Der Fluchtreflex der Privilegierten oder …
… die Kunst des lautlosen Verschwindens. Wenn Promis von Flucht reden, klingt das oft mehr wie First Class Boarding als nach Verantwortung. Eine Ich-bleibe-zuhause-Kolumne von Henning Hirsch.

Prolog
Als Anfang der 80-er Jahre der Kalte Krieg noch ziemlich kalt war, erzählte mir der Vater einer Schulfreundin – ein mit regionaler Abfallentsorgung zu Wohlstand gelangter Mittelständler – davon, dass er für den Fall, „der Russe“ marschiere in Westdeutschland ein, jederzeit einlösbare Flugtickets nach sowie Daueraufenthaltstitel für Kanada – und zwar für die gesamte Familie, die aus ihm, Ehefrau, meiner Schulfreundin zzgl. zwei Brüdern bestand – im Wandtresor seines Arbeitszimmers aufbewahre. Der Iwan würde nämlich zuallererst erfolgreiche Unternehmernaturen wie ihn an die Wand stellen, weshalb rechtzeitiges In-Sicherheit-bringen die klügste Option darstelle. Im Gegensatz zu ihm befürchtete ich zwar nicht die baldige Invasion der Russen, grämte mich jedoch wegen des demnächst eventuell anstehenden Abschieds von meiner Schulfreundin, denn die mochte ich damals sehr. Als ich zurück im eigenen Elternhaus meinem Vater von den Überlegungen des Nachbarn berichtete und mich danach erkundigte, ob wir nicht ebenfalls solche Vorsichtsmaßnahmen – tunlichst mit Destination Kanada – ergreifen wollten, antwortete er ohne jegliches Zögern: „Nein, das werden wir nicht tun. Probleme löst man nicht durch Flucht, sondern indem man sich ihnen stellt“. Okay, wir hätten das mit Flugtickets und Daueraufenthaltstiteln finanziell auch nicht bewerkstelligen können, denn im Unterschied zum wohlhabenden Nachbarn war mein Vater Beamter mit überschaubarem Einkommen, das zwar im Sommer für drei Wochen Italienurlaub ausreichte, allerdings nicht annähernd gelangt hätte, um unseren Lebensmittelpunkt von Köln nach Vancouver zu verlagern. Aber selbst bei einem Millionen-Lottogewinn wären wir mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht ausgewandert, weil gemäß väterlicher Maxime Patrioten so was nicht tun und meine Mutter sich zudem vor der kanadischen Kälte im Winter sorgte.
Sprung in die Jetztzeit
Vor einigen Tagen erklärte der Satiriker Jan Böhmermann in einem Interview mit der SZ, dass er im Falle einer Machtübernahme durch die AfD konkret über Auswanderung nachdenke:
Wohin er auswandern würde, wollte der Moderator des „ZDF Magazin Royale“ nicht verraten: „Sage ich nicht, ich will ja nicht gefunden werden.“ Er stellte auch gleich klar, dass er das nicht als Witz gemeint hat: „Ist keiner!“
© t-online: „Kein Witz“: Böhmermann will bei AfD-Sieg Deutschland verlassen
Nun gut. Wandern wir einmal durch diesen Gedankengang.
Die Gründe wechseln, der Fluchtreflex bleibt derselbe
Die Gründe fürs Auswandern haben sich in den vergangenen Jahrzehnten gewandelt. Stand in den 70-er und 80-er Jahren die Angst vor der russischen Invasion im Vordergrund (siehe den Prolog oben), war’s nach dem Fall der Mauer oft das deprimierende mitteleuropäische Wetter, das Menschen, die es sich leisten konnten, in Richtung Dauerwohnsitz Gran Canaria & Côte d’Azur trieb, während heutzutage die (angeblich) mangelhafte Sicherheitslage und die (angeblich) drohende Machtübernahme der AfD die Promis zur Migration zwingen.
Mir persönlich ist es einerseits völlig egal, wo die Reichen & Schönen wohnen. Ob Mallorca, Teneriffa, Londoner Westend, Beverly Hills oder eine dieser künstlichen Palmeninseln vor Dubai – sollen sie doch, wenn’s ihnen gefällt. Wer erfolgreich ist, hat andere Möglichkeiten, und warum sollte ich jemandem neiden, dass er im November nicht durch den Bremer Nieselregen stapfen muss? Leben und leben lassen.
Andererseits käme ich persönlich nie auf die Idee, den Wohnort zu wechseln, nur weil das politische Klima rauer wird. Mein innerer Kompass sagt mir: Mitgefangen, mitgehangen. Demokratie bedeutet nicht nur, die Ergebnisse zu feiern, die einem gefallen. Demokratie bedeutet ebenfalls auszuhalten, wenn Millionen Menschen anders wählen als man selbst. Und nein, das heißt nicht, dass man die Hände in den Schoß legen soll. Man kann kämpfen, sich engagieren, widersprechen – von hier, aus diesem Land. Man muss dafür nicht unbedingt von einer mediterranen Dachterrasse aus Tweets des Widerstands in die Timeline schicken.
Ja, der importierte Antisemitismus und die Gewaltbereitschaft einiger Flüchtlinge sind veritable Probleme. Und wenn man auf eine erzreaktionäre, rechtspopulistische Partei in Regierungsverantwortung keine große Lust verspürt – so kann ich auch das nachvollziehen. Jedoch: was wird in Deutschland besser, wenn wohlhabende Bürger den Boden, der ihnen zu heiß wird, fluchtartig verlassen? Wer kümmert sich darum, dass es wieder besser wird?
Egoismus & elitäres Gehabe
Böhmermann – stellvertretend für viele ähnlich argumentierende Promis – demonstriert mit seiner Auswanderungsankündigung zwei Dinge, die mich irritieren:
Erstens: Egoismus.
Wenn jemand öffentlich sagt, er verlasse das Land, sobald die politische Lage ungemütlich wird, dann klingt das für mich nach Flucht aus persönlicher Unannehmlichkeit. Während Millionen Menschen, die keine öffentlichkeitswirksame Stimme haben oder deren Existenzen tatsächlich bedroht wären, bleiben müssen und aushalten. Wenn ein wohlhabender Promi sich verabschiedet, hilft das niemandem, der hier lebt – im Gegenteil, es verstärkt das Gefühl, dass sich die, die gesehen und gehört werden, aus dem Staub machen, sobald es ernst wird.
Zweitens: elitäres Gehabe.
99,9 Prozent der Deutschen können sich nicht mal eben eine Finca auf Mallorca, ein Loft in Manhattan oder eine Villa auf Teneriffa leisten. Für die meisten ist Auswandern keine Option, sondern ein Gedankenspiel aus Fernsehformaten. Wer mit solch einer Ankündigung in die Mikrofone spricht, zeigt vor allem, wie groß die Distanz zwischen Prominenz und Normalbürger inzwischen geworden ist. Und wenn man schon privilegiert ist – muss man dann wirklich so laut damit klingeln?
Vielleicht ist das der Punkt, der mich am meisten stört: Nicht, dass jemand weg will. Sondern dass es öffentlichkeitswirksam inszeniert wird, als politisch-moralischer Akt, als eine Art Notwehrsymbolik. Dabei ist es am Ende einfach ein persönlicher Sicherheits- oder Komfortwunsch. Was auch okay wäre! Aber weshalb muss immer dieses Pathos mitschwingen? Warum nicht einfach sagen: „Ich habe keinen Nerv mehr auf den Stress und gönne mir ein paar Jahre Sonne“? Das wäre ehrlich, sympathisch und unaufgeregt.
Denn machen wir uns nichts vor: Die meisten dieser öffentlichen „Ich wandere aus, wenn …“-Sätze sind keine politischen Analysen. Sie sind Statements fürs eigene Publikum. Wer sich moralisch positionieren will, schlägt oft mehr Lärm als nötig. Das gilt für links wie rechts. Beide Seiten nutzen Pathos, beide Seiten inszenieren sich als bedroht, beide Seiten deklarieren ihre Emotionen gern als Allgemeinbefund.
Doch gerade Menschen, die im Rampenlicht stehen, sollten eigentlich wissen: Öffentlichkeit ist kein Wohnzimmer. Worte haben Wirkung. Und wer den Eindruck erweckt, er wolle sich im Ernstfall als erster vom Acker machen, vermittelt zwei Botschaften – und beide sind unglücklich. Erstens: „Ich traue meinem Land nicht zu, eine schwierige Phase auszuhalten.“ Zweitens: „Ich habe genug Geld, um mir einen Fluchtweg zu kaufen.“
Geh, aber tu es leise!
Ich finde: Wenn man wirklich gehen will – bitte, gute Reise. Aber dann eben leise. Ohne moralische Sirenen, ohne große Erklärungen, ohne Ankündigungsmarathon. Wer im Stillen seinen Lebensmittelpunkt verändert, wirkt souverän. Wer es öffentlich verkündet, erscheint empfindlich.
Zum Schluss noch etwas, das in der ganzen Aufregung oft untergeht: Viele Menschen bleiben. Sie kämpfen weiter, diskutieren weiter, wählen weiter, engagieren sich weiter. Nicht, weil sie heldenhaft sind, sondern weil dies ihr Zuhause ist. Weil man nicht nur dort kämpft, wo die Sonne scheint.
Und vielleicht ist genau das die unaufgeregte Form von Patriotismus, die man selten in Kolumnen und Interviews liest: Hier bleiben, auch wenn’s ungemütlich wird. Nicht aus Pflichtgefühl, sondern aus Verbundenheit. Nicht aus Trotz, sondern weil man weiß, dass kein Land perfekt ist – und dass Demokratie manchmal eben das Bohren dicker Bretter ist.
Deshalb: Geh, aber tu es leise!
PS. Was aus der Nachbarsfamilie geworden ist?
Da die Russen nicht einmarschierten, und der Nachbar Mitte der 80-er zuerst in finanzielle Schieflage geriet, bevor er zwei Jahre später Insolvenz anmelden musste, verfielen sowohl die Flugtickets als auch die Daueraufenthaltstitel. Ich hatte zu dieser Zeit eine andere Freundin und verlor deshalb die bildhübsche Nachbarstochter für lange Zeit aus den Augen. Als wir uns kurz nach dem Corona-Lockdown anlässlich des 40sten Abitur-Jahrestags wiedersahen, unterhielten wir uns freundlich; die damalige gegenseitige erotische Anziehung war jedoch erloschen.
Schreibe einen Kommentar