Grundgesetz: Schranken sichern keine Freiheit

Das Grundgesetz wirkt so, wie es Menschen unmittelbar verstehen. Schranken bedeuten nicht Freiheit, sondern Einschränkung. Eine weiterer Beitrag in unserer Debatte um Artikel 5 GG.

Grundgesetz und Freiheit

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Aus meiner Antwort auf den Beitrag von Heinrich Schmitz zur Presse- und Meinungsfreiheit hat sich, nachdem dieser auch auf mich geantwortet hatte, eine lebhafte Diskussion auf Facebook entwickelt, in der der Wunsch geäußert wurde, dass ich auch noch einmal zu den Kritikpunkten Stellung nehme. Bevor ich das tue, ein paar allgemeine Überlegungen.

Wer versteht das Grundgesetz?

Das, was heute als Verfassung eines demokratischen Rechtsstaates bezeichnet wird, besteht genau genommen aus zwei Teilen. Da ist zum einen die eigentliche Verfassung des Staates, die Beschreibung, aus welchen Teilen er besteht und wie diese zusammenwirken sollen. Dem vorangestellt ist, wenn es in dem Land ein solitäres Dokument namens „Verfassung“ oder „Grundgesetz“ gibt, ein Abschnitt, der festlegt, was eigentlich der Zweck des Staates ist, wie und warum er den Bürgern des Staates dienlich sein soll. Einige Verfassungen, so etwa die französische, beziehen sich dabei direkt auf klassische Manifeste wie die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789. Das deutsche Grundgesetz führt die Rechte und Freiheiten, die der Staat den Bürgern gewähren und die er zugleich gewährleisten soll, in seinen ersten 19 Artikeln auf und nennt dort zugleich die Einschränkungen, bevor es ab Artikel 20 mit den Staatsaufbau, also der eigentlichen Verfassung des deutschen Staates beginnt. Auch diese 19 Artikel haben ihre leicht nachvollziehbaren Wurzeln in den beiden Texten von 1789, der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte und der Amerikansichen Bill of Rights, den ersten zehn Verfassungszusätzen der USA.

Ich meine nun, dass ein solcher grundlegender Verfassungstext jedem politisch interessierten Bürger des Landes verständlich sein muss, auch ohne juristische Expertise, ohne Interpretationshilfe durch Verfassungsrechtler. Es ist schließlich das Dokument, auf das sich die Bürger dieses Landes gewissermaßen verständigt haben oder wenigstens verständigen können müssen, das Dokument, in dem jeder nachlesen kann, was ihm der Staat schuldet und was er dem Staat grundsätzlich schuldig ist. Und in der Interpretation dieses Textes zählt zuallererst, was die Bürger, diejenigen, die sich in politischen Diskussionen zu Wort melden, und die Politiker in ihrer täglichen Arbeit und im politischen Streit da unmittelbar verstehen. Um zu wissen, was ein Artikel „wirklich meint“, darf nicht gefordert werden, sich durch 80 Jahre Verfassungsgerichts-Rechtsprechung oder durch Stapel von juristischen Kommentaren und Monografien hindurchzuarbeiten.

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Das Grundgesetz ist im politischen Streit unmittelbar wirksam, aber auch in der öffentlichen Arbeit und im gesellschaftlichen Diskurs. Es bildet den direkten Hintergrund und das Fundament vieler Entscheidungen und Argumentationen in der Wirtschaft, in den Medien, in der Wissenschaft, in der Kultur. Jede Person kann in der Debatte und im Streit einen Grundgesetz-Artikel zitieren und als Argument verwenden – so muss das Grundgesetz geschrieben sein und interpretiert werden können. Man muss sich vergegenwärtigen, dass die beiden Texte von 1789 nicht von Juristen, sondern von engagierten Bürgern verfasst wurden, um sich auf die Grundsätze ihres Gemeinwesens zu verständigen – auch da kam es schon darauf an, wie die Bürger selbst ihre Verfassung verstehen, und so ist es immer noch.

Libertär und brandgefährlich?

Heinrich Schmitz meint, wenn man den Absatz 2 des Artikel 5 des Grundgesetzes streichen würde, dann würde man im Rechtchaos enden, weil es gar keine Grenzen mehr gäbe. Das klinge libertär und sei brandgefährlich. Wenn das so wäre, müsste er erklären, warum es dieses Chaos mit Bezug auf die Religionsfreiheit, die Wissenschaft- und Kunstfreiheit und die Lehrfreiheit nicht gibt. Denn dort werden auch keine gesonderten Schranken gezogen außer der, die ich als selbstverständlich ansehe, nämlich die zur Treue der Verfassung. Eine Freiheit ohne eigene Schranken hebelt eben die anderen Zusagen des Grundgesetzes an die Bürger nicht aus, im Falle des deutschen Grundgesetzes bleiben die Würde, das Recht auf Entfaltung der Persönlichkeit und das Recht auf körperliche Unversehrtheit natürlich auch vor dem möglichen gefährdendem Gebrauch anderer Freiheiten geschützt. Deshalb muss man eben z.B. die Freiheit von Wissenschaft und Forschung nicht gesondert mit einer Schranke zum Gesundheits- und Lebensschutz versehen, die ja bei absoluter Forschungsfreiheit durchaus verletzt werden könnten – sie sind aber schon durch Artikel 2 geschützt.

Darüber hinaus hat das Grundgesetz noch den Artikel 18. Er besagt, dass man seine Freiheiten, die Pressefreiheit, die Lehr- und die Versammlungsfreiheit und andere, nicht für den Kampf gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung missbrauchen dürfen und dass man mit einem solchen Tun diese Freiheiten verwirkt. Somit ist Heinrich Schmitz‘ Sorge, ohne die Beschränkungen des Absatz 2 wäre die Bundesrepublik gegen Volksverhetzung, Holocaustleugnung, Manipulationen durch Extremisten und ähnliches machtlos, unbegründet. Ebenso unbegründet ist seine Sorge, Menschen wären nicht mehr vor Stalking, Nötigung und Einschüchterung geschützt – der Schutz leitet sich in diesen Fällen bereits aus Artikel 1 und 2 des Grundgesetzes ab.

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Heinrich Schmitz ist der Meinung, dass es dem Gesetzgeber, wenn es die Schranken des Absatz 2 nicht gäbe, möglich wäre, viel drastischer und umfangreichere Gesetze zu beschließen. Das allerdings ist ein wirklich problematisches Verständnis der Wirkungsweise des Grundgesetzes. Als Verfassung muss es gegen den Staat anders wirken als Gesetze gegen die Bürger wirken. Dem Staat ist nicht alles erlaubt, was das Grundgesetz nicht ausdrücklich verbietet, vielmehr legt es fest, was der Staat gegenüber dem Bürger darf, und was nicht drinsteht, darf er nicht. Wieder kann man das am Beispiel der Kunst- und der Wissenschaftsfreiheit verdeutlichen: da dort keine gesonderten Schranken angegeben sind, sind diese eben (mit den Ausnahmen des Artikel 18 und bei Berücksichtigung der übrigen verfassungsmäßigen Freiheiten) wirklich frei, und kein Gesetz kann diese Freiheiten beschränken, nur weil im Grundgesetz ja keine Beschränkungen stehen. Das wäre absurd und gerade nicht verfassungskonform.

Würde und Ehre im Grundgesetz

Ein paar Anmerkungen zur Würde und zur Ehre. Es wird dazu einen gesonderten Text geben. Hier aber so viel: auch wenn der Begriff der Würde schwer in klare Worte zu fassen ist, wissen die meisten Menschen, was würdelos ist, was die Würde eines Menschen verletzt und was ein würdevolles Leben, ein würdevolles Sterben und eine würdevolle Behandlung der Bürger durch den Staat ist. Wenn man darüber nachdenkt, wird schnell klar, dass die Würde in einem demokratischen Rechtsstaat ein absolut schützenswertes Gut ist, das allen zuteilwerden soll, auch Missetätern, Lügnern, Bösewichtern, Verbrechern, Mördern.

Mit der Ehre sieht es anders aus. Einerseits gelingen die Aufdeckung und Ahndung von Lügen Missetaten und Verbrechen nur selten ohne Ehrverletzung des Bösewichts. Deshalb darf auch gerade von der Presse nicht verlangt werden, dass sie die Ehre eines Menschen nicht verletzt. Sie ist dabei natürlich durch Artikel 1 und 2 beschränkt: Vorwürfe, die sich später als unwahr herausstellten, können zu Würdeverletzungen führen, zudem können sie die Persönlichkeit und die Gesundheit des Betroffenen schädigen.

Ehrverletzungen, insbesondere von Politikern oder auch von Wirtschaftsführern oder anderen Menschen des öffentlichen Lebens, die sich gravierende Fehler oder Missetaten zu Schulden kommen lassen, müssen aber von einer investigativen Presse in Kauf genommen werden. Das Grundgesetz darf nicht als Schutzschild verwendet werden, damit sich die Mächtigen vor Kritik schützen können. Mit der Neuformulierung des §188 StGB im Jahre 2021 ist da bereits ein weiterer Schritt gegangen worden, dessen Auswirkungen wir bereits sehen können.

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Schutz der Freiheiten vor autoritären Regierungen

Ich hatte in meinem letzten Beitrag angedeutet, dass weniger liberale politische Kräfte den Absatz 2 des Artikel 5 für drastischere Einschränkungen der Presse- und Meinungsfreiheit nutzen könnten, dass deshalb seine Streichung dringend geboten ist. Begründet ist das in dem, was ich zu Beginn geschrieben habe: In der politischen Debatte wird das Grundgesetz in seinem intuitiv verständlichen Wortlaut verwendet, nicht aus einem jahrzehntelangen rechtstheoretischen Diskurs unter Berücksichtigung der ständigen Rechtssprechung des Bundesverfassungsgerichts heraus. Wenn autoritäre Kräfte an die Macht kommen, können sie die allgemeinen Gesetze, den Schutz der Ehre und der Jugend weit restriktiver deuten, als es das Bundesverfassungsgericht bisher getan hat – bis dieses dagegen entschieden hat, wären längst Tatsachen geschaffen.

In der Diskussion bei Facebook wurde die Vermutung geäußert, dass autoritäre Parteien den ganzen Artikel 5 wahrscheinlich schnell streichen würden, insbesondere den Absatz 2. Das ist aber meines Erachtens eine haltlose Spekulation. Ich kann das jetzt hier nur andeuten. Trump etwa macht nicht den Eindruck, den ersten Verfassungszusatz streichen zu wollen – das würde viel zu offensichtlich in die politische DNA der Amerikaner eingreifen. Die PiS, als sie in Polen an die Macht kam, hat keineswegs die Verfassung grundsätzlich geändert, und dennoch das Land in eine Verfassungskrise gestürzt. In Ungarn wiederum wurde die Verfassung geändert, auch in der Frage der Meinungs- und Pressefreiheit: Es wurden Schranken eingeführt, die denen im deutschen Grundgesetz durchaus ähneln, so zum Schutz der „Würde der ungarischen Nation sowie von nationalen und konfessionellen Gemeinschaften“. Das sind zwar nicht die gleichen Schranken wie die, die im Grundgesetz stehen, es zeigt sich aber, dass weitere Schranken eben nicht die Freiheit festigen, indem sie sie klarer definieren, sondern eben beschränken. Was ja auch einleuchtet.

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