Was von der Entfernung noch bleibt

Entfernung ist relativ. Gerade die Begegnung mit Überlebenden der Shoa in Israel lässt das immer wieder voller Schmerz deutlich werden.


Als ich in Israel ankam, war August. Beim Verlassen des Flugzeugs und dem Betreten der Rollbahn erschlug mich die feuchte, heiße Luft, die sich dennoch vertraut anfühlte. Tel Aviv, endlich! Und selbst im kühleren Jerusalem standen die heißesten Tage des Jahres gerade noch bevor.

Es war einfach unwirklich, angekommen zu sein. Die Palmen, die Sonne, das Wissen, im einzigen Land zu sein, in dem jüdisches Leben Raum hat. Die Zweifel, die an mir genagt hatten und die mich weder beim Abschied von meinen Freund*innen in Berlin noch früh morgens auf der Fahrt zum Flughafen in Ruhe gelassen hatten, wichen einem unfassbaren Glück, dem leichten Bauchkribbeln und endlich konnte ich wieder frei atmen.

Manchmal ist es absurd, was Entfernung mit uns macht. Wie sie uns einnimmt, unser Denken beeinflusst und uns zu anderen Menschen werden lässt. In Israel anzukommen wurde zu meinem ganz persönlichen Hafen, zu meinem Schutzschild vor dem, was ich hinter mir gelassen hatte. Change of place, change of luck, dachte ich und musste lächeln, während ich durch die Straßen Jerusalems lief.

4509 Kilometer.

Genau 4509 Kilometer liegen zwischen meiner Haustür in Berlin und meiner Haustür in Jerusalem. Ich weiß noch, wie ich an einem der ersten Tage vor Google Maps saß und die Entfernung ausrechnen ließ. An Deutschland zu denken fiel mir vom ersten Tag an schwer, denn nichts in meinem neuen Umfeld hatte auch nur ansatzweise etwas mit dem Leben zu tun, das ich in Deutschland zurückgelassen hatte.

Aber Entfernung ist eben doch relativ und trügt. Nach vier Wochen, die ich mittlerweile als Sozialarbeiterin in einem Pflegeheim für Überlebende der Shoa arbeitete, trifft sie mich mit voller Wucht, von den 4509 Kilometern ist nichts mehr zu spüren. Ich treffe eine Frau, mit der ich auf Deutsch ins Gespräch komme, wir setzen uns zusammen in den Garten und sie beginnt zu erzählen.

Es blieben nur die Erinnerungsorte

Es sind Geschichten voller Leid, doch auf das Leid folgt die Hoffnung. Es geht um Tod und Verlust, doch ihre Augen drücken Leben aus. Leben, Überleben, Weiterleben. Sie wirkt entspannt, ich verkrampfe mich. Die Frau, die mir an diesem Gartentisch in Jerusalem gegenüber sitzt, stammt aus einem Ort, der keine halbe Stunde von meiner Heimatstadt ist.

Die Mutter Jüdin, der Vater Sozialdemokrat, zu wenig Geld für die rechtzeitige Ausreise nach Palästina. Familienmitglieder verschwinden, werden ermordet, die Familie beschließt, nach Hamburg zu gehen und sich dort zu verstecken. Sie bekommen eine kleine Wohnung am Grindelmarkt, mit Blick auf die große Synagoge. Wir sitzen in der Mittagssonne und sie erzählt von der Straße, in der sie lebte, und freut sich jedes Mal, wenn ich ihr zu verstehen gebe, dass ich all diese Orte kenne.

Nur die Synagoge, die kenne ich nicht. Alles, was von ihr geblieben ist, ist ein Erinnerungsort, eine Tafel, die an die Pogrome erinnert und der ermordeten Jüdinnen und Juden vom Grindelmarkt gedenkt. Ich bin hier oft langgelaufen, auf dem Weg zu Konzerten und Lesungen, ein unbeschwerter Ort für mich.

Leben, Überleben, Weiterleben

Jeder Tag und jede Begegnung in diesem Pflegeheim hält besondere Momente bereit: Momente des Glücks und des Leids, der Wut und der Vertrautheit, der Überwältigung und manchmal auch des Verstehens. Die Menschen, die hier ihren Lebensabend verbringen, haben Unfassbares geleistet und überstanden, sie könnten ganze Bücher über ihr Leben, das Überleben und Weiterleben nach der Shoa schreiben und ich versuche, jede noch so kleine Anekdote aufzusaugen und abzuspeichern.

Ja, ich höre Geschichten wie die der Frau aus meinem Nachbarort jeden Tag. Doch fühlt es sich anders an, wenn eine so bemerkenswerte Frau vor mir sitzt und aus ihrer Jugend erzählt und ich meine eigene Jugend doch am gleichen Ort verbracht habe – denn die einzige Entfernung, die uns noch trennt, ist die Zeit.

Entfernung bleibt nur eine Zahl

Was ich sagen will? Entfernung ist relativ. Wir können keine Entfernung zwischen uns und das Geschehene bringen, diese 4509 Kilometer mögen in dem Moment existieren, in dem die Zahl bei Google Maps aufblinkt, doch sind sie in dem Moment nichtig, in dem mir jemand vom Verschwinden und Ermorden der Jüdinnen und Juden in meiner Heimat erzählt oder den Shabbat in der Synagoge beschreibt, von der ich nur noch einen kleinen Erinnerungsort kenne.

Und eben diese Entfernung, die jene Frau durch ihre Alijah nach Israel zwischen sich und Deutschland gebracht hat, um ihren Lebensabend in Frieden verbringen zu können, wird für mich – als Deutsche – immer wieder zur drückenden Nähe. Zu einer Nähe, die mich völlig einnimmt, die sich über mich legt und mir zeigt, dass Zahlen und Kilometerangaben in Momenten dieser Begegnungen völlig absurd sind.

Von der Entfernung mögen vielleicht Palmen und Sonnenschein bleiben, es mag der Moment bleiben, in dem man zum ersten Mal auf Hebräisch einen Kaffee bestellt, doch Wunden schließen kann Distanz und Zeit nicht.

Weder 4509 Kilometer noch 70 Jahre.

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