Luise F. und die Strafmündigkeit
Die 12-jährige Luise F. aus Freudenberg wurde von zwei 12 und 13 Jahre alten Mädchen getötet. Nun gibt es Forderungen, die Strafmündigkeit auf 12 Jahre zu senken. Eine gute Idee? Eine Kolumne von Heinrich Schmitz.
Bild von Gerd Altmann auf Pixabay
Außer ein paar Perversen wird es wohl niemanden geben, den der Tod von Luise F. kalt gelassen hat. Gerade Eltern möchten sich nicht vorstellen, wie sie sich fühlen würden, wenn ihr Kind getötet wird. Schon der Unfalltod eines Kindes haut die Eltern um und lässt sie umgehend um Jahre altern. Ehen zerbrechen, Depressionen entstehen. Es ist furchtbar. Umso schlimmer noch, wenn der Tod durch andere Menschen herbeigeführt wird. Und noch schlimmer, wenn es sich dabei auch noch um die „beste Freundin“ des Kindes handelt.
Wenig ersatunlich war, dass gleich nach der Meldung des Verschwindens von Luise F. die üblichen Verdächtigen heraufbeschworen wurde. Ist da nicht ein Flüchtlingsheim in der Nähe? Ja, sogar mehrere Flüchtlingsunterkünfte. Aber zum Bedauern vieler Kommentatoren war es halt kein „Messermann“, kein „Merkels Goldstück“ und wie Geflüchtete sich sonst noch beschimpfen lassen müssen. Nein, es war die Art von Mensch, die von allen regelmäßig als harmlos eingestuft wird und die selbst oft genug Opfer von Gewalt wird: Kleine Mädchen.
Die Honigsauger
Aber es kam, wie es kommen musste. Es gibt kein Ereignis aus dem nicht irgendjemand politischen Honig saugen will. So auch hier.
Dass Kinder Straftatbestände erfüllen, ist nichts Außergewöhnliches. Kloppereien auf dem Schulhof gab es zu allen Zeiten an allen Orten und mit welchem Ergebnis die enden, ist – wie bei allen Körperverletzungen – häufig vom Zufall abhängig. Manchmal reicht schon ein einziger Schlag und ein unglücklicher Sturz auf den Boden, um einen Menschen umzubringen oder ins Wachkoma zu befördern.
Die meisten Straftaten von Kindern sind aber kleine Ladendiebstähle, Vermögensdelikte und Schwarzfahren, aber eben auch Körperverletzungen unterschiedlichen Ausmaßes bis hin zum Tod. Kinder begehen ca. 4 -5 % der gesamten Straftaten. Allerdings werden sie eher selten zu Mörden oder Totschlägern. Von den 83,2 Millionen Menschen, die Anfang 2021 in Deutschland lebten, waren 10,7 Millionen Kinder im Alter bis einschließlich 13 Jahre. In Deutschland wurden laut der Polizeilichen Kriminalstatistik im Jahr 2021 insgesamt 68.725 Kinder unter 14 Jahren als Tatverdächtige für Straftaten registriert. Bei den allermeisten davon handelt es sich aber keineswegs um Gewalttaten: So gab es 14.493 Tatverdächtige im Zusammenhang mit einem Körperverletzungsdelikt. Davon sind 3613 der gefährlichen und schweren Körperverletzung zugeordnet und nur in zwölf Fällen ging es um Körperverletzung mit Todesfolge.
Bereits 2016 forderten die Landesvorsitzenden der AfD ebenso wie erwartungsgemäß Rainer Wendts Deutsche Polizeigewerkschaft die Absenkung des Strafmündigkeitsalters auf 12 Jahre. Und nun kriechen sie mit diesem alten Hut wieder aus den Löchern.
Im AfD-Programm heißt es:
Auf volljährige Täter ist das Erwachsenenstrafrecht anzuwenden, das Strafmündigkeitsalter auf zwölf Jahre zu senken. Wir sind dafür, das Anordnen der Untersuchungshaft schon dann möglich zu machen, wenn der dringende Tatverdacht eines Verbrechens im Sinne des § 12 Abs. 1 StGB besteht.
Das wäre dann wieder so wie zur Zeit des Nationalsozialismus, wo das Strafmündigkeitsalter von 14 auf 12 abgesenkt wurde. Aber das ist bestimmt nur eine unglückliche und völlig zufällige Übereinstimmung, oder meinen die vielleicht, bei Adolf sei „nicht alles schlecht“ gewesen?
Mit 12 schon reif?
Von manchen wird die Forderung nach einer Absenkung des Strafmündigkeitsalters damit begründet, dass heute die Pubertät früher einsetzt als noch vor 70 Jahren. Das ist zwar so, aber ob die Geschlechtsreife mit der strafrechtlichen Reife unmittelbar korrespondiert, wage ich doch stark zu bezweifeln. Nicht jeder, der Geschlechtsverkehr haben kann, kann deshalb auch denken oder Verantwortung übernehmen. Der Volksmund meint ja sogar, dass derjenige, der das eine besonders gut kann, beim anderen schwächelt.
Seltsamerweise ist es teilweise das gleiche politische Milieu, dass auf der einen Seite meint, 12-jährige müssten als strafmündig behandelt und damit auch womöglich ins Gefängnis gesteckt werden, auf der anderen Seite aber vehement behauptet, die 12-Jährigen seien doch noch viel zu zarte Seelen, um im Aufklärungsunterricht davon zu hören, dass es neben der Heterosexualität auch noch andere sexuelle Orientierungen gibt; die fürchten, durch Sexualkundeunterricht könne es zu einer sexuellen Desorientierung – was auch immer das sein mag – kommen. Es kommt jedoch bisher auch niemand auf die Idee, das Schutzalter für sexuelle Handlungen auf 12 Jahre abzusenken. Wie dem auch sei, das ist nicht das Thema dieser Kolumne.
Unerträglich
Die Befürworter des Strafrechts für 12-jährige argumentieren meistens damit, es sei „unerträglich“, dass 12 oder 13 Jahre alte Täter ohne jede Sanktion blieben. Das ist Quatsch.
So meint Herr Wendts lustiger Verein, es gehe bei der Forderung der Herabsetzung der Strafmündigkeit nicht in erster Linie um Vergeltung, sondern um die Schaffung einer Einwirkungsmöglichkeit auf die jugendlichen bzw. kindlichen Straftäter. Nur der Jugendrichter habe die Möglichkeit,
– im Einzelfall sinnvolle Auflagen zu erteilen,
– die Teilnahme an einem Anti-Aggressionstraining anzuordnen,
– Arbeits- oder Sozialstunden zu verhängen,
– dem Kind oder Jugendlichen aufzuerlegen, sich beim Opfer zu entschuldigen,
– sich mit der Tat beispielsweise in Form einer Buchlektüre auseinanderzusetzen und ähnliches.
Das ist aber so was von falsch, dass man es nicht ernst nehmen kann. Es gibt sehr wohl ganz erhebliche Sanktionen außerhalb des Strafrechts für Kinder. Aber woher soll Mister Law-and-Order Wendt das wissen?
Bei ernsthafteren oder wiederholten Straftaten von Kindern wird das Jugendamt von der Staatsanwaltschaft eingeschaltet. Das nimmt dann Kontakt zu den Eltern oder Erziehungsberechtigten auf. Und dann wird erst einmal gründlich geschaut, was die Ursachen des Fehlverhaltens waren und welche Maßnahmen erforderlich sind, um zukünftige Straftaten möglichst zu verhindern. Dazu können auch kinderpsychologische oder psychiatrische Gutachten erforderlich sein. Wird dabei festgestellt, dass die Entwicklung des Kindes so ungünstig ist, dass das Kindeswohl gefährdet ist – und das ist es immer, wenn die Gefahr droht, dass das Kind dauerhaft auf die schiefe Bahn gerät und bei einem Tötungsdelikt sowieso –, dann wird gegengesteuert. Das Jugendamt bietet den Eltern entsprechende Hilfen und Unterstützung an.
Kinder- und Jugendhilfe
Die Möglichkeiten des Jugendamtes sind im Kinder- und JugendhilfeGesetz, dem 8. Buch des Sozialgesetzbuches, (KJHG) geregelt.
Die Paragraphen 27 bis 35 KJHG führen die unterschiedlichsten Instrumente auf. Das geht von der häufig bereits ausreichenden reinen Erziehungsberatung der Eltern über soziale Gruppenarbeit bis hin zu Erziehungsbeistandschaft oder sozialpädagogischer Familienhilfe. Da kommt dann jemand regelmäßig in die Familie und arbeitet mit Kind und Eltern.
Wenn diese ambulanten Maßnahmen innerhalb der Familie nicht ausreichen, besteht die Möglichkeit der Erziehung in einer Tagesgruppe, der Vollzeitpflege in einer Pflegefamilie oder auch einer Heimunterbringung. Es gibt für besonders schwere Fälle, wenn auch leider viel zu wenige, geschlossene Heime. Darüber hinaus gibt es noch die intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung.
Diese Hilfsangebote kommen zunächst einmal auf der Schiene der Freiwilligkeit daher. Das ist allerdings nur eine freundliche Täuschung. Wenn die Eltern diese Hilfen nämlich nicht „freiwillig“ anzunehmen bereit sind, dann ruft das Jugendamt – nach dem Motto des Erlkönigs „Und bist Du nicht willig , so brauch‘ ich Gewalt“ – das Familiengericht an.
Das kann und muss dann die notwendigen Maßnahmen ergreifen und auch durchsetzen.
Die rechtliche Basis dieser Maßnahmen ist dann aber eben nicht das Strafrecht, sondern das Zivilrecht. In § 1666 BGB heißt es:
§ 1666 Gerichtliche Maßnahmen bei Gefährdung des Kindeswohls
(1) Wird das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes oder sein Vermögen gefährdet und sind die Eltern nicht gewillt oder nicht in der Lage, die Gefahr abzuwenden, so hat das Familiengericht die Maßnahmen zu treffen, die zur Abwendung der Gefahr erforderlich sind.
(2) In der Regel ist anzunehmen, dass das Vermögen des Kindes gefährdet ist, wenn der Inhaber der Vermögenssorge seine Unterhaltspflicht gegenüber dem Kind oder seine mit der Vermögenssorge verbundenen Pflichten verletzt oder Anordnungen des Gerichts, die sich auf die Vermögenssorge beziehen, nicht befolgt.
(3) Zu den gerichtlichen Maßnahmen nach Absatz 1 gehören insbesondere1.
Gebote, öffentliche Hilfen wie zum Beispiel Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe und der Gesundheitsfürsorge in Anspruch zu nehmen,
2.
Gebote, für die Einhaltung der Schulpflicht zu sorgen,
3.
Verbote, vorübergehend oder auf unbestimmte Zeit die Familienwohnung oder eine andere Wohnung zu nutzen, sich in einem bestimmten Umkreis der Wohnung aufzuhalten oder zu bestimmende andere Orte aufzusuchen, an denen sich das Kind regelmäßig aufhält,
4.
Verbote, Verbindung zum Kind aufzunehmen oder ein Zusammentreffen mit dem Kind herbeizuführen,
5.
die Ersetzung von Erklärungen des Inhabers der elterlichen Sorge,
6.
die teilweise oder vollständige Entziehung der elterlichen Sorge.(4) In Angelegenheiten der Personensorge kann das Gericht auch Maßnahmen mit Wirkung gegen einen Dritten treffen.
Wie Sie sehen, sind die Möglichkeiten des Familiengerichts schon ganz schön heftig und reichen letztlich bis zum völligen Entzug der elterlichen Sorge. Das Kind kann aus der Familie herausgenommen und fremderzogen werden. Das geht deutlich weiter als alles, was ein Jugendrichter im Strafverfahren so an Strafe verhängen könnte. Dass auch das keine Gewähr dafür ist, dass das Kind auf einen guten Weg gerät, braucht man dabei nicht zu verschweigen, dass das aber anders wäre, wenn der Jugendrichter mit seinen JGG-Mitteln, also
§ 5 Die Folgen der Jugendstraftat
(1) Aus Anlaß der Straftat eines Jugendlichen können Erziehungsmaßregeln angeordnet werden.
(2) Die Straftat eines Jugendlichen wird mit Zuchtmitteln oder mit Jugendstrafe geahndet, wenn Erziehungsmaßregeln nicht ausreichen.
(3) Von Zuchtmitteln und Jugendstrafe wird abgesehen, wenn die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus oder einer Entziehungsanstalt die Ahndung durch den Richter entbehrlich macht.
auf eine Straftat reagiert, kann man auch nicht behaupten.
Keine Welt ohne Kriminalität
Wir werden so oder so keine Welt, und auch kein Deutschland, ohne Kriminalität schaffen können. Das gab es noch nie, und das wird es auch nicht geben. Das hat nicht einmal in einer völkisch geprägten Diktatur funktioniert, das brauchen wir also gar nicht noch einmal zu versuchen. Und mit populistischem Gezeter und übertriebener Härte hat noch niemand etwas Gutes erreicht.
Schon Walther von der Vogelweide wusste
Niemand kann erreichen
Kindeszucht mit Streichen.
Ein Kind, das eine Straftat begangen hat, bleibt doch ein Kind und muss als solches behandelt werden und nicht mit den Mitteln des Strafrechts, die bei Erwachsenen schon nicht wirklich erfolgreich wirken. Es kann nicht darum gehen, hart zu strafen, sondern mit Vernunft und Liebe zu erziehen. Wenn die Eltern das auch mit den angebotenen Hilfen nicht hinbekommen, warum sollen dann die Kinder dafür bestraft werden?
Monster wegsperren
Wer Kinder, wie ich das in mehreren Facebookkommentaren las, „für immer wegsperren“ will, weil das „Monster“ seien, der mag wohl im mitleidenden Schmerz vorübergehend sein Hirn abgeschaltet haben. Es sind immer Menschen, die aus den unterschiedlichsten Gründen töten. Uns die bleiben auch Menschen, wenn sie so etwas getan haben. Das gilt schon für jeden erwachsenen Mörder. Wie viel mehr muss das für Kinder gelten? Was hier gefordert wird, ist die übliche, dümmliche Härte, die schon bei Erwachsenen versagt, wenn es um Resozialisierung geht. Kinder müssen, wenn sie solche Taten begehen, wie auch viele Erwachsene, überhaupt erst einmal sozialisiert werden. Vielleicht geht es manch einem aber auch nur um ein archaisches Rachegelüst. Das ist aber nicht Bestandteil unseres Rechtssystems. Und wenn ich das dann auch noch von Menschen lese, die sich selbst als Christen darstellen, dann rufe ich ihnen zu:
Roemer 12:19
Rächet euch selber nicht, meine Liebsten, sondern gebet Raum dem Zorn Gottes; denn es steht geschrieben: „Die Rache ist mein; ich will vergelten, spricht der HERR.“
Ganz ohne Sanktion bleiben übrigens auch die über 7-jährigen Kinder ansonsten nicht. Sie können von den Opfern oder deren Erben zivilrechtlich auf Schadensersatz in Anspruch genommen werden, wenn sie die zur „Erkenntnis der Verantwortlichkeit erforderliche Einsicht“ hatten. Von einem 12 oder 13 Jahre alten Kind kann man in aller Regel erwarten, dass das der Fall ist. Je nachdem, ob und falls ja, welche Folgeschäden das Opfer erleidet, kann das finanziell eine ganz schöne Hypothek für das spätere Leben werden.
Für eine Absenkung des Strafmündigkeitsalters auf 12 Jahre sehe ich keinen vernünftigen Grund. Das wäre nur das alte Hardlinerspiel, etwas am Gesetz zu schrauben, weil man keine Lust hat, etwas an den Ursachen zu ändern. Unsere Kinder haben Besseres verdient als diesen Blödsinn.
Ich kann verstehen, dass viele Menschen im konkreten Fall ein Informationsbedürfnis haben. Man will einfach wissen, was da geschehen ist und wie es dazu kommen sollte. Dennoch ist es richtig, dass die Staatsanwaltschaft hier weitere Informationen verweigert. Das ist zum Schutz der Kinder so geregelt. Und wenn ich dann auf Facebook lese:
Wäre es meine Tochter die sie getötet hätten die dürften ihr ganzes Leben nicht mehr auf die Straße kommen dass ich sie sehen würde (Rechtschreibung und Zeichnesetzung original belassen)
dann bin ich ganz froh, dass die beiden Mädchen jetzt geschützt werden.