Dumm sind immer nur die Anderen

Im ersten Teil ging es um die eigene Dummheit. Heute geht es um die Dummheit der anderen. Gibt es eine kollektive und eine radikale Dummheit? Ist das Volk dumm?


Vor einer Woche ging es an dieser Stelle um die eigene Dummheit. Wann bin ich dumm? – das war die Frage. Heute geht es um die Dummheit der Anderen.

Die Dummheit der Anderen

Das Selbstbild der eigenen Dummheit bestimmt auch das Verstehen der Dummheit des Anderen. Dabei ergeben sich allerdings verschiedene Schwierigkeiten. Erstens wissen wir nicht, was der andere grundsätzlich weiß oder wissen könnte, wir wissen aber auch nicht, ob er tatsächlich das Ergebnis so einschätzt, dass er seine Handlungen am Ende bereut. Wir sind hier auf Vermutungen angewiesen. Allerdings kommt es häufig genug vor, dass wir unsere Urteile über die Dummheit der anderen gerade nicht auf Vermutungen zu stützen glauben, sondern meinen, gerechtfertigte, oft normative Überzeugungen zu haben. Wir sagen: „Das hätte er wissen müssen. Das hätte sie beurteilen können. Das hätte er vorhersehen müssen.“ Vor allem aber „Das hat sie nicht gewollt haben können“.

Wenn etwa nicht ich selbst, sondern mein Kollege einen schweren Kopf hat, weil er gestern zu lange mit Freunden gefeiert hat, obwohl er doch wusste, dass er heute einen wichtigen Termin hat, dann sage ich, dass das dumm von ihm war. Ich versetze mich in seine Lage, vollziehe nach, was er getan hat, und urteile, dass es dumm gewesen wäre, wenn ich selbst so gehandelt hätte und nun unter den Folgen zu leiden hätte.

Das zeigt, dass wir bei der Beurteilung der Dummheit der anderen oft von unserem eigenen Denken, von unserer Selbsteinschätzung ausgehen. Wir sehen das Handeln des anderen als dumm an, wenn wir selbst, hätten wir in seiner Lage so gehandelt, dieses Tun im Nachhinein als dumm bezeichnen und bereuen würden. Das ist jedoch problematisch, wenn wir bedenken, dass wir ja nicht wissen, was der andere wirklich gewusst hat, was er wirklich hätte überlegen können. Vor allem aber wissen wir nicht, was die Präferenzen und Wünsche des anderen sind, und wie er selbst mit den Folgen seines Handelns zurechtkommt. Vielleicht beurteilt mein Kollege die Sache ja ganz anders, als ich sie beurteilen würde, er sagt sich: Der schwere Kopf heute – das geht weg – die Erinnerung an den tollen Abend mit Freunden aber, die bleibt.

Die Beurteilung der Dummheit scheint also immer ein subjektives Urteil zu sein, und wirklich beurteilen kann ich nur meine eigene Dummheit. Jedes Urteil über die Dummheit anderer benötigt so viel Vorwissen über den Anderen, seine Ziele, Wünsche, sein Selbstbild, dass es eigentlich dumm wäre, den anderen als dumm zu beurteilen.

Dummheit, die mich betrifft

Die Sache sieht aber anders aus, wenn ich vom Handeln des Anderen betroffen bin. Nehmen wir den Fall, dass mein Kollege und ich heute gemeinsam etwas zu erledigen haben: Der Termin am Vormittag erfordert es, dass wir beide in Bestform sind. Nun kommt mein Kollege verschlafen zur Arbeit und sagt mir, dass er die halbe Nacht durchgefeiert hat! Wenn er in diesem Moment Reue zeigt, dann werden wir wohl gemeinsam zu dem Urteil kommen, dass sein Verhalten dumm war – und das Beste daraus machen.

Anders sieht die Sache aus, wenn mein Kollege – aus seinen subjektiven Einstellungen heraus, sein eigenes Verhalten gar nicht als dumm beurteilt. In diesem Falle nähern wir uns allmählich endlich dem Phänomen, das Thomas Vašek zuletzt als „radikale Dummheit“ bezeichnet hat. Um dieses ganz zu verstehen, müssen wir aber noch ein paar letzte vorbereitende Schritte gehen. Vom Urteil „Ich bin dumm“ müssen wir über das Urteil „Du bist dumm“ zum Urteil „Die sind dumm“ kommen.

Zunächst mal scheint klar: Der andere ist in seinem Selbsturteil, dass sein Handeln dumm ist, völlig frei. Ich kann nur unter der Annahme, dass ich selbst mich in seiner Situation, bei seinem Wissen und seinem Handeln im Nachhinein als dumm beurteilen würde, ein Urteil über die Dummheit des Anderen treffen – und ich kann dabei gründlich daneben liegen. Allerdings kann ich mit ihm gemeinsam zu dem Urteil kommen, dass er dumm gehandelt hat – Zeichen dafür wäre dann auch, dass er echte Reue zeigt.

Wenn ich von dem Verhalten des Anderen, das ich als dumm beurteile, betroffen bin, dann werde ich es möglicherweise auch als dumm bezeichnen – vielleicht nenne ich es aber auch unfair oder frech. Das gilt insbesondere dann, wenn der andere selbst sein Verhalten nicht als dumm ansieht. Wenn mein Kollege uns den Termin verdirbt und mir zusätzlich auch noch mehr Arbeit macht, weil er durchgefeiert hat, dann werde ich ihn nur dann als dumm bezeichnen, wenn er selbst sein Verhalten auch als dumm beurteilt und bereut. Anderenfalls werde ich ärgerlich sein und nicht von Dummheit, sondern von unfairer Frechheit reden.

Eine besondere Form dieser Dummheit oder unfairen Frechheit beobachten wir, wenn wir mit dem Anderen gar nicht in direkter Verbindung stehen, wenn wir mit ihnen aber durch die Nutzung gemeinsamer Ressourcen in Verbindung stehen, allgemeiner, wenn ihr dummes oder unfaires Verhalten auf mein Leben Auswirkungen hat, ohne dass ich sie dafür direkt – wie meinen Arbeitskollegen – zur Rechenschaft ziehen kann. Das ist etwa beim Raser auf der Autobahn der Fall, der mich in Bedrängnis oder in Gefahr bringt, oder in der Demokratie etwa bei großen Wählergruppen, die durch ihre Wahlentscheidung, die ich für dumm halte, Entscheidungen herbeiführen, von denen ich meine, dass sie nicht zum Wohle der Gemeinschaft sind, in der wir leben.

Kollektive Dummheit

Damit sind wir schon ganz dicht an das Problem der „radikalen Dummheit“, von der Thomas Vašek spricht, oder der „Dummheit des Volkes“ die Herfried Münkler konstatiert, herangekommen. Wir erblicken das Phänomen der kollektiven Dummheit. Allerdings müssen wir nicht ins Politische wechseln, um es zu verstehen, wir haben es schon in unserem Beispiel der Party am Abend vor dem wichtigen Termin gesehen.

Was wird mir mein Kollege antworten, wenn ich ihn zur Rede stelle? Was wird er sagen, wenn ich ihn frage, warum er trotz des wichtigen Termins nicht frühzeitig zu Bett gegangen ist? Er wird vorbringen, dass es so schön war, mit den anderen zu sitzen und zu schwatzen. Dass man so lang schon nicht mehr in so einer fröhlichen Runde zusammen war. Und dass die anderen auch am nächsten Tag wichtiges vorgehabt hätten. Gemeinsam sei man, so wird unser Kollege sagen, zu dem Ergebnis gekommen, dass es gerade wichtiger wäre, die schöne Zeit zusammen zu genießen, als jetzt schon schlafen zu gehen. Der Kollege wird vorbringen, dass er sich da nicht ausschließen wollte, dass er auch kein Spielverderber sein wollte, der die Stimmung des Abends zerstört.

Das, was wir in diesem Beispiel erkennen, ist das Phänomen der „kollektiven Dummheit“. Man hat sich gemeinsam entschieden, etwas zu tun, was nicht sich im Nachhinein als falsch herausstellt, und man hätte es gemeinsam besser wissen können, man hätte gemeinsam anders handeln können. Alle Kriterien, die wir am Anfang für die eigene, persönliche Dummheit gefunden hatten, treffen hier auf das kollektive Handeln der Gruppe zu.

Wiederum müssen wir allerdings konstatieren, dass es unser eigenes, persönliches Urteil ist, dass das Handeln des Kollektivs zu einer Dummheit erklärt. Ich sage mir: wäre ich dabei gewesen, hätte ich gemeinsam mit den anderen zu dem Ergebnis kommen müssen, dass es klug und vernünftig wäre, das schöne Beisammensein früher zu beenden. Ob die anderen, aus ihrem Wissen, ihren Einstellungen, Wünschen und Zielen heraus, ihre Entscheidung tatsächlich auch als dumm bezeichnen müssen, können wir nicht wissen.

Es sei denn, die Gruppe kommt im Nachhinein ebenfalls kollektiv zu der Einsicht, dass es dumm war, was da geschehen ist – dann kann man davon sprechen, dass es sich wirklich um eine kollektive Dummheit gehandelt hat.

Die radikale Dummheit

Man kann jedoch die These vertreten, dass größere Gruppen, wenn sie nicht bestimmten Regeln der Entscheidungsfindung folgen, immer zur Dummheit neigen, und dass sie umgekehrt gar nicht in der Lage sind, als Kollektiv im Nachhinein die Handlung als Dummheit zu erkennen. Dann wäre es allerdings dumm, sich solchen Gruppen anzuschließen, denn innerhalb dieser Gruppen wird es immer wieder nur zu Dummheiten kommen. Man könnte die Dummheit, sich einem Kollektiv anzuschließen, innerhalb dessen nur Dummheiten produziert werden können, als radikale Dummheit bezeichnen. Der Einzelne gibt in diesem Kollektiv seine Fähigkeit, selbst entsprechend seiner Präferenzen, Wünsche und Ziele zu entscheiden, ab, er verliert darüber hinaus auch die Fähigkeit, wenigstens im Nachhinein über die Dummheit zu reflektieren, sie zu bereuen und Konsequenzen zu ziehen.

Wenn ich weiß, dass innerhalb meiner Freundesgruppe eine vernünftige Einigung über das Ende der Party gar nicht möglich ist, wenn ich darüber hinaus weiß, dass der Druck der Gruppe, kein Spaßverderber zu sein, so groß ist, dass ich mich auch heute Abend nicht gegen das feiern bis zum Morgengrauen wehren kann, wenn ich darüber hinaus weiß, dass ich, wenn ich einmal bei den Freunden angekommen bin, jegliche autonome Handlungsfähigkeit verloren haben werde, dann ist es radikal dumm, immer wieder dieses Kollektiv aufzusuchen, wenn ich doch eigentlich andere Ziele habe.

Es ist Aufgabe der Soziologie und der Psychologie, dem Zustandekommen und den Funktionsprinzipien solcher Gruppendynamiken nachzugehen. Wir wollen hier die Dummheit als Phänomen nur beschreiben, um sie erkennen zu können und vielleicht genauer sagen zu können, was da überhaupt erklärt werden muss. Radikal dumm ist ein Verhalten, bei dem sich der Mensch der Möglichkeit, über seine Dummheit zu reflektieren, sie zu bereuen und möglicherweise in Zukunft klüger zu entscheiden, beraubt. Das zeigt allerdings auch auf, wie man möglicherweise mit kollektiver radikaler Dummheit umgehen und wie man gegen sie angehen kann.

Die kollektive Dummheit, wenn sie radikal geworden ist, wird man nicht bekämpfen können, wenn man das Kollektiv oder den Einzelnen als Teil eines Kollektivs anspricht. Der Satz „Ihr seid dumm“ wirft den Einzelnen, der zu diesem „Ihr“ gehört, immer in das Kollektiv zurück, das nichts anderes sein kann, als dumm. „Du bist nicht dumm“ – das ist die einzige richtige Ansprache. Niemand ist ja nur Teil des dummen Kollektivs, jeder ist auch Subjekt, und als Subjekt, als Einzelner ist im Grunde niemand wirklich prinzipiell dumm. Das hatten wir schon gesehen und deshalb hatten wir uns so lange mit dem Einzelnen uns seinem subjektiven Verständnis der Dummheit beschäftigt.

Wenn Münkler sagt, das Volk sei dumm, dann ist diese Aussage entweder trivial oder falsch. Das Volk als kollektives Wesen kann nur dumm sein, jedenfalls, so lange es sich nicht nach Mechanismen organisiert und strukturiert, die Klugheit hervorbringen. Wenn er jedoch meint, die einzelnen Menschen, die das Volk bilden, seien dumm, dann liegt er ganz falsch. Er weiß einfach zu wenig über die Gründe dieser Einzelnen, so zu handeln, wie sie es tun, über ihre Wünsche und Ziele, die sie Teil des Volks werden lassen. Da er mit der Aussage, das Volk sei dumm, genau das Gegenteil von dem erreicht, was er eigentlich will, muss man vermuten, dass er selbst der Dumme ist.

Wenn man dem Einzelnen helfen will, aus der kollektiven Dummheit herauszukommen und der radikalen Dummheit zu entfliehen, muss man ihn als Einzelnen ansprechen, so wie den Kollegen, den man zur Rede stellt. Man wird dann möglicherweise erkennen, dass das, was der andere sagt, gar nicht alles so dumm ist, wie man aus der Ferne vermutet hatte. Man wird vielleicht sogar das eine oder andere Urteil, was man über ihn und die Gruppe, der er zugehört, hatte, als dummes Vorurteil erkennen. Vielleicht werden wir ja über diese hektische Zeit, in der wir uns von Dummheit umgeben wähnen, mal sagen, dass wir alle dumm gewesen sind. Nachher ist man ja immer klüger.

Jörg Phil Friedrich

Der Philosoph und IT-Unternehmer Jörg Phil Friedrich schreibt und spricht über die Möglichkeiten und Grenzen des digitalen Denkens. Friedrich ist Diplom-Meteorologe und Master of Arts in Philosophie.

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