„Wissende Revolutionen“? Die russische Februar- und die deutsche Novemberrevolution im Vergleich

In wenigen Tagen jährt sich die Novemberrevolution zum 100. Mal. Um die Schwierigkeiten dieser Revolution, die sich aus der Last des Wissens von anderen Revolutionen ergaben, geht es in dieser Kolumne.


In seiner Analyse der deutschen Revolution von 1848 hob der Münchner Historiker Thomas Nipperdey hervor, dass diese Revolution von der „Last des Wissens“ gezeichnet gewesen sei – des Wissens über die Französische Revolution von 1789. Sie habe unentwegt über die Erfahrungen dieser Revolution reflektiert und Parallelen zu ihr gezogen. Übrigens Parallelen, so könnte man hinzufügen, die in Bezug auf das Deutschland von 1848 nur begrenzt zutrafen. Lassen sich die russische Februarrevolution von 1917 und die deutsche Novemberrevolution von 1918 ebenfalls als „wissende Revolutionen“ bezeichnen? Als Umwälzungen, die durch die „Last des Wissens“ an frühere Revolutionen geprägt waren, obwohl sie sich in ihrem Charakter grundlegend von diesen Revolutionen unterschieden? Dieser Thematik ist die vorliegende Kolumne gewidmet.

Solschenizyns Fehleinschätzung

Die russische Februarrevolution von 1917, die versucht hatte, das erste demokratische Gemeinwesen auf russischem Boden zu errichten, hat in Russland nur wenige Verteidiger. Alexander Solschenizyn spricht in seinem Buch „Zweihundert Jahre zusammen“, in dem er die russisch-jüdischen Beziehungen analysiert, von einer verhängnisvollen Rolle des wohl mächtigsten Organs der Revolution –  des Exekutivkomitees des Petrograder Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten (ZIK), das angeblich danach strebte, die Revolution in immer radikalere Bahnen zu lenken. Diesen für Russland schädlichen Radikalismus des ZIK erklärt Solschenizyn durch die vorwiegend nichtrussische Zusammensetzung dieses Gremiums, dem die Interessen Russlands angeblich gleichgültig gewesen wären.

Die wahren Sachverhalte werden durch diese Behauptung im Grunde auf den Kopf gestellt. Denn gerade dieses angeblich „unrussische“ ZIK bemühte sich in den ersten Monaten der Februarrevolution unentwegt um die Eindämmung der radikal-revolutionären Strömung, die damals die von Solschenizyn derart verklärten russischen Volksschichten erfasst hatte. Um gemeinsam mit den bürgerlich-liberalen Kräften diese anarchische Woge zu kanalisieren, traten gemäßigte Führer des Sowjets Anfang Mai 1917 sogar in die „bürgerliche“ Provisorische Regierung ein. Sie waren davon überzeugt, dass die sofortige Verwirklichung der sozialistischen Experimente, für die in erster Linie die Bolschewiki plädierten, das Land, das sich noch mitten im Krieg befand, in eine Katastrophe führen werde. Diese Haltung bezeichneten die Bolschewiki als Verrat an den hehren revolutionären Idealen und berührten damit einen wunden Punkt bei den gemäßigten Sozialisten. Denn der bedingungslose Dienst an der Revolution stellte seit Generationen das unantastbare Credo der russischen Intelligenz dar: „Die offene Vertretung einer politisch gemäßigten Haltung erforderte so viel Zivilcourage, wie sie nur wenige besaßen“, schreibt der russische Philosoph Semjon Frank in diesem Zusammenhang.

Auch die gemäßigten Sozialisten des Jahres 1917 stellten insofern keine Ausnahme dar. Ihr „schlechtes revolutionäres Gewissen“ hinderte sie daran, die bolschewistische Partei, die nun die im Februar gewonnene Freiheit vehement bedrohte, konsequent zu bekämpfen. An all diesen Widersprüchen ging dann die „erste“ russische Demokratie zugrunde.

Das Gespenst „Cavaignac“

War dieser Zusammenbruch unvermeidlich? Haben historische Deterministen, nicht zuletzt marxistischer Provenienz, Recht, wenn sie den Sieg der Bolschewiki im Oktober 1917 als den einzig möglichen Ausgang der russischen Krise bezeichnen? Dieses Erklärungsmodell möchte ich zumindest partiell in Frage stellen.

Denn die russischen Demokraten verfügten im Jahre 1917, ungeachtet der Skrupellosigkeit und der demagogischen Virtuosität der Bolschewiki, durchaus über ein politisches Potential, das sie, aus welchen Gründen auch immer, nicht ausreichend nutzten, was letztendlich ihren totalitären Gegnern zugute kam.

So gab es im Lager der gemäßigten Sozialisten durchaus Politiker, die das Wesen der bolschewistischen Gefahr frühzeitig erkannten. Zu ihnen gehörte einer der Führer der Menschewiki, Iraklij Tsereteli, der die Meinung vertrat, dass die größte Gefahr, die die russische Revolution nun bedrohe, nicht von rechts komme, wie die Mehrheit im Sowjet annehme, sondern von links: „Die Konterrevolution kann nur durch ein einziges Tor einfallen, das der Bolschewiki“.

Diese Worte klangen in den Ohren der gemäßigten Sozialisten beinahe blasphemisch. Sie betrachteten die Bolschewiki als einen integralen Bestandteil der „revolutionär-demokratischen“ Front. Demzufolge galt ihnen eine eventuelle Entwaffnung der Bolschewiki als Schwächung des eigenen Lagers, als Verrat an der Sache der Revolution. Einer der Führer des linken Flügels der Menschewiki, Julij Martow, sagte, sollten die Führer des Sowjets Gewalt gegen die Bolschewiki anwenden, würden sie sich in „Prätorianer der Bourgeoisie“ nach dem Vorbild von General Cavaignac verwandeln  (Louis-Eugène Cavaignac war Kriegsminister in der revolutionären Regierung Frankreichs von 1848, der im Juni 1848 einen Aufstand der Pariser Arbeiter blutig unterdrückte). Dies zeigt, dass es sich bei der russischen Februarrevolution von 1917,  ähnlich wie bei der deutschen Revolution von 1848, um eine „wissende Revolution“ handelte, die zu Parallelen neigte, die in Bezug auf das damalige Russland nur begrenzt zutrafen.

Tsereteli setzte sich mit dieser Position Martows und anderer nichtbolschewistischer Linker schonungslos auseinander. In seinen Erinnerungen schrieb er: Die nichtbolschewistische Mehrheit des Sowjets habe keine Macht gewollt, um nicht gezwungen zu sein, gegen die Bolschewiki nicht nur mit Worten, sondern auch mit Taten vorzugehen. Das Gespenst „Cavaignac“ habe die sozialistischen Gegner der Bolschewiki davon abgehalten, den linken Extremismus energischer zu bekämpfen.

Sogar der Versuch der Bolschewiki, während der sogenannten Juli-Ereignisse (3.-5. Juli 1917) die bestehende Ordnung mit Gewalt zu stürzen, führte nicht zu ihrem Ausschluss aus dem Lager der sogenannten „revolutionären Demokratie“. Sie wurden von ihren sozialistischen Gegnern weiterhin als integraler Bestandteil der sozialistischen Solidargemeinschaft angesehen. Nicht zuletzt deshalb lehnten die Vertreter der Sowjetmehrheit ein allzu hartes Vorgehen gegen die Bolschewiki ab. Viele der verhafteten Bolschewiki wurden bereits nach einigen Wochen freigelassen. Trotz ihrer Beteiligung am Putschversuch wurden sie nicht wegen staatsfeindlicher Tätigkeit angeklagt.

Diese Milde des demokratischen Staates gegenüber seinen extremen Gegnern wurde von den Bolschewiki als Schwäche interpretiert. Später sagte Lenin, die Bolschewiki hätten im Juli 1917 eine Reihe von Fehlern gemacht. Ihre Gegner hätten dies im Kampfe gegen sie durchaus ausnutzen können: „Zum Glück besaßen unsere Feinde damals weder die Konsequenz noch die Entschlossenheit zu solchem Vorgehen“.

Die Bolschewiki profitierten von der Tatsache, dass die gemäßigten Sozialisten panische Angst vor einer „Gegenrevolution“, vor einem russischen „Cavaignac“ hatten und die Bolschewiki als potentielle Verbündete gegen diese Gefahr betrachteten. Erforderte aber die Bekämpfung dieser Gefahr wirklich die Mobilisierung aller linken Kräfte, auch solch militanter Antidemokraten wie die Bolschewiki? Das klägliche Scheitern des Putschversuchs von General Lawr Kornilow (Ende August 1917) zeigte, dass die Armee zum Kampf gegen die eigene Bevölkerung nicht mehr geeignet war. So brauchte die russische Demokratie keineswegs die Hilfe der Linksextremisten, um der Gefahr von rechts erfolgreich zu begegnen. Dennoch war die Angst der gemäßigten Sozialisten vor der Gegenrevolution derart überdimensional, dass sie ihre eigenen Kräfte maßlos unterschätzten. Nicht zuletzt deshalb gaben sie den Bolschewiki, die infolge des gescheiterten Juli-Putsches entwaffnet worden waren, erneut die Waffen in die Hand. Dies war wohl die verhängnisvollste Folge der Kornilow –Affäre.

Drohte Deutschland nach der Novemberrevolution von 1918 eine „bolschewistische Gefahr“?

Nun einige Worte zur deutschen Novemberrevolution, die sich demnächst zum hundertsten Mal jährt und zu der Frage, ob auch sie als eine Revolution  bezeichnet werden kann, die durch die „Last des Wissens“ im Sinne von Thomas Nipperdey geprägt war. Durchaus. In erster Linie muss man hier die führenden SPD-Politiker nennen, die das Rückgrat des am 10. November 1918 entstandenen Rates der Volksbeauftragten bildeten, der nach der Flucht des Kaisers die Macht in Deutschland übernahm. Die deutschen Sozialdemokraten waren sich, anders als ihre russischen Gesinnungsgenossen, der Gefahr, die die Linksdemagogen für die neue Demokratie darstellten, durchaus bewusst. Um jeden Preis versuchten sie, die „russischen Zustände“ im Lande zu verhindern, und gingen entschlossen gegen den ehemaligen linksradikalen Flügel ihrer eigenen Partei vor. Der Chronist der Novemberrevolution Wolfgang Niess schreibt in seinem vor kurzem erschienenen Buch „Die Revolution von 1918/19. Der wahre Beginn unserer Demokratie“ Folgendes:

Die Angst vor russischem Chaos und Bürgerkrieg ist zweifellos eine der Hauptursachen für die Politik der Volksbeauftragten.

Dabei ließen aber die SPD-Führer außer Acht, dass eine Revolution nach bolschewistischem Muster Deutschland zu keiner Zeit bedrohte. Fast alle Mitglieder des Rates der Volksbeauftragten, der beinahe mit diktatorischen Vollmachten im Lande regierte – bis auf den Vertreter des linken Flügels der USPD, Emil Barth, sprachen sich für eine parlamentarische Herrschaftsordnung in Deutschland aus und hielten das Rätesystem im damaligen Deutschland lediglich für ein Provisorium. Aber dies war nicht nur ihre private Meinung. Auch die große Mehrheit der deutschen Arbeiterschaft war gemäßigt gesinnt. Dies zeigte sich deutlich bei den Wahlen zum Rätekongress, der Mitte Dezember 1918 in Berlin stattfinden sollte. So erhielten die Parteien und Gruppierungen, die eine Revolution nach bolschewistischem Muster ablehnten, etwa 80% der Stimmen. Der Antrag eines der linken Kongressabgeordneten – Ernst Däumig -, „die Verfassung der sozialistischen Republik auf das Rätesystem zu gründen“, wurde mit 344 Stimmen gegen 98 abgelehnt. Noch vehementer als die Mehrheit der deutschen Industriearbeiter lehnten die Revolution nach bolschewistischem Vorbild andere Schichten der deutschen Bevölkerung ab – sowohl die Bauern als auch der Mittelstand; also die Schichten, die sich in Russland entweder zur Revolution bekannten (Bauernschaft) oder kaum vorhanden waren (Mittelstand).

Den Sieg der Revolution nach bolschewistischem Muster erschwerte in Deutschland auch die Tatsache, dass ihre Anhänger, anders als in Russland, nicht von der Friedenssehnsucht der Bevölkerung profitieren konnten, denn zwei Tage nach dem Ausbruch der Novemberrevolution wurde der Waffenstillstand in Compiègne unterzeichnet.

So waren die Erfolgsaussichten einer proletarischen Revolution in Deutschland unmittelbar nach Kriegsende minimal. Dies zeigte sich am Beispiel des am 5. Januar 1919 begonnenen „Spartakus“- Aufstandes in Berlin, der nach einigen Tagen unterdrückt wurde. Danach verlor allerdings die SPD-Führung die Kontrolle über die Soldateska, die nun auf eigene Faust Rachejustiz zu üben begann. Zu den Opfern dieser Rachejustiz gehörten bekanntlich Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, die am 15. Januar 1919 ermordet wurden.

Auch spätere Aufstandsversuche der KPD bzw. anderer linksradikaler Gruppierungen endeten mit einem ähnlichen Debakel wie die Berliner Revolte. Warum reagierte dann die sozialdemokratische Führung derart panisch auf die unkoordinierten Aktivitäten kleiner linksradikaler Gruppierungen? Dies hatte sicherlich damit zu tun, dass die Novemberrevolution von 1918 ähnlich wie die Revolution von 1848 von der „Last des Wissens“ gezeichnet war. 1848 war es die unbegründete Angst vor einer „proletarischen Revolution“ gewesen, die den Elan der Revolutionäre gehemmt hatte, 1918/19 war es die unbegründete Angst vor einer „bolschewistischen Gefahr“. Heinrich August Winkler schreibt in diesem Zusammenhang: „Richtig ist, dass (den Sozialdemokraten) … die Vermeidung von wirtschaftlichem und politischem Chaos über alles ging, dass sie die Gefahren von links überschätzten und diejenigen von rechts unterschätzten“.

Die allzu intensive Beschäftigung der SPD mit der linken Gefahr führte dazu, dass sie die Positionen des konservativen Establishments im Machtapparat  kaum erschütterte, was zur wichtigsten Voraussetzung für die später erfolgte rechte Revanche werden sollte. Der bereits erwähnte Wolfgang Niess schreibt in diesem Zusammenhang:

(Die) Revolution von 1918/19 … hat die Monarchie hinweggefegt und Deutschland zur Republik gemacht. Sie hat aber nicht alle Chancen nutzen können, auch die Gesellschaft zu demokratisieren. Todfeinde der Republik blieben mächtig und haben die Demokratie nach vierzehn Jahren an Hitler ausgeliefert.

Leonid Luks

Der Prof. em. für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt wurde 1947 in Sverdlovsk (heute Ekaterinburg) geboren. Er studierte in Jerusalem und München. Von 1989 bis 1995 war er stellvertretender Leiter der Osteuropa-Redaktion der Deutschen Welle und zugleich Privatdozent und apl. Professor an der Universität Köln. Bis 2012 war er Inhaber des Lehrstuhls für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte an der KU Eichstätt-Ingolstadt. Er ist Geschäftsführender Herausgeber der Zeitschrift Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte.

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