Was triggert: wen, wann, wie, wo und warum?

Vorsicht ist eine Tugend. Speziell für trockene Alkoholiker. Allerdings triggert nicht jede potenzielle Gefahr bei jedem Ex-Trinker gleichmäßig stark. Weshalb wir uns an dieser Stelle mit der Frage beschäftigen wollen: Was geht, und vor allem, was geht nicht? Gesoffen-wird-immer-Kolumne von Henning Hirsch.

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Jede Menge Hirnschmalz wird von trockenen Alkoholikern in die Klärung der Frage investiert: Was triggert wen, wann, wie, wo und warum? Da der wichtige Begriff bisher noch nicht erklärt wurde, wollen wir es an dieser Stelle endlich tun.

Trigger bedeutet übersetzt „Auslöser“. Also der Schlüsselreiz, der einen Menschen dazu animiert, zur Flasche zu greifen. Der Auslöser schnappt im mentalen Bereich zu. Soll heißen: Ein Rückfall geschieht in den meisten Fällen deshalb, weil der (vorher eine Zeit lang enthaltsame) Alkoholiker etwas sieht, riecht, erlebt, das ihn zwanghaft dazu treibt, beim Italiener, wo er gerade eine Pizza Funghi zuzüglich Mineralwasser medium gassata verzehrt, plötzlich wie von einem bösen Geist ferngesteuert ein Glas Valpolicella Classico zu bestellen und in zwei Zügen zu leeren. Nun ist ein trainierter Trinker – auch wenn er ein bisschen aus der Übung gekommen ist – von 0,2 l Valpolicella Classico natürlich nicht granatenvoll; eine berauschende Wirkung wird entweder völlig ausbleiben oder sich in bescheidenen Grenzen halten. Theoretisch könnte er mithin nach einem Glas Rotwein wieder stoppen und die Abstinenz fortsetzen. Aber – und das ist ein fettes Aber – es entstehen sofort nach dem Konsum fatale Gedankenketten à la:
• Ich habe gesündigt. Jetzt hilft nur noch der Gang in die Notfallambulanz, um mir den Magen auspumpen zu lassen.
• Hat doch gut funktioniert. Morgen probiere ich es ein weiteres Mal.
• Jetzt ist eh alles egal. Dann kann ich auch gleich ein paar Wochen weitersaufen.

Weil also der Trigger der Vater aller Rückfälle ist, entbrennen in den Alkohol-Foren häufig Glaubenskriege darüber, was geht und was nicht geht. Hierbei sind vereinfacht betrachtet drei Lager zu unterscheiden:

A. Die Strengen
Kein Tropfen und kein Nanogramm Alkohol darf dem abstinenten Körper zugeführt werden. Weder in flüssiger noch in fester Form (beispielsweise in Torten oder Pralinen). Auch Speisen, in denen mit Alkoholaromen hantiert wird, sind unbedingt zu meiden. Mundwasser, in dem vereinzelte Spritzer Alkohol enthalten sind, ist Teufelswerk. Dabei ist völlig gleichgültig, ob sich der (trockene) Alkoholiker die Minimaldosis mit voller Absicht oder versehentlich zugeführt
hat. Umgehend erschallt der Ruf: „Du hast einen Rückfall gebaut. Begib dich sofort in ärztliche Obhut. Lass deinen körperlichen Zustand durchchecken und dich mental untersuchen. Und danach ab in die SHG zur reumütigen Beichte.“

Diese Gruppe hat natürlich große Probleme mit Alkoholwerbung in TV, Printmedien und auf Plakattafeln und appelliert an ihre Mitglieder, sämtliche Festivitäten, auf denen Alkohol kredenzt wird, zu meiden oder sofort zu verlassen, sobald das erste Bier gezapft wird,

Motto: Der Rückfall ist immer und überall.

B. Die Verharmloser
Alkohol ist Teil unserer Trinkkultur, bekommt man hier zu hören. Nur, weil ich ein Problem damit habe, kann ich ja schlecht allen anderen, die mit dem Stoff gut zurechtkommen, die Freude daran verderben. Zudem ist mein Problem mit Alkohol gar nicht so groß. Ich kann mir durchaus hin und wieder ein Gläschen genehmigen, ohne dass bei mir die Gefahr besteht, die Angelegenheit liefe aus dem Ruder. Auf runden Geburtstagen und auf Betriebsfeiern lasse ich mir deshalb ein Glas Sekt schmecken. Ich will schließlich nicht als Spaßbremse dastehen. Bloß, weil ich bereits zehnmal in der Entgiftung war, bedeutet das ja nicht, dass ich zwangsläufig ein elftes Mal dorthin muss. Ich habe die Sache mittlerweile unter Kontrolle und kenne mein Limit. Hier gilt das Motto: trial and error – zu 99,9 % endet es im error und in der elften Entgiftung.

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C. Diejenigen, die zwischen A. und B. oszillieren
Das ist das meiner Beobachtung nach größte der drei Lager. Alkoholiker, die nicht bei jedem Bissen in ein Stück Torte oder beim Lecken an einer Kugel Amaretto-Eis einen Nervenzusammenbruch bekommen, die nicht jede Packungsbeilage eines Fertiggerichts akribisch nach Nanogrammspuren Ethanol absuchen, die auch mal ein Mundwasser mit Alkohol benutzen und im Supermarkt durch die Spirituosenabteilung spazieren können, ohne direkt im Anschluss an die böse Tat den Rückfall vor Augen zu sehen. Es gibt innerhalb dieser Gruppe natürlich Teilnehmer, die stärker zu A oder mehr zu B tendieren. Auch hier sind Abstufungen hinsichtlich der Beantwortung der Frage „Was geht bzw. was ist (noch) ungefährlich?“ zu beobachten. Jedoch trifft man hier auf keine Hardcore-Abolitionisten wie bei A und keine Ein-Gläschen-kann-doch-keine-Sünde-sein-Relativierer der Gruppe B.

Ich selber sortiere mich in C ein und werde Ihnen nun meinen Standpunkt zur Was-triggert-wen-Problematik näherbringen. Zuerst einmal muss klar sein, dass kein Alkoholiker zwischendurch mal einfach aus spontanem Spaß an der Freud an einem Gläschen Sekt nippen kann. Völlig egal, ob es sich um den 95. Geburtstag von Großtante Mizzi, das 25. Jubiläum des örtlichen Harley-Davidson-Clubs oder die Feier anlässlich der Beförderung des Kollegen Kasperski zum stellvertretenden Leiter der Innenrevision handelt.

Strenger Grundsatz: Alkohol in flüssiger Form und wissentlich genossen geht überhaupt nicht!

Und wenn man Alkohol versehentlich zu sich nimmt?

Unterhalb der Schwelle „flüssig und wissentlich“ wird es zur Glaubens- und Kopfsache: Sie ordern beim Sommerfest des Kindergartens Bullerbü bei der netten Mutter von Natalie einen alkoholfreien Mai Tai, und die nette Mutter mischt Ihnen – ohne dass Sie es mitbekommen
– aus Dankbarkeit, weil Sie vorgestern Abend 90 Minuten auf Natalie aufgepasst haben und weil sie von Ihrem Problem nichts weiß, 0,4 cl Baccardi in die orange-gelbe Plörre mit rein, was
Sie jedoch erst beim zweiten Schluck bemerken -> Dann:
• sollten Sie den Cocktail nach dem zweiten Schluck entweder in einen Blumenkübel kippen oder mit dem Satz „Kann ich leider nicht trinken, denn ich bin trockener Alkoholiker“ der verdutzt blickenden Natalie-Mutter zurückgeben,
• passiert nichts, unter der Voraussetzung, dass Sie nicht zu Gruppe A gehören.

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Alkohol in flüssiger Form ist immer Mist. Aber wenn Sie versehentlich zwei Schluck davon konsumieren, geht im Anschluss nicht sofort die Welt unter (Das gilt ebenfalls für Pralinen, in denen Likör/Weinbrand/Schnaps enthalten ist).

Alkohol in Lebensmitteln: Ich persönlich kann sowohl das Nanogramm Wein in Weingummis als auch das Rumaroma in Omas Nusskuchen von Dr. Oetker oder abgekochten Dornfelder in Bratensoßen verzehren. Die Gerichte lösen bei mir nichts aus. Der reine Geschmack triggert nicht. Das ist aber nicht bei jedem trockenen Alkoholiker so. Ich kenne viele, die einen Heidenrespekt vor Schwarzwälder Kirschtorte haben. Und das ist auch völlig okay. Jeder muss für sich selbst entscheiden, was er sich zutrauen will und was nicht.

Der eine kann Fassbrause und Malzbier gefahrlos konsumieren, der andere nicht. Der eine kann problemlos mit Mundwasser gurgeln, in dem Spritzer Alkohol enthalten sind, dem anderen tritt bei derselben Übung im Nachgang der Angstschweiß auf die Stirn.

Die einen können im Supermarkt sorgenfrei an den Schnapsregalen vorbeispazieren, die anderen müssen bei jedem Einkauf einen Slalomparcours absolvieren, um bloß nicht mit dem Williams Christ ihrer Vergangenheit konfrontiert zu werden.

Die einen schaffen es, auf Betriebsfeiern nüchtern und emotionslos bis zum Schluss dabei zuzusehen, wie sich die Kollegen langsam  volllaufen lassen und sich im Halbrausch auf den Korridoren und den Toiletten gegenseitig befummeln, bevor sie (die Kollegen) sich auf denselben Toiletten übergeben, während die anderen dieselbe Betriebsfeier sofort verlassen, sobald das erste Plopp eines Sektverschlusses erklingt.

Jeder trockene Alkoholiker muss für sich selbst entscheiden, was geht und was zu stark triggert. Wobei diese Dinge nicht starr sind. Was ich zu Anfang meiner Abstinenz nicht ertragen konnte (z. B. Schnapsregale im Supermarkt, Betriebsfeiern nach Mitternacht), kann ich heute ohne mit der Wimper zu zucken meistern.

Daher sollte der trockene Alkoholiker die Trigger-Sache schon ernst nehmen, wenn er nicht Gefahr laufen will, nach der zehnten Weinbrandpraline doch rückfällig zu werden. Mich beispielsweise triggern nach wie vor Biergartenbesuche im Sommer: Die Sonne brennt heiß von einem azurblauen Himmel herab, neben mir sitzt eine Gruppe Mountainbiker, die fröhlich ein Weizen nach dem anderen bestellt. In solchen Momenten bekomme ich Durst und denke wie ein kleines Kind: Warum dürfen die das trinken und ich nicht, der ich doch ebenfalls so viel Sport treibe und mir ein Glas Bier durchaus verdient hätte?

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Was ich dann tue, fragen Sie mich? Ganz einfach: aufstehen und den Biergarten verlassen. Ob ich noch mal in denselben Biergartengehen werde?, möchten Sie noch wissen. Warum nicht? Es ist einschöner, idyllisch am Rhein gelegener Platz. Und nicht jedes Mal ist es Hochsommer, und nicht jedes Mal sitzen Schneider Weisse trinkende Mountainbiker neben mir.

Und bevor Sie jetzt vorschnell mit mir schimpfen – ich komme mit meiner Art, mich mit Alkohol zu konfrontieren bzw. ihn zu meiden, bisher gut zurecht. Und „bisher“ bedeutet zum Zeitpunkt des Schreibens dieses Ratgebers zehn Jahre.

Unverbindlicher Tipp: Gehen Sie anderen mit Ihrer persönlichen Alkohol-Vermeidungs-Philosophie bloß nicht zu sehr auf den Wecker! Wir sind alle erwachsen, wir wissen, dass Alkoholkonsum zum Rückfall führen kann, und haben – aufbauend auf diesem Wissen – jeder im Laufe der Jahre unsere individuellen Vorsichtsmaßnahmen entwickelt.

Der Glaubenskampf um die irrtümlich verzehrte Weinbrandpraline führt zu nichts. Viel wichtiger hingegen ist es, dass Sie für sich individuell definieren, was Sie sich zumuten können und was nicht. Falls bei Ihnen bereits bei Nusskuchen mit Rumaroma das Ende der Fahnenstange erreicht ist, dann ist es eben so. Für Ihren Nachbarn in der SHG ist es der Anblick der Flachmänner an der Supermarktkasse und für mich die Gruppe Weizen-trinkender Mountainbiker im Biergarten. In den Köpfen von uns Alkoholikern geht es unterschiedlich zu. Und damit wollen wir jetzt ans Ende des Abschnitts „Wen triggert was und wann?“ gelangen. Es warten schließlich noch zwei weitere Kapitel auf uns.

ZIEL 8
Verinnerlichen, dass man als trockener Alkoholiker zeitlebens gefährdet bleibt und deshalb ständige Achtsamkeit als überlebenswichtige Tugend akzeptieren. Sich Alkohol niemals bewusst genehmigen. Alles unterhalb dieser Schwelle ist individuelle Kopf- und Glaubenssache.

In der letzten Alkohol-Kolumne ging’s um das Thema: Weshalb trinken wir?
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Entnommen aus:
Raus aus dem Rausch
Raus aus dem Rausch
Gebrauchsanweisung, um vom Alkohol wegzukommen. Ein Erfahrungsratgeber
Verlag humboldt
ISBN: 9783842630550

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