Zur Solidität der Prognosen über Russlands Zukunft. Eine historische Betrachtung

Russland gehört zu denjenigen europäischen Ländern, die in der Vergangenheit besonders viele politische Umbrüche erlebten. Wurden diese Entwicklungen von den Russlandkennern vorausgesagt oder stellten sie für die Mehrheit der Beobachter eher eine Überraschung dar?


Das System der „gelenkten Demokratie“, das sich in Russland nach dem Machtantritt Wladimir Putins etablierte, kann bereits auf eine 16-jährige Entwicklung zurückblicken. Es existiert also doppelt so lange wie die im August 1991 entstandene „zweite“ russische Demokratie und gilt im Allgemeinen als recht stabil. Die Popularität Putins erreichte in Russland, vor allem nach der Annexion der Krim im März 2014, eine schwindelerregende Höhe. Von einer solchen Unterstützung, die der russische Staatspräsident zurzeit genießt, kann die Mehrheit der westlichen Politiker nur träumen. Dennoch sollte diese „byzantinische“ Fassade der heutigen russischen Realität nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich bei Russland um ein Land handelt, das wiederholt zur Bühne von jähen politischen Wendungen und grundlegenden Veränderungen der jeweiligen Kräfteverhältnisse wurde. So erlebte Russland im Verlaufe des letzten Jahrhunderts vier Revolutionen – so viele wie kein anderes größeres europäisches Land (1905, Februar 1917, Oktober 1917, August 1991) – und zwei Zusammenbrüche seiner Staatlichkeit wie auch der Staatsdoktrin, die dem jeweiligen herrschenden System zugrunde lag. 1917 brachen kurz nacheinander das zarische Regime und die im Februar/März 1917 errichtete „erste“ russische Demokratie zusammen. 74 Jahre später löste sich das bolschewistische Regime auf, das auf den Trümmern der krisengeschüttelten russischen Demokratie aufgebaut worden war.

Die Brüchigkeit der Zarenmonarchie

Was den Sturz des letzten russischen Zaren im Februar/März 1917 anbetrifft, so stellte er für viele Beobachter wohl keine allzu große Überraschung dar: „100 Jahre hatte die russische Gesellschaft der Zarenmonarchie mit einer Revolution gedroht“, schrieb in diesem Zusammenhang 1927 der russische Schriftsteller Mark Aldanow: „(Nikolaus II.) hat wahrscheinlich deshalb den Vorwarnungen nicht geglaubt, weil es so viele davon gegeben hatte“.

Stellvertretend für viele möchte ich hier nur eine dieser Prognosen anführen. Formuliert wurde sie bereits im Jahre 1811 von einem der schärfsten Kritiker der Französischen Revolution, Joseph Marie de Maistre, der zu Beginn des 19. Jahrhunderts mehrere Jahre als Gesandter des Königs von Sardinien in Russland verbrachte. De Maistre schrieb Folgendes:

Auf das russische Temperament wird die Freiheit wirken wie feuriger Wein auf jemanden, der nicht an ihn gewöhnt ist. Allein das Schauspiel dieser Freiheit wird auch diejenigen berauschen, die noch gar nicht an ihr teilhaben. Wenn in dieser geistig-seelischen Lage irgendein akademischer Pugatschow auftaucht (Jemeljan Pugatschow war der Anführer des wohl größten russischen Bauernaufstandes von 1773-75) … dann wird der Staat aller Wahrscheinlichkeit nach in die Brüche gehen.

Erstaunlicherweise war es ausgerechnet Lenin, den man in gewisser Hinsicht als einen „akademischen Pugatschow“ im Sinne von de Maistre bezeichnen kann, der eine baldige proletarische Revolution in Europa für wenig wahrscheinlich gehalten hatte. In seiner Rede, die er am 22. Januar 1917, also einige Wochen vor dem Ausbruch der russischen Februarrevolution, im Schweizer Exil hielt, meinte er, die Alten (zu denen sich der damals 46 jährige Lenin selbst zählte) würden wahrscheinlich die entscheidenden Schlachten der sich anbahnenden proletarischen Revolution nicht erleben. Er hoffe allerdings, fuhr Lenin fort, dass „die Jugendlichen … das Glück haben werden, nicht nur zu kämpfen, sondern auch zu siegen in der kommenden proletarischen Revolution.“

Diese Überbewertung der Festigkeit der bestehenden russischen und europäischen Ordnung war wohl mit einer Charaktereigenschaft Lenins verbunden, auf die u. a. sein Kampfgefährte Lew Trotzki hinwies. Trotzki schrieb nämlich in seiner Autobiographie, dass Lenin immer wieder dazu neigte, die Stärke seiner politischen Gegner zu überschätzen.
Andere Zeitgenossen Lenins waren sich über die Brüchigkeit des bestehenden europäischen, vor allem aber des russischen Systems wesentlich mehr im Klaren. Zu ihnen zählte u. a. der deutsch-russische Sozialist Alexander Helphand-Parvus, der nach dem Sturz des Zaren die spektakuläre Rückkehr Lenins aus dem Schweizer Exil nach Russland durch deutsches Territorium gemeinsam mit einigen deutschen Behörden mitorganisierte. Bereits im Jahre 1904 (kurz nach dem Ausbruch des russisch-japanischen Krieges) sagte Parvus den baldigen „politischen Umsturz in Russland“ voraus. Ähnliche Voraussagen hatten damals auch andere Autoren getroffen.

Prognosen über die künftige Entwicklung des Sowjetreiches

Der Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums etwa sieben Jahrzehnte später vollzog sich hingegen nach einem ganz anderen Szenario als die Auflösung des Zarenreiches. Er hatte keinen allzu langen Prolog und ereignete sich in der Zeit, in der das sowjetische Weltreich in den Augen der meisten Beobachter als endgültig saturiert, ja, im Grunde als unbezwingbar galt.

In den 1970er Jahren erreichte die Sowjetunion die lang ersehnte militärisch-strategische Parität mit den Vereinigten Staaten und die Bestätigung der Nachkriegsordnung, d. h. der europäischen Spaltung, durch die westlichen Demokratien, und zwar in der KSZE-Schlussakte von Helsinki. Und auch in der Dritten Welt dehnte sich damals der kommunistische Einfluss scheinbar unaufhaltsam aus. Mitte 1975 – nach der amerikanischen Niederlage in Vietnam – bezeichnete Alexander Solschenizyn die weltpolitische Entwicklung seit 1945 als einen Dritten Weltkrieg, der nun mit einer Niederlage des Westens zu Ende gegangen sei: „Noch zwei, drei Jahrzehnte einer solchen glorreichen friedlichen Koexistenz und den Begriff des Westens wird es nicht mehr geben“, so Solschenizyn.

Als der sowjetische Dissident Andrej Amalrik 1969 die These aufstellte, die Sowjetunion werde das Jahr 1984 nicht erleben, galt dies in Ost und West gleichermaßen als unseriös. 1981 schrieb der Moskauer Korrespondent der „Neuen Zürcher Zeitung“ Reinhard Meier Folgendes dazu: „Nach längeren Moskau-Erfahrungen … halte ich die Prognose von einem baldigen Kollaps der Sowjetmacht für verfehlt“.

Das Buchkapitel, in dem diese These aufgestellt wurde, trug den Titel: „Die Sowjetunion wird das Jahr 2000 erleben“.

Auch nach dem Beginn der Gorbatschowschen Perestroika galt das Sowjetimperium bzw. das System des „real existierenden Sozialismus“ in den Staaten des Ostblocks als recht stabil. Einer der prominentesten polnischen Regimekritiker, Jerzy Turowicz, Chefredakteur der hochangesehenen katholischen Zeitschrift „Tygodnik Powszechny“ (Allgemeines Wochenblatt) erklärte Ende 1987: „Wir haben es niemals verhehlt, dass uns der real existierende Sozialismus nicht gefällt. Aber wir haben wiederholt darauf hingewiesen, dass wir nicht danach streben, (ihn) abzuschaffen, denn wir wissen, dass dies unmöglich ist“.

Diese Meinung, war im damaligen Polen – dem größten Unruheherd im gesamten Ostblock – relativ weit verbreitet.

Trotz alledem konnte man in all diesen Jahren auch die Stimmen anderer Analytiker vernehmen, die sich über die Brüchigkeit der Grundlagen, auf denen das Sowjetimperium basierte, durchaus im Klaren waren. Mit besonderem Scharfsinn erkannte dies der russische Exilhistoriker Georgij Fedotow. Ausgerechnet im Jahre 1947, als Stalin es vermochte, die imperialen Positionen Russlands in einem bis dahin ungekannten Ausmaß zu festigen (dafür verziehen viele russische Nationalisten dem Kreml-Diktator sowohl die Kollektivierung der Landwirtschaft als auch den Großen Terror der Jahre 1936-38) – also ausgerechnet in dieser Konstellation – schrieb Fedotow über die Nationalitätenfrage in Russland: Die überwältigende Mehrheit der Russen hasse den Bolschewismus genau so, wie dies die nichtrussischen Völker der Sowjetunion täten. Dieser gemeinsame Hass erzeuge aber kein Gemeinschaftsgefühl innerhalb des Reiches. Alle nationalen Minderheiten verknüpften die Ablehnung des Bolschewismus mit der Ablehnung Russlands. Nicht zuletzt aus diesen Gründen plädiert Fedotow für die Befreiung Russlands von der imperialen Last. Dies werde nicht das Ende Russlands bedeuten:

Großrussland [der russische Kern des Reiches – L.L.], (vielleicht) zusammen mit Weißrussland und mit Sibirien stellt immer noch ein gewaltiges und das bevölkerungsreichste Land Europas dar. Zwar wird Russland die Kohlevorkommen in Donezk und das Erdöl von Baku verlieren – aber Frankreich, Deutschland und viele andere Völker haben gar kein Öl … Das Trauma von dem Verlust der früheren Größe wird dadurch abgemildert, dass kein anderer Rivale Russlands in Europa den von ihm geräumten Platz einnehmen wird. Alle anderen Imperien werden auch verschwinden … Der Verlust des Imperiums stellt eine sittliche Reinigung dar, die Befreiung Russlands von einer schrecklichen Bürde, die sein Antlitz entstellte. Von den militärischen und polizeilichen Sorgen befreit, wird sich Russland seinen inneren Problemen widmen können, vor allem dem Aufbau … einer freien, sozialen und demokratischen Gesellschaftsordnung.

Es ist erstaunlich, wie genau Fedotow im Jahre 1947 die künftige territoriale Gestalt der 1991 entstandenen Russischen Föderation voraussagte. Zwar hat er Weißrussland als Bestandteil des postsowjetischen Russland genannt, diese Aussage wurde von ihm allerdings durch das Wörtchen „vielleicht“ relativiert.

Auch in einem anderen Punkt sollte sich die Prognose Fedotows buchstabengetreu verwirklichen, nämlich als er sagte, dass die Republiken der UdSSR, sich bei ihrem Austritt aus der Sowjetföderation auf den entsprechenden Artikel der Sowjetverfassung berufen würden. Dies ungeachtet der Tatsache, dass dieser Artikel zur Zeit der Entstehung der sowjetischen Verfassungen (1924, 1936, 1977) lediglich ein Lippenbekenntnis darstellte. 1991 sollte aber die Verfassungstheorie zur Verfassungswirklichkeit werden.

Was die Errichtung einer freien, sozialen und demokratischen Gesellschaftsordnung im postsowjetischen Russland anbetrifft, von der in der Prognose Fedotows die Rede war, so war er keineswegs so blauäugig, zu glauben, dass der Aufbau einer solchen Gesellschaft über Nacht gelingen könne: „30 Jahre Kommunismus haben den russischen Menschen verroht und äußerst gefühlskalt gemacht … Für seine Umerziehung, für seine Rückkehr zur völlig verschütteten russischen Kulturtradition und dadurch auch zum Christentum wird man wahrscheinlich mehrere Generationen benötigen. … Statt den ephemeren imperialen Träumen nachzujagen, muss sich die russische Intelligenz bereits hier, im Exil, auf diese große Aufgabe vorbereiten“.

Und noch eine Prognose darf in diesem Zusammenhang nicht fehlen. Sie stammt aus dem Jahre 1974, also aus einer Zeit, in der das Sowjetimperium in den Augen vieler Beobachter, wenn man von einigen Ausnahmen absieht, als endgültig saturiert galt. Ausgerechnet in dieser Periode der scheinbar unerschütterlichen Stabilität des Breschnew-Reiches schreibt der scharfsinnige polnische Exilpublizist Juliusz Mieroszewski Folgendes: In ihrer gesellschaftlichen Entwicklung stelle Sowjetrussland eine „verspätete Nation“, ein archaisches Gebilde dar, das sich von der Moderne abgekoppelt habe. Man könne sich sowohl gegen China als auch gegen die USA erfolgreich wehren, aber nicht gegen den Zeitgeist:

Der Kampf gegen den Zeitgeist, gegen den Fortschritt ist aussichtslos. Die Ablehnung der unentbehrlichen, (grundlegenden) Reformen schwächt auch die stärkste Regierung und führt zu ihrem Untergang.

Und in der Tat, gerade an den von Mieroszewski geschilderten Problemen sollte das Breschnew-Regime letztendlich scheitern. Zusätzlich wurde dieses System durch die Erosion des Glaubens an die kommunistische Ideologie bzw. an den proletarischen Internationalismus gefährdet, die das bestehende System legitimierten und die wichtigste einigende Klammer des Sowjetreiches darstellten. Kaum jemand nahm damals diese Ideale ernst, weder die Herrscher noch die Beherrschten. Man täuschte den Glauben an die kommunistische „lichte Zukunft“ in der Regel nur vor.

Die Konvergenztheorie und die Erosion der kommunistischen „Ideokratie“

In der Erosion des Glaubens an die kommunistische Ideologie, die in der Breschnew-Zeit zu beobachten war, sahen damals viele Beobachter keine Gefahr für die Stabilität des kommunistischen Regimes. Im Gegenteil, einige gingen sogar davon aus, dass der Kommunismus nun infolge der Sachzwänge der Moderne immer technokratischer und pragmatischer werde und damit den modernen westlichen Industriegesellschaften immer ähnlicher. So wurde die sogenannte Konvergenztheorie geboren. Ihre Verfechter ließen jedoch außer Acht, dass es sich bei den kommunistischen Regimen um Ideokratien handelte, deren Herzstück das ausgeklügelte ideologische System darstellte, das ununterbrochen an die neuen Erfordernisse der Zeit angepasst werden musste. Dies hat auch Michail Gorbatschow versucht, als er dem Breschnewschen Immobilismus den Kampf ansagte, und das bestehende System durch die Rückkehr zu seinen leninistischen Ursprüngen erneuern wollte. Es stellte sich aber alsbald heraus, dass eine moderne, pluralistische Gesellschaft mit den leninistischen Prinzipien nicht zu vereinbaren war, denn die Missachtung gegenüber den elementarsten demokratischen Spielregeln gehörte zum Wesen des Leninschen Systems. So hatte z.B. der Begründer des Bolschewismus absolut keine Bedenken, die demokratisch gewählte Verfassunggebende Versammlung mit ihrer nichtbolschewistischen Mehrheit im Januar 1918 gewaltsam auseinanderzujagen. Auch die Anwendung systematischen Terrors gegen die Kräfte, die das Machtmonopol der Bolschewiki in irgendeiner Form infrage stellten, hielt er für durchaus legitim. Aus all diesen Gründen begannen die Verfechter der Modernisierung und Demokratisierung der UdSSR am Denkmal Lenins und damit auch an den legitimatorischen Grundlagen des Systems zu rütteln.

Als Gorbatschow zu Beginn der Perestroika verkündete: „Wir brauchen die Demokratie, wie die Luft zum Atmen“, läutete er damit im Grunde auch das Ende des Bolschewismus ein. Denn das demokratische Prinzip, das die Bolschewiki aus den russischen Staatsstrukturen im Januar 1918 durch die gewaltsame Zerschlagung der Konstituante verbannt hatten, musste zwangsläufig das auf lückenlose Kontrolle programmierte kommunistische System aus den Angeln heben. Als Gorbatschow sich im Februar/März 1990 dazu durchrang, den 6. Artikel der Breschnewschen Verfassung, der die führende Rolle der KPdSU im Lande garantierte, in seiner ursprünglichen Form zu streichen, hat er dem kommunistischen Regime wohl die letzte legitimatorische Grundlage genommen. Und nun wurde für alle sichtbar, dass die kommunistische Ideologie in den Augen der Bevölkerungsmehrheit ähnlich diskreditiert worden war, wie die Zarenidee zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Dessen ungeachtet kontrollierte die allgemein diskreditierte und delegitimierte Partei, genauer gesagt, die Parteioligarchie unangefochten alle Machthebel im Staate, wohingegen die damals im Entstehen begriffenen demokratisch legitimierten Einrichtungen völlig machtlos waren. So fühlten sich die Verfechter der demokratischen Erneuerung den kommunistischen Dogmatikern hoffnungslos unterlegen. Seit Oktober 1917 haben sich die russischen Demokraten an ihr Image der ewigen Verlierer gewöhnt. Dies ungeachtet des Vorgangs, der sich am 12. Juni 1991 abspielte und der wohl zum entscheidenden Datum der Perestroika wurde. An diesem Tag wurde Boris Jelzin – damals die Symbolfigur der russischen Reformer – von etwa 57% der Wähler zum ersten demokratisch legitimierten russischen Staatsoberhaupt gewählt. Die russischen Demokraten besaßen nun einen eindeutigen legitimatorischen Vorsprung gegenüber der Parteibürokratie, die mit ihrem Putschversuch vom 19. August 1991 versuchte, das Rad der Geschichte gewaltsam zurückzudrehen.

Als Boris Jelzin seine Landsleute zur Auflehnung gegen die Putschisten aufrief, tat er dies praktisch mit leeren Händen. Er besaß so gut wie keine Machtmittel und verfügte lediglich über moralische Argumente. In seiner Anordnung Nr. 59 vom 20. August 1991 beschuldigte er die Mitglieder des „Staatskomitees für den Ausnahmezustand“, ein „verfassungswidriges Komplott“ geschmiedet und damit ein „Verbrechen gegen den Staat“ verübt zu haben. Und diese Einschätzung des Staatsstreiches wurde von den Anführern des Putsches im Grunde auch geteilt. Sie fühlten sich nun, anders als ihre Vorgänger von 1917/18, nicht als „Sieger“, sondern als „Verlierer der Geschichte“.

In der Auseinandersetzung zwischen Macht und Moral erwies sich die letztere als überlegener Sieger. Die im Oktober 1917 bezwungenen Demokraten konnten 74 Jahre später einen für sie völlig unerwarteten Triumph feiern.

Wie stabil ist das Putinsche System?

Etwa zwei Jahre später verspielten die siegreichen Demokraten allerdings weitgehend ihr Vertrauenskapital. Nach der Delegitimierung der kommunistischen Ideologie fand in Russland auch eine Erosion des demokratischen Gesellschaftsentwurfs statt. In das nun entstandene weltanschauliche Vakuum stieß das Putinsche System der „gelenkten Demokratie“ mit der Hervorhebung des Law-and-Order-Prinzips und einer bescheidenen Anhebung des Lebensstandards der Bevölkerung dank der vorübergehend hohen Preise für die Energieträger, die allerdings, wie bekannt, in den letzten Jahren dramatisch gesunken sind.
Wie stabil ist das Putinsche System? Dazu nahm kurz nach der Annexion der Krim der im Februar 2015 ermordete Oppositionsführer Boris Nemzow in einem Interview mit der regierungskritischen Moskauer Zeitung „Nowaja gaseta“ Stellung:

Putin hat (durch die Annexion der Krim) einen taktischen Erfolg erzielt“, so Nemzow: „Sein Rating hat nun eine schwindelnde Höhe erreicht. Es herrscht eine allgemeine Hysterie und Euphorie. Strategisch aber hat er alles verloren.

Die Folgen dieses strategischen Fehlers würden gravierend sein, so Nemzow. Russland erwarteten nun der Verlust der Märkte in Europa und in Amerika, wirtschaftliche Erschütterungen und die zunehmende technologische Rückständigkeit. Die im Kreml gehegte Hoffnung, China werde den Verlust der westlichen Märkte kompensieren, hält Nemzow für eine völlige Illusion. China werde seine Monopolstellung dazu ausnutzen, um die Preise für die russischen Energielieferungen massiv nach unten zu drücken.

Die Voraussagen Nemzows vom April 2014 sollten sich innerhalb kürzester Zeit erfüllen. Nicht einmal der im Herbst 2015 erfolgte Syrien-Coup Putins vermochte die prekäre außen- und innenpolitische Lage des Landes wesentlich zu verbessern. Dazu äußerte sich vor kurzem der Moskauer Historiker Andrej Subow, der zu den schärfsten Kritikern der heutigen Politik des Kremls zählt, folgendermaßen: Aufgrund der abenteuerlichen Politik des russischen Staatspräsidenten befinde sich Russland in einem höchst bedauerlichen Zustand. Das Land sei weitgehend isoliert, kaum jemand wolle nun in Russland investieren, es leide unter der Kapitalflucht und der Flucht vieler junger Talente.

In der Tatsache, dass die Kreml-Führung nun die Gründung einer neuen Elitetruppe – der „Nationalgarde“ – plant, mit deren Hilfe sie sich gegen eventuelle innen- und außenpolitische Gefahren wappnen möchte, sieht Subow nicht ein Zeichen der Vitalität, sondern vielmehr der Schwäche des bestehenden Systems.

Leonid Luks

Der Prof. em. für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt wurde 1947 in Sverdlovsk (heute Ekaterinburg) geboren. Er studierte in Jerusalem und München. Von 1989 bis 1995 war er stellvertretender Leiter der Osteuropa-Redaktion der Deutschen Welle und zugleich Privatdozent und apl. Professor an der Universität Köln. Bis 2012 war er Inhaber des Lehrstuhls für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte an der KU Eichstätt-Ingolstadt. Er ist Geschäftsführender Herausgeber der Zeitschrift Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte.

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