Tod eines 16-jährigen Senegalesen

Ein Polizist erschießt mit einer MP einen 16-jährigen. Wie kann so etwas passieren? Und welche Konsequenzen kann das haben? Eine Kolumne von Heinrich Schmitz


Bild von Ingo Kramarek auf Pixabay

Unmittelbar nach den ersten Meldungen erfolgten die erwarteten, reflexartigen Kommentare. Während auf der einen Seite gegen Polizeigewalt und polizeilichen Rassismus gewütet wurde, wurde auf der anderen Seite ebenso reflexartig von Notwehr gesprochen oder gar bejubelt, dass die Polizei einen Flüchtling erschossen hat und man sich mehr solcher Ereignisse wünscht. Asoziale Medien halt.

Was bisher bekannt ist: Die Betreuer des 16-jährigen Senegalesen, der in einer katholischen Jugendwohngruppe lebte und noch ein paar Tage vorher auf eigenen Wunsch in der Psychiatrie war, hatten die Polizei gerufen. Der Jugendliche lief mit einem Messer durch den Innenhof der Einrichtung. Es gab den Verdacht eines beabsichtigten Suizids. Die Polizei kam mit 11 Beamten. Es wurde versucht, den Jugendlichen mit Pfefferspray abzulenken, es wurde ein Taser eingesetzt und dann fielen sechs Schüsse aus einer MP eines Beamten. Der fünfmal getroffene Jugendlich kam ins Krankenhaus und starb dort. Viel mehr weiß die Öffentlichkeit nicht.

Ob nun der Schütze zur Abgabe der Schüsse berechtigt war, wird davon abhängen, ob er in Notwehr oder auch in Nothilfe gehandelt hat oder eben nicht. Jetzt muss erst einmal die Staatsanwaltschaft ermitteln.

Was ist das eigentlich, Notwehr?

Systematisch betrachtet, ist Notwehr ein Rechtfertigungsgrund, d.h. wer in einer Notwehrsituation eine Straftat begeht, macht sich nicht strafbar, weil seine Tat gerechtfertigt ist. Im Gesetz steht das so:

§ 32 StGB Notwehr

Wer eine Tat begeht, die durch Notwehr geboten ist, handelt nicht rechtswidrig.

Notwehr ist die Verteidigung, die erforderlich ist, um einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff von sich oder einem anderen abzuwenden.

Das klingt ja erst einmal ganz einfach und nachvollziehbar, ist es aber leider nicht.

Schon die alten Römer kannten den Grundsatz „vim vi repellere licet” , also Gewalt darf mit Gewalt abgewehrt werden. Das ist nichts Neues. Heute sagt man dazu auch gerne, das Recht braucht dem Unrecht nicht zu weichen. Wer angegriffen wird, darf grundsätzlich zurückschlagen. Niemand muss vor einem Angriff fliehen.

Im Grundsatz ja. Aber eben nicht immer.

War es Notwehr in Dortmund?

Basis einer rechtfertigenden Notwehr ist zunächst einmal eine Notwehrlage in Form eines gegenwärtigen und rechtswidrigen Angriffs. Das wird man hier annehmen können, wenn der Jugendliche sich mit dem Messer in aggressiver Weise auf die Polizeibeamten zubewegte. Das reicht erst mal. Der Polizist muss nicht warten, bis er verletzt worden ist. Da könnte man allenfalls noch darüber spekulieren, ob die angegriffenen Beamten die Situation nicht auch selbst mit herbeigeführt haben, indem sie Pfefferspray einsetzten, was bei manchen Menschen eher zu Wut und Verwirrung als zur Ablenkung führt.

Zur Sicherung der öffentlichen Sicherheit, also zum Schutz von Passanten, war das wohl nicht nötig. Aber sei’s drum. Es war zumindest den Versuch wert, um zu versuchen, den Jugendlichen zum Fallenlassen des Messers zu bewegen. Dass es nicht geklappt hat, ist Pech.

Also alles gut? Wenn’s mal so einfach wäre.

Das Notwehrrecht erlaubt nämlich nur die „erforderliche“ Abwehrhandlung, also nicht jede.

Der BGH hat das einmal so ausgedrückt:

Erforderlich ist diejenige Verteidigungshandlung, die geeignet ist, den Angriff sofort sicher und endgültig zu beenden und dabei das relativ mildeste der in Betracht kommenden Verteidigungsmittel ist.“ _(BGHSt. 3, 217)_

Und ein tödlicher Schuss – und insbesondere eine Garbe mit einer MP – kann nur als Ultima Ratio eingesetzt werden. Den Angegriffenen trifft eine besondere Pflicht. Er kann nicht einfach jedes Mittel einsetzen, sondern muss sich schon auch überlegen, welche Mittel er zur Abwehr des Angriffs einsetzt. Das gilt für den normalen Bürger nicht anders als für einen Polizeibeamten, der darüber hinaus auch noch einen nervlichen Vorteil haben sollte, für derartige Situationen an der Waffe geschult worden zu sein. Die eingesetzten Abwehrmaßnahmen müssen im „gebotenen“ Verhältnis zum Angriff stehen.

Ein bekanntes Beispiel, das jedem einleuchten wird: Sie können nicht einfach den Nachbarjungen mit der Flinte aus ihrem Apfelbaum knallen, nur weil er da ihr Eigentum in Form von ein paar Äpfeln angreift.

Es gibt allerdings Situationen, wo das letzte Mittel auch das einzige sichere Mittel ist. Man kann deshalb nicht grundsätzlich für alle Fälle sagen, dass nicht geschossen werden darf.

Der Unterschied zwischen Nothilfe und Notwehr

Ob eine Abwehrhandlung erforderlich war, ist häufig in Strafverfahren eine schwierige Frage. Es ist letztlich eine Bewertungsfrage, die zuerst die Staatsanwaltschaft und, falls es zu einer Anklage kommt, das Gericht entscheiden muss. Und die Bewertung muss natürlich aus der Sicht des Täters zur Tatzeit getroffen werden. Wir kennen das vom Fußball. Wenn wir uns 100 Mal die Zeitlupe angesehen haben, sind wir immer schlauer als der Schiedsrichter, der in Sekundenbruchteilen pfeifen muss.

Im speziellen Fall des Toten von Dortmund kommen schließlich noch ein paar andere Aspekte hinzu. Ob hier der Angegriffene selbst geschossen oder ein Kollege, konnte ich der bisherigen Berichterstattung nicht entnehmen. Das wäre dann u.U. ein Fall von Nothilfe, es ist aber im Prinzip nichts anderes als Notwehr für einen anderen. Die Voraussetzungen sind dieselben.

Warum der Beamte meinte, er müsse seine MP5  mit Dauerfeuer, und damit relativ unkontrolliert, einsetzen, ist eine interessante Frage. Reichte nicht vielleicht ein Schuss? Warum überhaupt die MP, die eigentlich für Terrorabwehr gedacht ist, im Einsatz war, müsste auch geklärt werden. Das alles wird zu ermitteln sein, bevor man sich ein abschließendes Urteil bilden kann.

Wenn Sie jetzt die Frage stellen, ob man bei einem psychisch auffälligen Jugendlichen nicht hätte anders agieren müssen, wo ich doch oben erst erzählt habe, dass das Recht dem Unrecht nicht weichen müsse, dann haben Sie schon ein weiteres Problem des Notwehrrechts erkannt.

War es ein Notwehrexzess?

Grundsätzlich hat man im Rahmen der Notwehr das Recht zur Trutzwehr. Das klingt jetzt zwar nach alten Rittersleuten, bedeutet aber nur, dass man einen Angriff mit einem Gegenangriff beenden darf. Im Fußball würde man von einem Konter sprechen.

Wo es aber einen Grundsatz gibt, da gibt es immer auch mindestens eine Ausnahme. Und die drängt sich hier geradezu auf. Gegenüber Kindern und anderen offenkundig schuldlos handelnden Menschen, also zum Beispiel Betrunkenen oder psychisch Kranken, ist die Trutzwehr nur selten zulässig. Nämlich nur dann, wenn es gar nicht mehr anders geht. Wenn der dreijährige Amerikaner mit seinem Kindergewehr auf andere Kinder schießt, dann darf man ihn erschießen, wenn man ihn anders nicht stoppen kann. Aber ansonsten muss man eben zur reinen Schutzwehr übergehen. Das bedeutet auf Deutsch, man muss sich dem Angriff auch durch Ausweichen oder sogar Flucht entziehen. Da gilt auch für einen Polizisten nichts anderes und das muss ein Polizist auch wissen.

Vielleicht war es ja auch Stress, Überforderung, schlechte Ausbildung, vielleicht „löste“ die Salve sich auch nur – wie das ja häufiger mal behauptet wird –, vielleicht war es Adrenalin. Ich weiß es nicht und ich werde den Teufel tun, zu spekulieren. Der heilige Spekulatius war noch nie mein Freund. Und vielleicht war es halt auch berechtigte Notwehr. Alles ist möglich. Zum jetzigen Zeitpunkt kann man das nicht seriös beantworten.

Wenn eine Notwehrlage vorlag, kann auch noch ein sogenannter „intensiver Notwehrexzess“ vorgelegen haben. Das ist dann der Fall, wenn jemand bei einer bestehenden Notwehrlage das Maß der Notwehr überschreitet. Da spricht ja nun auch einiges für. Auch dann könnte der Beamte aber straffrei bleiben, wenn er aus Verwirrung, Furcht oder Schrecken handelte. Alles drin. Auch Polizisten sind nicht frei von Verwirrung, Furcht und Schrecken, auch wenn sie gerne mal so tun.

In einer Diskussion ging es um die Frage, ob es sichere Urteile gäbe. Ein kluger Diskutant schrieb Folgendes:

Na ja, wenn einer vor laufender Überwachungskamera bei einem Raub jemanden erschießt und DNA-Spuren hinterlässt, ich weiß nicht, ob man sich dann lange mit Schuldfragen aufhalten muss.“

Meine direkte Antwort lautete:

Doch. Die Kamera zeigt nur das äußere Bild. Zu Fragen des Vorsatzes, der Schuldfähigkeit etc. kann ein Video nur wenig beitragen. DNA-Spuren lassen sich auch bewusst legen, oder verbrennt man seine Tempos immer?“

Keine vorschnellen Urteile

Das ist hier nicht anders. Selbst wenn es hier Videos aus den Bodycams der Beamten geben sollte, zeigt ein Video immer nur das äußere Bild aus der Position des Filmenden. Das wäre ja schon was Feines. Es zeigt aber die Situation nicht aus der Sicht des Schützen und vor allem sieht es nicht in dessen Kopf hinein. Kann aber auch sein, dass hier mal wieder keine Aufzeichnungen der Bodycams vorliegen, warum auch immer. Ob hier überhaupt Bodycams zum Einsatz kamen, weiß ich nicht.

Wir sollten uns immer hüten, ein vorschnelles Urteil zu fällen, egal in welche Richtung.

Und auch wenn ich mich wiederhole, “die Unschuldsvermutung gilt nicht nur für „Schweine“, sondern auch für Polizisten.

Altes Problem bei solchen Fällen ist natürlich, dass zwar die „unabhängige“ Staatsanwaltschaft die Ermittlungen führt, die Ermittlungen vor Ort allerdings von der Polizei geführt werden. Klar, es ermittelt nicht die Dortmunder Polizei, sondern die aus Recklinghausen. Aber gegen die ermittelt umgekehrt die Dortmunder. Und es sind halt alles Polizisten. Dass es einen Korpsgeist gibt, wird jede/r Strafverteidiger/in schon erlebt haben. Da werden junge, gesunde Zeugen plötzlich zu Aussagedementen, die sich an nichts erinnern oder gerade im entscheidenden Moment weggesehen haben. Das ist auch irgendwie nachvollziehbar. Wenn man als Gruppe stets gemeinsam klischeehaft verdächtigt wird, da neigt man dazu, auch als Gruppe zusammenzuhalten. Und auch bei der Staatsanwaltschaft gibt es offenbar immer noch die Neigung, „ihre“ Polizeibeamten schützen zu wollen. Das hat zwar etwas nachgelassen, aber es gibt es noch.

Vielleicht sollte es eine eigene Ermittlungsstelle für Verfahren gegen Polizeibeamte geben, die ansonsten keine Verbindungen zum Polizeiapparat pflegt, also z.B. Sonderermittler. Aber so was gibt es bei uns nicht. Und wem sollten die unterstellt werden?

Im konkreten Fall bringt es nichts, bereits jetzt auf Verdacht gegen unzulässige Polizeigewalt zu demonstrieren, im Netz Hass auf Polizisten zu verbreiten oder denen pauschal Rassismus oder Ausländerfeindlichkeit zu unterstellen. Es wird auch dem Toten nur gerecht, wenn seine Erschießung gründlich aufgearbeitet wird. Auch darauf kann man nicht wetten, wie der Fall Oury Jalloh gezeigt hat, aber man darf darauf hoffen, dass das Innenministerium hier den notwendigen Druck machen wird, nichts unter den Teppich zu kehren. Insoweit halte ich Innenminister Reul durchaus für glaubwürdig. Und ich bin sicher, die viel gescholtene Presse wird hier am Ball bleiben.

Heinrich Schmitz

Heinrich Schmitz ist Rechtsanwalt, Strafverteidiger und Blogger. In seiner Kolumne "Recht klar" erklärt er rechtlich interessante Sachverhalte allgemeinverständlich und unterhaltsam. Außerdem kommentiert er Bücher, TV-Sendungen und alles was ihn interessiert- und das ist so einiges. Nach einer mit seinen Freital/Heidenau-Kolumnen zusammenhängenden Swatting-Attacke gegen ihn und seine Familie hat er im August 2015 eine Kapitulationserklärung abgegeben, die auf bundesweites Medienecho stieß. Seit dem schreibt er keine explizit politische Kolumnen gegen Rechtsextreme mehr. Sein Hauptthema ist das Grundgesetz, die Menschenrechte und deren Gefährdung aus verschiedenen Richtungen.

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