektleiter am Institut für Islamische Studien der Universität Wien. Nach längerer Beschäftigung mit den Themen Antisemitismus und nationalsozialistische Judenverfolgung wuchs sein Interesse an der Ideengeschichte, mit Schwerpunkt auf der Geschichte der Ideen von individueller Freiheit, Menschenrechten und Demokratie. Er hält Vorträge und veröffentlichte Bücher zu christlicher Judenfeindschaft, nationalsozialistischer Außenpolitik und Judenvernichtung und widmet sich seit einigen Jahren den Problemen, vor die Europa durch die Einwanderung konservativer Bevölkerungsschichten aus mehrheitlich islamischen Ländern gestellt wird. Daraus entstand das gemeinsam mit Nina Scholz verfasste Buch „Europa, Menschenrechte und Islam – ein Kulturkampf?“ im Wiener Passagen Verlag (2012). Er ist Mitglied des Expert_Forum Deradikalisierung, Prävention & Demokratiekultur der Stadt Wien. Im März 2019 ist das gemeinsam mit Nina Scholz verfasste Buch „Alles für Allah. Wie der politische Islam unsere Gesellschaft verändert“ im Molden Verlag erschienen.

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