Amerika vor Kolumbus. Ein unverzichtbares Buch

Charles C. Mann beleuchtet „Amerika vor Kolumbus“ und zeichnet ein zwar nicht neues, dennoch kaum bekanntes Bild des Kontinents vor der Entdeckung.


Im vergangenen Jahr zum Kolumbustag schrieb ich hier über das beispiellose Massensterben, das der „Entdeckung Amerikas“ folgte. Die Zahlen zur schieren Masse der Einwohner der beiden Amerikas (Der kürzlichen Maya-Fehlmeldung zum Trotz 40 Millionen nach den heute niedrigsten Schätzungen, über 100 nach den höchsten) dürften viele Leser unserer Seite dort zum ersten Mal gehört haben. Nicht, weil ich etwas Neues entdeckt hätte, sondern weil die Schulbücher hoffnungslos noch dem kleinsten gemeinsamen Nenner der Forschung hinterherhinken. Allein für Nordamerika geht man heute von mindestens 10 Millionen Einwohnern vor der Entdeckung aus. Zwischen 95 % und 97 % starben, noch ehe die Kolonisierung tatsächlich richtig begann. Grund waren bei den ersten Konakten eingeschleppte Krankheiten, besonders die Pocken. Selbst wenn die „Entdecker“ die besten Menschen der Welt gewesen wären – das dürfte für den modernen Kult des Machbaren vielleicht der größte Schock sein – dieses Sterben wäre kaum zu verhindern gewesen.

Ich bat die Leser, mangels eines besseren Wortes, auf die präkolumbianische Geschichte Amerikas und die Katastrophe zu „meditieren“. Sich also einmal wirklich tief da hinein zu versenken, Informationen zu sammeln, sich mit dem Urteil zurückzuhalten. Dennoch liefen die ersten Shoa-Vergleiche bereits nach wenige Minuten nach Veröffentlichung des Artikels auf.

Viele Verbrechen, kein „Holocaust“

Nein: Ein differenziertes Bild der amerikanischen Kolonisationsgeschichte soll nicht die Gräuel relativieren, die Europäer anrichteten. Es gab Stimmen, die die Vernichtung aller „Indianer“ forderten. Es gab sicher viele, denen die „Kollateralschäden“ recht waren. Es gab möglicherweise auch den ein oder anderen Versuch, die Pocken mit Absicht zu verbreiten (unnötig, sie wüteten schon überall). Und es gab die kaum Besseren, für die das Sterben tatsächlich eine Tragödie war: Sie hatten mit den Ureinwohnern nämlich als Zwangsarbeiter gerechnet. Das Massensterben, erklärt Charles C. Mann in seinem Buch 1491: New Revelations of the Americas before Columbus (deutsch: Amerika vor Kolumbus: Die Geschichte eines unentdeckten Kontinents), war einer der Auslöser für das Florieren des transatlantischen Sklavenhandels.

Eine geplante Vernichtung einer Menschengruppe namens „Indianer“ als Rasse oder Volk allerdings fand weder im Norden noch im südlichen Amerikas statt.

Ein dicht besiedelter Kontinent und die Pocken

Manns 1491 ist das Buch, das jeder lesen sollte, der sich wirklich intensiv mit der Frühgeschichte der amerikanischen Kolonien und des präkolumbischen Amerikas auseinandersetzen möchte. Hier findet sich zusammengetragen und elaboriert, was ich in der letzten Kolumne zum Thema noch aus Einzelquellen zusammengesucht habe. Kenntnisreich und im Dialog mit den derzeit führenden Forschern zeichnet Mann in 1491 ein Bild von dem Olmeken über Teotihuacán, das mit 200.000 Einwohnern rund um Christi Geburt eine der größten Städte der Welt gewesen sein dürfte, über die Maya-Stadtstaten und Imperien bis zu dem Erstkontakt Pizarros mit den Atztecen und der baldigen Unterwerfung des riesigen Reiches, von Norte Chico, einer ungewöhnlichen 5000 Jahre alten Hochkultur, bei der die Agrarische Revolution nicht auf Getreide sondern auf Baumwolle abzielte, bis hin zu den Inka und deren Fall. Mann diskutiert die verschiedenen Hypothesen zur Erstbesiedlung Amerikas, stellt den Amazonas als Kulturraum vor und betrachtet natürlich auch ausgiebig die verdrängten Hochkulturen Nordamerikas. Ergebnis ist das Bild eines Amerikas, das mit der unberührten Wildnis, durch die vor allem Jäger und Sammler streifen, wie sie die Kolonisten vorfanden, wenig zu tun hat. Dieses Amerika, Grundlage eines westlichen Verständnisses von „Freiheit“ bis heute, das besonders dem Kampf mit der „Frontier“, der Grenze der Zivilisation geschuldet ist, war tatsächlich vielmehr Resultat der Entdeckung und deren Vernichtung des Großteils der ursprünglichen Bevölkerung. Mann fasst es drastisch zusammen:

„Gerade wie Holmberg glaubte, gehörten die Sirionó zu den kulturell am stärksten verarmten Menschen der Erde. Das lag aber nicht daran, dass es sich um unveränderte Überbleibsel aus der Frühzeit der Menschheit handelte, sondern daran, dass Pocken und Grippe in den 1920er Jahren ihre Dörfer verwüstet hatten (…) Die Wanderer, mit denen Holmberg im Wald unterwegs war, hatten sich vor ihren Tätern versteckt. Holmberg versuchte ihnen auf eigene Gefahr zu helfen, aber er begriff nie ganz, dass die Menschen, die er als Überbleibsel aus der Altsteinzeit ansah, tatsächlich die verfolgten Überlebenden einer kürzlich zerschlagenen Kultur waren. Es war, als ob er Flüchtlinge aus einem NS-Konzentrationslager getroffen hätte, und zu dem Schluss kam, dass sie zu einer Kultur gehörten, die schon immer barfuß und hungernd gelebt habe.“1

Besonders am Beispiel des berühmten Tisquanto, der mit den „Pilgern“ die erste Thanksgiving-Mahlzeit geteilt haben soll, macht Mann deutlich, wie sehr sich der Norden Amerikas binnen weniger Jahrzehnte veränderte:

„Vom südlichen Maine bis zur Narragansett Bucht war die Küste leer -„völlig leer“, berichtete Dermer. Was einmal eine Reihe von geschäftigen Gemeinden gewesen war, war jetzt eine Masse von baufälligen Häusern und ungenutzten Feldern, die von Brombeeren überwuchert wurden. Zwischen den Häusern und Feldern verstreut lagen Skelette, die von der Sonne gebleicht wurden. Langsam erkannte Dermers Crew, dass sie entlang eines Friedhofs segelten, zweihundert Meilen lang und vierzig Meilen tief. Patuxet wurde mit besonderer Wucht getroffen. Es blieb kein einziger Mensch übrig. Tisquantums gesamte soziale Welt war verschwunden. Auf der Suche nach seinen Verwandten führte er Dermer auf einen melancholischen Marsch ins Landesinnere. Die Siedlungen, an denen sie vorbeikamen, lagen leer unterm Himmel, aber voll von unbestatteten Toten. Tisquantums Gruppe traf schließlich auf einige Überlebende, eine Handvoll Familien in einem zerstörten Dorf.“2

Ähnliches galt für den Mississippiraum, wo der Abenteurer de Soto mit ein paar Soldaten und 200 Schweinen gerne ein zweiter Pizarro gewesen wäre, doch glücklos durch ein durchgehend kultiviertes Land sesshafter Ackerbauern zog, bis Krankheiten den Großteil des Trupps dahinrafften. Für mehr als 100 Jahre sah kein Europäer mehr den Mississippi mit eigenen Augen. Als dann französische Siedler dort anlangten, war von der blühenden Mississippi Kultur wenig mehr übrig als Grabstätten und einige umherstreifende Nomaden – die „Indianer“, wie man sie aus dem Western kennt.

Die Wildnis, die die Kolonisten schufen

Entsprechend weitreichend sind auch die Schlussfolgerungen ökologischer Natur, die Mann, und mit ihm relevante Teile der neueren Forschung ziehen. Die weiten Prärien, über die bis zu 60 Millionen Bisons in gigantischen Herden ziehen: Kein paradiesischer Naturzustand, sondern Folge des Schocks der Zerstörung der sesshaften Einwohnerkulturen, die zuvor die Bestände kontrollierten. Die endlosen Wälder: Resultat des Ausbleibens der verbreiteten Praxis der Brandrodung. Das Amazonasbecken präsentiert Mann als eine Region, in der Millionen Menschen lebten, den unglaublichen Artenreichtum essbare Früchte als einen bewusst transformierten Kulturraum, in dem die notwendigen Supplemente zur fischreichen Kost der Flussufer halb wild angebaut wurden. Mann ist sich des Risikos bewusst, dass die Vorstellung eines seit Jahrtausenden kultivierten Amazonasbecken heutige Naturschutzbemühungen untergraben könnte, stellt allerdings fest:

„Aber die neue Perspektive rechtfertigt nicht automatisch das Abbrennen des Waldes. Stattdessen deutet es darauf hin, dass kluge Leute, die Tricks kannten, die wir noch nicht gelernt haben, große Teile Amazoniens zerstörungsfrei kultiviert haben. Im Angesicht eines ökologischen Problems haben die Indianer es behoben. Anstatt sich der Natur anzupassen, schufen sie sie.“3

Und:

„Der Amazonas ist keine Wildnis, erwidern Archäologen und Anthropologen. Und die Behauptung, er sei es, wird in ihrer Ignoranz die ökologischen Probleme verschlimmern, die Aktivisten bekämpfen möchten. Wie ihre Mitbrüder in anderen Teilen Amerikas, so hatten auch die indianischen Gesellschaften ein beachtliches Wissen über das Management und die Verbesserung ihrer Umwelt aufgebaut. Indem sie die Möglichkeit solcher Praktiken leugnen, sagen diese Forscher, könnten Umweltschützer den Untergang des Waldes beschleunigen, anstatt ihn aufzuhalten.“4

Ob alle Ergebnisse der Arbeit Manns, eigentlich nur ein Überblick der Arbeiten zahlreicher engagierter Forscherinnen und Forscher, auf Dauer haltbar sein werden, wird sich erweisen müssen. Zumindest aber ist 1491 ein Buch, das die Ureinwohner beider Amerikas als Subjekte ihrer Geschichte ernst nimmt, und diese Geschichte so weit es geht in lesbarer Form neben Archäologie und Geologie auch anhand der überlieferten Quellen kenntnisreich aufbereitet. Wer zur präkolumbianischen Geschichte und den Folgen der Entdeckung mitreden möchte , sollte dieses Buch gelesen haben.

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1Eigene Übersetzungen. Hier die Originale: „Just as Holmberg believed, the Sirionó were among the most culturally impoverished people on earth. But this was not because they were unchanged holdovers from humankind’s ancient past but because smallpox and influenza laid waste to their villages in the 1920s. (…) The wandering people Holmberg traveled with in the forest had been hiding from their abusers. At some risk to himself, Holmberg tried to help them, but he never fully grasped that the people he saw as remnants from the Paleolithic Age were actually the persecuted survivors of a recently shattered culture. It was as if he had come across refugees from a Nazi concentration camp, and concluded that they belonged to a culture that had always been barefoot and starving.“

2„From southern Maine to Narragansett Bay, the coast was empty—“utterly void,” Dermer reported. What had once been a line of busy communities was now a mass of tumbledown homes and untended fields overrun by blackberries. Scattered among the houses and fields were skeletons bleached by the sun. Slowly Dermer’s crew realized they were sailing along the border of a cemetery two hundred miles long and forty miles deep. Patuxet had been hit with special force. Not a single person remained. Tisquantum’s entire social world had vanished. Looking for his kinsfolk, he led Dermer on a melancholy march inland. The settlements they passed lay empty to the sky but full of untended dead. Tisquantum’s party finally encountered some survivors, a handful of families in a shattered village.“

3„But the new picture doesn’t automatically legitimate burning down the forest. Instead it suggests that for a long time clever people who knew tricks that we have yet to learn used big chunks of Amazonia nondestructively. Faced with an ecological problem, the Indians fixed it. Rather than adapt to Nature, they created it.“

4„The Amazon is not wild, archaeologists and anthropologists retort. And claiming that it is will, in its ignorance, worsen the ecological ailments that activists would like to cure. Like their confreres elsewhere in the Americas, Indian societies had built up a remarkable body of knowledge about how to manage and improve their environment. By denying the very possibility of such practices, these researchers say, environmentalists may hasten, rather than halt, the demise of the forest.“

Sören Heim

Sören Heim ist Journalist, Übersetzer und Schriftsteller. Er ist Träger des kosovarischen Preises für moderne Dichtung „Pena e Anton Pashkut“ (Stift des Anton Pashku) und des Sonderpreises „Favorit von Daniel Glattauer“ der art.experience 2014. In HeimSpiel schreibt Sören Heim mit Heimvorteil zu den Schnittpunkten von Kunst, Kultur und Gesellschaftspolitik. Er beleuchtet die unerwartete Bedeutung ästhetischer Fragestellungen für zeitgenössische Debatten, die mit Kunst auf den ersten Blick kaum Berührungspunkte haben. Und wo immer, sei es in der Politik, sei es in der Ökonomie, sei es gar im Sport, er auf geballten Unsinn und Unverstand trifft, wagt der Kolumnist auch das ein oder andere Auswärtsspiel. Bisher erschien die Kolumne HeimSpiel im Online-Debattenmagazin The European. Daneben veröffentlicht Heim in mehreren Literaturzeitschriften vornehmlich Lyrik und dichte Kurzprosa, und bloggt auf der eigenen Homepage aus seinem Zettelkasten. Monographien: Kleinstadtminiaturen: Ein Roman in 24 Bildern. Girgis Verlag: 2016 – ISBN: 978-3939154181.Cover nur Front Gewogene Worte: Nachdichtungen aus dem Chinesischen. edition maya: 2016 – ISBN: 978-3930758463.cover kathaStrophen. Experimente in Rhythmus und Melodie. Chiliverlag: 2017 -ISBN: 978-3943292541.FrontCover 2_bleu Algenhumor: Gedichte für das dritte Jahrtausend. Girgis Verlag: 2016 – ISBN: 978-3939154228.algen Audio-Exklusiv: La vie! La jeunesse! – Hörmordkartell 2017

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