Dickes Kind hängt am Zucker wie der Junkie an der Nadel

Fahrlässig beworbene Softdrinks und Schokoriegel vergiften unseren Nachwuchs, sagt Henning Hirsch


Gestern holte ich mir im Bonner HBF zur Abwechslung mal die Frankfurter Rundschau und entdeckte auf Seite 2 den hochinteressanten Artikel Die tägliche Überdosis: Zucker und Gesundheit, in dem unter anderem der Frage nachgegangen wird, ob Softdrinks als flüssige Krankmacher anzusehen sind, die Fettleibigkeit und Diabetes verursachen. Eine Stunde später stoppte ich beim Rewe in Bad Honnef, um mir Tabasco und Kaffeepads zu besorgen. Das hätte ich besser nicht getan, denn im Laden war die Hölle los, und ich stand mit meinem 4.87€-Einkauf zwanzig Minuten an der Kasse. Und während ich so vor mich hin wartete, sah sie wieder: die dicken Familien, die ihre vollgeladenen Wagen durch die Gänge schoben, dabei unablässig nach links und rechts in die Regale greifend. Ich ertappte mich in Gedanken dabei, wie ich ihnen auf die gierigen Finger klopfen und sagen will: »Jetzt ist aber genug!« Ich tu’s es nicht, weil ich nicht oberlehrerhaft erscheinen möchte und es mich ja auch nichts angeht. Jeder Erwachsene ist selbst dafür verantwortlich, welche (Un-) Menge an Kalorien er sich täglich reinschaufelt. Schwierig wird’s aber, wenn Eltern ihre Kinder mit Fanta, Erdnussriegeln, TK-Pizza und Schokopudding im Kingsize-Format vergiften.

RKI und WHO warnen seit Jahren

Um nun dem Eindruck entgegenzutreten, der Hirsch regt sich gerne über Sachen auf, die er sich bloß in seinem kranken Hirn zusammenfantasiert; da ist wie immer nichts dran – hier ein paar Zahlen und Zitate:

Zwei Drittel der Männer (67 %) und die Hälfte der Frauen (53 %) in Deutschland sind übergewichtig. Ein Viertel der Erwachsenen (23 % der Männer und 24 % der Frauen) ist stark übergewichtig (adipös).

Die Prävalenz von Adipositas hat in den letzten zwei Dekaden weiterhin zugenommen, besonders bei Männern und im jungen Erwachsenenalter.
© Robert Koch-Institut 2014, Studie DEGS1, Erhebung 2008–2011

Die Berliner Zeitung zitiert in diesem Zusammenhang aus einer Studie, die von der Weltgesundheitsorganisation in Auftrag gegeben wurde:

Weltweit sind Forschern zufolge mehr als zwei Milliarden Menschen übergewichtig oder gar fettleibig. Eine Studie zeigt nun, dass der Anteil fettleibiger Menschen an der Weltbevölkerung rasch gestiegen ist – vor allem unter Kindern. Demnach hat sich der Prozentsatz fettleibiger Menschen von 1980 bis 2015 in mehr als 70 Ländern verdoppelt, in den meisten anderen Staaten sei er zumindest stetig nach oben gegangen, schreibt das internationale Forscherteam im „New England Journal of Medicine“

„Die Häufigkeiten von Fettleibigkeit und Übergewicht bei europäischen Kindern verharren auf einem beispiellosen Niveau“, heißt es in dem Bericht. Deutschland belegt beim Anteil übergewichtiger Kinder einen Platz im europäischen Mittelfeld. Demnach waren hierzulande 16,5 Prozent der untersuchten Kinder im Alter von zwei bis zehn Jahren übergewichtig.

Aha, denke ich. Liege ich also doch nicht verkehrt mit meiner Einschätzung, dass ich heute mehr Fetten als in der Zeit meiner Jugend begegne. Früher gab’s einen Dicken pro Klasse, heute gilt jeder fünfte Pennäler als übergewichtig. Als 15jähriger Austauschschüler in den USA war ich Ende der 70er erstaunt über den dort zu beobachtenden Splitt in extrem dicke und sportliche Menschen gewesen. In den 80ern wiederholte ich diese Beobachtung bei Studienaufenthalten in England. Auch dort begegnete ich mehr Fettleibigkeit als bei uns zu Hause. Sie essen halt ungesünder, davon dann auch ne Menge, und bewegen sich weniger als wir, dachte ich damals und freute mich über die schlanke Stewardess, die mich mit wohlvertrautem rheinischen Singsang an Bord des Lufthansaflugs von London nach Köln begrüßte.

Adipositaswelle ergreift Europa

Zwanzig Jahre später raste der Adipositastsunami über den Atlantik, durchquerte mit kurzem Zwischenstopp im Vereinigten Königreich den Ärmelkanal, um dann mit voller Wucht über Kontinentaleuropa hereinzubrechen. Seitdem werden die Lebensmittelgeschäfte leergekauft. Die Angestellten kommen kaum hinterher, die Regale wiederaufzufüllen und neue Paletten aus dem Lagerraum ranzukarren. Als ob seit der Jahrtausendwende das große Fressen ausgebrochen ist und nicht mehr aufhören will.

Die Gründe für die moderne Fettleibigkeit sind mannigfaltig: zu wenig Zeit, um gesund zu kochen, ständig erweitertes Angebot hochkalorischer Fertigprodukte, zu viel Zucker in Getränken und Nahrungsmitteln, Fastfood an jeder Straßenecke, suchtartiges Verlangen nach Süßem und Salzgebäck, der virtuelle Ronaldo in der Playstation ersetzt das reale Kicken draußen auf der Straße, finanzielle Einschränkungen: mit sinkendem Einkommen steigt die Tendenz, sich schnell und ungesund zu ernähren. Man kann es natürlich auch simpler erklären: Es wird kontinuierlich mehr oben nachgefüllt, als durch Bewegung in der Mitte und Stuhlgang unten verbraucht werden.

Ist der Durchschnitts-BMI bei Erwachsenen „nur“ als besorgniserregend einzustufen, so ist es bei Kindern allerdings ein Verbrechen, deren Ernährungs- und Bewegungsgewohnheiten derart aus dem Ruder laufen zu lassen, bis sie in der 24/7-Hungerfalle sitzen und sich weigern, zu Fuß bis in die zweite Etage zu steigen.

Lösungsmöglichkeiten sind bekannt

Nun ist Dickwerden keine Gottesgeißel, der man machtlos ausgeliefert wäre und gegen die bloß Beten hilft. Lösungen für Kinder und Jugendliche liegen seit Jahren auf dem Tisch und lassen sich in drei Überschriften zusammenfassen:
(A) Gesunde Ernährung in Elternhaus und Schule
(B) Reduzierte Aufnahme stark zuckerhaltiger und hochkalorischer Snacks und Softdrinks
(C) Tägliche Bewegung

Einsicht und Freiwilligkeit sind immer begrüßenswert; reichen allerdings beim Thema „falsche Ernährung“ nicht aus, um das Problem in den Griff zu bekommen. Nach wie vor werden unsere Kinder von morgens bis abends mit Haribo- & Milka-Werbung zugeballert. Die Supermärkte sind vollgestopft mit Gummibärchen, Keksen, Salzstangen und Erdnüssen. Und wer es als Mutter geschafft hat, sein Kind an all den Krankmachern vorbeizubugsieren, auf den warten an der Kasse das Regal mit den Bonbons, Weingummis und der kleinen Prinzenrolle, direkt daneben die Kühltheke mit dem abgepackten Eiskonfekt. Spätestens hier ist der Schreikrampf des bisher leer ausgegangenen Sprösslings vorprogrammiert.

Foodwatch sagt dazu:
Längst ist belegt, dass freiwillige Vereinbarungen nicht funktionieren. Die Hersteller machen die größten Profite mit Süßkram, Zuckergetränken und Knabberartikeln. Freiwillig werden sie nicht damit aufhören, genau diese Produkte an Kinder zu bewerben und deren Geschmack schon früh zu prägen.

Gebot der Stunde: Warnhinweise

Da es sich um ein kombiniertes Angebot-Nachfrage-Phänomen handelt – ohne den Snack im Regal könnte das Kind den nicht essen und süchtig nach dem Stoff werden –, muss hier ebenfalls die Industrie in die Verantwortung genommen werden: Verpflichtung zu drastischer Reduktion des Zuckeranteils bei gleichzeitigen Warnhinweisen auf den Packungen, was alles passieren kann, wenn man den Konsum nicht drosselt. Und weg mit der speziell auf Kinder zielenden Süßigkeitenwerbung im TV. Die ist von den gesundheitlichen Auswirkungen her als genauso problematisch wie Alkoholspots einzustufen. Und mir jetzt nicht mit der Mündigkeit der Verbraucher kommen. Kinder sind alles mögliche, aber bestimmt nicht mündig.

Mir leuchtet partout nicht ein, weshalb wir auf jeder Wurst und jedem Käse minutiös über die Inhaltsstoffe informiert werden, aber auf Mars, Snickers, Bounty, Kinderüberraschungseiern nicht klar und deutlich draufsteht, wie viele Kalorien und Zucker darin enthalten sind, und wie lange wir benötigen, um das Zeug wieder zu verdauen. Weshalb Ekelbilder einzig auf Zigarettenpackungen und nicht ebenfalls auf Chips und Erdnussflips? Warum keine Zuckersteuer und keine Preisaufschläge auf krankmachende Süßigkeiten? Totenköpfe auf Coke und Pepsi: könnte ich mit leben.

Mehr Sport und Ernährungskunde an den Schulen

Bei Eltern, die tatenlos zusehen, wie ihre Söhne und Töchter sich dem BMI 30 annähern, müssen Lehrer und im Wiederholungsfall das Jugendamt vorstellig werden. Zehn- oder gar Zwölfjährige, die beim 1000m-Lauf bereits nach einer Runde um den Platz entkräftet und weinend zusammenklappen, gab es zu meiner Schulzeit nicht. Heute ist dieses konditionelle Unvermögen so normal, dass die Pädagogen bloß noch resignierend mit den Schultern zucken. Sehr viel dringender als schnelles Internet und Hotspots benötigen wir deshalb deutlich mehr Sportunterricht und Ernährungskunde an den Schulen. Am besten flankiert von einer Kampagne: TK-Pizza und nachmittags auf der Couch rumlungern sind total uncool!

Ein wichtiges Betätigungsfeld für einen Gesundheitsminister. Herr Spahn könnte sich mit einem bundesweiten Aktionsplan „BMI an den Schulen runter“ hundertpro große Meriten erwerben. Vielleicht sagt ihm das mal jemand; denn Meriten mag er eigentlich sehr gerne. Aber eher wird der Papst das Zölibat aufheben, als dass wir erleben dürfen, wie die Politik der täglichen Vergiftung unserer Kinder durch Cola und Schokoriegeln den Kampf ansagt.

Also fressen wir munter weiter und wundern uns nicht, dass die Konfektionsgröße XL demnächst kontinentaleuropäisches Standardmaß sein wird.

Henning Hirsch

Betriebswirt und Politologe, Comicleser, Filmjunkie, Bukowski- und FC- (es gibt nur einen FC: nämlich den aus Köln) Fan, trockener Alkoholiker. In die Abstinenz startete er mit einem Roman: Saufdruck. Seitdem tippt er abends Kurzgeschichten und Gedichte. Da die Schreiberei alleine nicht satt macht, verdient er tagsüber seine Kaltmiete und die Kühlschrankfüllung mit Marketing & Orga. Henning Hirsch lebt im Bonner Süden und ist Vater von drei Kindern ... Wer mehr von ihm lesen möchte: www.saufdruck.de

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