Für eine gemeinsame europäische Identität.
Die gemeinsame europäische Tradition und Geistesgeschichte muss nicht erst geschaffen werden, sie existiert seit vielen hundert Jahren und ist eng mit der Geschichte der Aufklärung verwoben. Angesichts des Brexits sollten wir weiter an einer gemeinsamen europäischen Identität arbeiten.
Gewiss: Die Facetten kultureller Identität bilden sich erst in der Abgrenzung von dem, was man nicht ist (oder nicht zu sein glaubt) deutlich heraus, darin, wie wir wahrgenommen werden, darin, wie wir uns in Abgrenzung selbst definieren. Aber: Das ist nicht genug und führt gerade in einer solch krisenhaften Zeit wie der unsrigen schnell in eine unkontrollierbare nationalistische Ausschluss-Kaskade. Großbritannien hat sich für das Ausscheiden aus der Europäischen Union entschieden. In Frankreich schießen rechte Kräfte gegen Europa, die Gefahr einer Machtübernahme Le Pens 2017 wird zwar verdrängt, ist aber längst nicht gebannt. Die Katalanen träumen von einer Loslösung von Spanien. Fehlt nur noch, dass zuletzt auch die Bayernpartei aufsteht.
Ach. Dabei gäbe es doch immer noch genügend Gründe, in Europa enger zusammenzurücken. Die wirtschaftlichen und politischen Herausforderungen der Zukunft sind globale, mit China, Indien, Russland und den USA als bedeutende Machtblöcke. Doch Prinzipienreiterei verstellt den weitläufigeren Blick. Angesichts der Herausforderungen einer globalisierten Ökonomie steht ein Europa der Kleinstaaterei, wie es sich derzeit zu formieren droht, auf verlorenem Posten. Innereuropäisch trennt und hemmt der Nationalismus, die Standortkonkurrenz innerhalb der Euro-Zone droht zu einem „Race to the bottom“ zu verkommen. Außereuropäisch beäugen uns langjährige Partner, besonders die USA, zunehmend mit Misstrauen. Immer hohler, abstrakter klingt die Rede von einer „Europäischen Identität“.
Fehlende europäische Identität? Ahistorischer Populismus!
Kein Wunder, sagen nun die alten Reaktionäre, die Europa noch nie getraut haben. Und sich progressiv gerierende Linke, ebenso wie Kräfte, die sich als liberal verstehen, stimmen mit ein: kein Wunder, der europäischen Identität fehle das gemeinsame Narrativ, Erfahrungen, auf denen sie aufbauen könne. Nur die natürlich gewachsene nationale Identität sei tragfähig. Das ist ahistorischer Populismus, der sich nur den Anschein gesunden Menschenverstandes gibt. Das Nationalbewusstsein in Europa geht im Großen und Ganzen auf die Napoleonischen Kriege zurück und definierte sich entweder mit oder gegen Napoleon. Es ist damit gerade einmal knapp 200 Jahre alt.
Dagegen setzen sich die Alltagserfahrungen zahlreicher nicht nur jüngerer Menschen in den letzten 70 Jahren mehr und mehr über nationale Grenzen hinweg. Man wächst etwa in Deutschland auf, studiert in England, verliebt sich in Frankreich und arbeitet vielleicht später in einem der skandinavischen Länder. Identität ist wandelbar. Innerhalb einer Generation ersetzte die Pflege der deutsch-französischen Freundschaft die Rede vom „Erbfeind“. Und zwei wahllos herausgegriffene Deutsche und Griechen können leicht mehr gemeinsam haben als ein ebenso wahllos herausgegriffener Bayer mit einem Ostfriesen. Entsprechend stimmte auch der überwiegende Teil der britischen Jugend, dem eigenen Verständnis nach, nicht für einen Ausstieg aus der Europäischen Union. Das Projekt Europa ist gerade den Jüngeren durchaus ans Herz gewachsen.
Europa, das ist eine Idee, eine Haltung, ein Denken
Auch eine gemeinsame europäische Tradition und Geistesgeschichte muss nicht erst geschaffen werden, sie existiert seit vielen hundert Jahren und ist eng mit der Geschichte der Aufklärung verwoben. In den 1820er-Jahren zogen demokratisch gesinnte Europäer aus, um für die Griechische Republik zu kämpfen, unter ihnen der noch heute in Griechenland ebenso wie in England verehrte Lord Byron. Im Spanischen Bürgerkrieg 1936-1939 kämpften Deutsche, Franzosen, Italiener, Briten, Spanier und andere gemeinsam und leider ohne Erfolg für die Freiheit in Europa. Und auch Geistesgrößen, die wir heute gewohnt sind als Aushängeschilder der Nationalkultur zu begreifen, definierten sich selbst gern als Europäer. Mann, Goethe, sogar Friedrich Nietzsche. Übrigens interessierte es die wenig, ob der Stammbaum zeitgenössischer Bewohner Griechenlands sich bis Sokrates zurückverfolgen lässt. Europa, das ist eine Idee, eine Haltung, ein Denken – das bis heute unzählige Kriege (und auch Verschuldung und Schuldenschnitte) überlebte.
Doch bis in die Antike zurückgehen muss man gar nicht, um festzustellen, wie sehr die gemeinsame europäische Erfahrung noch dort, wo man sie gar nicht vermutet, Identität zu stiften vermag. In der DDR der Siebziger- und Achtzigerjahre zum Beispiel bewegten nicht nur die Blues-Messen die Jugend, sondern ebenso britische Rockmusik und französischer Existenzialismus. Heutige Jugendkultur ist erst recht international. Gefragte Musiker und Bands kommen aus Spanien ebenso wie vom Balkan. Und bei alledem ist keine gewaltsame Zerstörung gewachsener Identitäten zu konstatieren, wie es als Schreckgespenst an die Wand gemalt wird, sondern eine Vermischung und Überlagerung von Identitätskonzepten innerhalb einer gemeinsamen europäischen Erfahrung. Europäische Identität beinhaltet vor allem eines: kulturelle Vielfalt.
Demokratie, individuelle Freiheit und Parlamentarismus sind bedeutende gemeinsame Werte, die sich in einem anhaltenden Prozess der Europäisierung herauskristallisiert haben. Gestützt wurde diese Entwicklung noch vom technologischen Fortschritt, von der Eisenbahn bis zum Internet, der das europäische Zusammenwachsen begünstigte. Es handelt sich um das Beste der aufklärerischen europäischen Tradition. Der wiedererstarkende Nationalismus ist dagegen rückwärtsgewandt. Warum aber fällt es dann so schwer, Unterstützung für eine gemeinsame europäische Politik, die eine gemeinsame Finanz- und Sozialpolitik einschließen sollte, zu mobilisieren? Wie kann es sein, dass Linke, Rechte und mancher Liberale geeint gegen ein weiteres europäisches Zusammenwachsen streiten?
Europäische Demokratie vs. kompromisslose Technokratie
Ganz einfach: Die EU macht es den Bürgern schwer, sie als etwas Positives zu empfinden. Die derzeitige Verfasstheit der EU steht der europäischen Erfahrung ignorant bis feindlich entgegen. Die EU tritt in der Wahrnehmung ihren Bürgern als undemokratische Struktur gegenüber, in der die Kommission als deutlich mächtiger wahrgenommen wird als das Europaparlament. Kuriose bis nervige Verordnungen, allen voran das Verbot der klassischen Glühbirne, überlagern die großen Erfolge der europäischen Integration seit 1945. Die gewachsene europäische Kultur, das gelebte Europa, das für so viele Menschen Alltag ist, findet keinen politischen Ausdruck.
Indes: Die Chancen, die ein vereintes Europa mit sich bringt, sind so enorm, dass sie weder von Nationalismus noch von einer nur im administrativen Sinne europäischen Technokratie torpediert werden dürfen. Das gilt für die auch in ruhigeren Zeiten immer wieder augenfälligen Demokratiedefizite ebenso wie für eine Krisenpolitik, die über die Köpfe der betroffenen Bevölkerung hinweg gemacht wird. Und zwar in allen europäischen Staaten.
Ich habe keine Paradelösung für die EU anzubieten. Aber ich weiß, dass allen Widrigkeiten zum trotz Kompromisslosigkeit, Unnachgiebigkeit, eiserne Kanzlerinnen und Hass auf Menschen, die einfach nur ihr Leben in jener Freiheit leben wollen, die ihnen Europa einmal versprach, nicht die Antwort sein können. Wir müssen gut aufpassen, dass ein Beharren auf der vorgeblich reinen Wahrheit und der einen technisch richtigen Lösung, welche auch immer das sein mag, nicht das demokratische, freie, gelebte Europa unwiederbringlich zerreißt, für das es sich noch immer einzustehen lohnt. Als Europäer.
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