Völkerrecht: Frieden durch Paragraphen?
Eine Kolumne über die noble Geburt, die brüchige Karriere und das paradoxe Leben des internationalen Rechts von Heinrich Schmitz.

Bild von Gerd Altmann auf Pixabay
Nun wird wieder viel über die angebliche Völkerrechtswidrigkeit des israelischen Angriffs auf das Mullah-Regime diskutiert. Die einen meinen, der arme friedliche Iran, der nur günstigen Ökostsrom aus Atomkraft produzieren möchte, sei ohne Rechtsgrund angegriffen worden, die anderen sehen den Angriff als gerechtfertigten Präventivschlag gegen einen geplanten und auch angekündigten Genozid am israelischen Volk mit Hilfe von Atomwaffen. Letzterer Meinung bin ich auch, aber das ist völlig egal. Denn wo zwei Juristen sind, gibt es mindestens drei Meinungen. Uns außerdem ist es letztlich auch völlig Wumpe, ob die einen oder die anderen im Recht sind. Denn das Besondere des Völkerrechts ist seine weitegehende Machtlosigkeit bei großspurigem Getue und diplomatischem Brimborium.
Stellen Sie sich vor, Sie leben in einer Nachbarschaft. Die Häuser sind unterschiedlich groß, manche haben Alarmanlagen, andere nur einen klapprigen Gartenzaun. Einige Bewohner werfen gern mit Steinen. Andere plündern gelegentlich die Garage des Nachbarn. Und dann gibt es ein großes, fein gebundenes Regelbuch, in dem steht, dass niemand jemand anderem wehtun oder seine Sachen stehlen darf. Willkommen in der Welt des Völkerrechts – der wohl ambitioniertesten Idee der Menschheit seit dem Turmbau zu Babel, nur mit mehr Fußnoten.
Die Geburt eines Ideals – Als Juristen begannen, Weltfrieden zu definieren
Das Völkerrecht wurde nicht in einem lichten Moment göttlicher Erleuchtung geboren, sondern in einem Prozess, der eher an eine langwierige UN-Sitzung erinnert: zäh, widersprüchlich, aber von großen Idealen durchzogen.
Schon in der Antike gab es Vorformen – Verträge zwischen Stadtstaaten, Kriegsregeln bei den Griechen, das römische „ius gentium“. Doch das moderne Völkerrecht hat seine Wurzeln vor allem in der europäischen Staatenwelt nach dem Westfälischen Frieden von 1648. Dort wurde beschlossen, dass Staaten souverän sein sollen und sich gegenseitig nicht in die Suppe spucken dürfen – ein Gedanke, der für viele Monarchen revolutionär klang, für ihre Kanonen aber eher irrelevant blieb.
Im 19. Jahrhundert nahm das Völkerrecht allmählich Form an – befeuert von der auf Kant zurückgehenden Idee, dass Kriege durch vernünftige Regeln vermieden oder zumindest zivilisiert werden könnten. Das Hauptfach im Weltfrieden wurde offiziell, als 1945 die Vereinten Nationen gegründet wurden. Ihr Statut ist bis heute so etwas wie das Grundgesetz des Völkerrechts, allerdings ohne Weltverfassungsgericht, aber mit viel gutem Willen.
Von Paragraphen und Prinzipien – Was das Völkerrecht alles kann (theoretisch)
Im Prinzip ist Völkerrecht ein wunderbar elegantes Konstrukt. Es enthält eine Vielzahl hehrer Prinzipien:
Gewaltverbot (UN-Charta, Art. 2 Abs. 4): Kein Staat darf einem anderen einfach so aufs Dach steigen.
Souveränität: Jeder Staat regelt seine Angelegenheiten selbst. Ob er will oder nicht.
Selbstbestimmungsrecht der Völker: Außer wenn es geopolitisch unbequem wird.
Menschenrechte: Jeder Mensch hat auf dem Papier gleiche Rechte. Auch in Ländern, in denen das niemanden interessiert.
Vertragsrecht: Pacta sunt servanda – Verträge sind einzuhalten. Außer sie sind ungünstig geworden oder gefallen DJT oder Putin nicht mehr..
Auch Kriegsrecht und humanitäres Völkerrecht wurden entwickelt, allen voran durch die Genfer Konventionen. Die Idee: Wenn wir schon Kriege führen, dann bitte mit Regeln. Töten ja, aber bitte nur mit unterschriebenem Protokoll und mit „sauberen“ Waffen.
Kurzum: Das Völkerrecht hat alles, was man für ein gerechtes Miteinander bräuchte. Wenn es denn jemand ernst nehmen würde.
Realitätsschock – Wenn das Recht nicht durchsetzbar ist
Nun ja, hier beginnt das Dilemma. Denn das Völkerrecht hat eine fundamentale Schwäche: Es hat keine Polizei und keinen Gerichtsvollziehr, die es durchsetzen könnten..
Stellen Sie sich vor, ein Gesetzbuch liegt auf dem Tisch, aber niemand darf es durchsetzen, außer die Täter selbst. Genau das ist das völkerrechtliche Paradoxon. Die Vereinten Nationen mögen einen Sicherheitsrat haben, aber dessen fünf ständige Mitglieder – USA, Russland, China, Frankreich und Großbritannien – sind genau jene, die das Völkerrecht am häufigsten „flexibel auslegen“. Und dank ihres Vetorechts verhindern sie jede ernsthafte Konsequenz gegen sich selbst.
Erinnern wir uns:
Irakkrieg 2003: Ein glasklarer Bruch des Völkerrechts. Konsequenzen? Keine.
Annexion der Krim 2014: Ein Verstoß gegen die territoriale Integrität. Folgen? Ein paar Sanktionen, aber keine Rücknahme.
Angriff auf die Ukraine 2022: Eine der brutalsten Verletzungen des Gewaltverbots seit dem Zweiten Weltkrieg. Reaktion? Solidarität, Waffenlieferungen – aber keine völkerrechtliche „Strafe“, die Russland zum Einlenken zwingt.
Und so weiter. Das Völkerrecht wird nicht gebrochen, es wird „interpretiert“. Und wenn der Interpret stark genug ist, nickt der Rest mit besorgtem Blick, aber ohne Taten. The winner takes it all.
Die stille Stärke – Warum es das Völkerrecht trotzdem braucht
Doch jetzt die Überraschung: Trotz all seiner Ohnmacht ist das Völkerrecht nicht komplett sinnlos. Es wirkt – nur eben langsam, indirekt und selten spektakulär.
Zum Beispiel:
Diplomatie wird strukturierter: Verträge, Konventionen, multilaterale Foren – all das bringt Staaten regelmäßig an einen Tisch. Da gibt es auch leckeres Essen und feine Getränke. Und manchmal einigt man sich auf neue Verhandlungen usw.
Normbildung: Auch wenn nicht alle Staaten sich immer daran halten, entstehen durch das Völkerrecht Verhaltensstandards. Sogar Diktatoren behaupten gerne, sie hätten „völkerrechtskonform“ gehandelt.
Langfristige Gerechtigkeit: Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) ist kein sofortiger Retter, aber er sendet ein Signal: Irgendwann könnte Gerechtigkeit doch noch Einzug halten – wie bei Milosevic oder Charles Taylor. Clevere Diktatoren entgehen dem durch Suizid.
Völkerrecht ist wie ein Thermometer im Weltfieber. Es heilt nicht, aber es zeigt uns, wie krank wir sind.
Hoffnung in Paragraphenform? – Wege zu mehr Wirksamkeit
Kann man das Völkerrecht „scharf“ machen? Vielleicht. Ideen gibt es viele:
Reform des Sicherheitsrats: Abschaffung oder Einschränkung des Vetorechts wäre ein Anfang. Doch ausgerechnet die Mächtigen müssten dafür stimmen. Ironie des Schicksals. Können wir also knicken.
Stärkung internationaler Gerichte: Mehr Kompetenzen für den IStGH, vielleicht ein Weltverfassungsgericht? Klingt gut – scheitert aber an der Umsetzung.
Zivilgesellschaft und Medien: Je sichtbarer Verstöße sind, desto größer der Druck. Kein Staat mag es, öffentlich als Paria zu gelten. Das Image ist oft der letzte Hebel, der noch wirkt. Es sei denn, auch das ist einem egal.
Und dann ist da noch die leise Hoffnung auf ein wachsendes globales Bewusstsein. Denn je enger die Welt zusammenrückt – durch Klimakrise, Migration, Technologie –, desto offensichtlicher wird: Ohne Regeln geht es nicht. Selbst der größte Nationalist braucht ein Mindestmaß an globalem Ordnungssystem oder halt die Weltherrschaft..
Zwischen Idealismus und Zynismus
Völkerrecht ist wie ein Orchester ohne Dirigent. Jeder spielt sein eigenes Stück, manche hören gar nicht hin, andere werfen mit Trompeten. Und dennoch – hin und wieder entsteht vorübergehende Harmonie. Wenn sich Staaten an Abkommen halten, wenn Kriegsverbrecher zur Rechenschaft gezogen werden, wenn Menschenrechte verteidigt werden – dann ist das Völkerrecht plötzlich ganz real.
Vielleicht ist das sein größtes Verdienst: Nicht dass es Kriege verhindert, das tut es nämlich nicht, sondern dass es sie als Unrecht sichtbar macht. Dass es ein moralisches Gedächtnis schafft. Dass es langfristige Normen etabliert, die irgendwann stärker sein könnten als Panzer und Raketen.
Das Völkerrecht verhindert keine Kriege, es schafft keinen Frieden, sondern ist allenfalls ein Messgerät für unsere Menschlichkeit. Womöglich hilft das ja schon schon.