Das übliche Gezeter

Das Bürgergeld wird moderat erhöht und sofort erfolgt das altbekannte Lamento, der Staat begünstigt Faulheit. Das ist nicht nur inhaltlich falsch, sondern eine Neiddebatte zu Lasten der Armen unserer Gesellschaft. Eine Man-muss-auch-gönnen-können-Kolumne von Henning Hirsch.

JanBaby auf Pixabay

„Du schreibst gar nichts mehr“, sagt die alte Schulfreundin, als wir uns vor ein paar Tagen bei ihr auf 1 Heißgetränk treffen.
„Was ist das für ein Zeug, das ich hier gerade trinke?“, frage ich.
„Matcha latte. Klar, dass du das nicht kennst.“
„Schmeckt ein bisschen wie abgemähte Wiese“, sage ich.
„Lenk nicht vom Thema ab. Du schreibst schon seit Wochen nichts. Muss ich mir Sorgen machen?“
„Mir fällt nichts Gescheites ein.“
„Dann schreib halt über was nicht so Gescheites. Hauptsache, du schreibst was und hängst nicht den ganzen Tag phlegmatisch rum. Im Vergleich zu dir ist ne Schildkröte ein Rennpferd.“
„Okay, ich überleg mir was. Kann aber dauern.“

„Wusstest du, dass Jupp jetzt Hartz 4 bekommt?“, fragt die alte Schulfreundin.
„Der war doch 30 Jahre als Firmenkundenbetreuer bei der Volksbank beschäftigt.“
„Den haben Sie betriebsbedingt gekündigt und er hat, weil er näher an der 60 als an der 50 ist, kein Jobangebot mehr bekommen. Wegen seinem Alter nicht vermittelbar, hat die Frau vom Arbeitsamt erklärt. Und jetzt muss er mit Hartz 4 über die Runden kommen.“
„Das heißt seit Jahresbeginn Bürgergeld“, sage ich.
„Scheißegal, wie das jetzt heißt. Für Jupp ist es ne mittlere Katastrophe … noch 1 Glas Matcha?“
„Auf gar keinen Fall!“
+++

Bürgergeld ist auch nix anderes als Hartz 4

Seit dem 1. Januar dieses Jahres firmiert Arbeitslosengeld 2 – jahrelang berühmt-berüchtigt als Hartz 4 – unter dem freundlicher klingenden Namen „Bürgergeld“. Von ein paar Kleinigkeiten abgesehen hat sich nichts großartig verändert. So wird das angesparte Vermögen bis zur Höhe von 60.000 Euro in den ersten 2 Jahren des Bezugs nicht angetastet, man kann vorerst in der alten Wohnung bleiben (muss sich also nicht sofort ein Miniapartment suchen), vom evtl. Zuverdienst (aus Mini- & Midijob) dürfen 30 Prozent behalten werden, es gibt kleine Prämien für freiwillige Weiterbildung, und Leistungskürzungen sind in den ersten 6 Monaten nur eingeschränkt möglich. Des Weiteren soll die Kommunikation zwischen Amt (pardon: Jobcenter) und Leistungsempfänger (erneut pardon: Kunde) netter gestaltet werden. Weniger Befehlston, mehr verbale Harmonie.

Die von Grünen und SPD im Wahlkampf angekündigte große Reform war das ganz sicher nicht, eher ein Reförmchen. Das Bürgergeld ist vom bedingungslosen Grundeinkommen so weit entfernt wie ich vom Pulitzerpreis für die Kolumne des Jahres.

Was man zum Start des Bürgergeldes immerhin tat, war die Anhebung des Regelsatzes von damals 449 auf 502 Euro (für Alleinstehende). Ein Tropfen auf den heißen Stein, aber besser als nichts.

Nun soll zum kommenden Januar eine weitere Erhöhung erfolgen: auf 563€, was umgerechnet eine 12%-ige Steigerung bedeutet. Unterm Strich nur ein wenig mehr als der im Gesetz verankerte verpflichtende Inflationsausgleich; aber sofort geht das Gezeter der Gegner wieder los. Warum überhaupt noch arbeiten, dann legen sich bald alle Arbeitsscheuen in die soziale Hängematte, die sollen sich um nen Job bemühen, statt uns Steuerzahlern auf der Tasche zu liegen, was ist mit den Geringverdienern, die am Ende des Monats weniger im Portemonnaie haben als ein Bürgergeld-Bezieher lauten die altbekannten, und bei jedem Inflationsausgleich pawlowartig vorgebrachten, Einwände. Sie werden auch bei ständiger Wiederholung nicht richtiger. Denn: große Sprünge macht niemand mit 563 Euro, und der allergrößte Teil der ALG2-Empfänger wäre heilfroh, wenn er arbeiten könnte, anstatt jeden Tag aufs Neue Bewerbungen zu verschicken, die bei den Adressaten sofort im Papierkorb landen.

Was der Homo oeconomicus von 563 Euro hält

Unterstellen wir mal, der Mensch sei ein reiner Nutzenmaximierer, wie wir ihn im Grundkurs Mikroökonomie an der Uni kennengelernt haben. Er sitzt also zu Hause auf seinem leicht verschlissenen Second-Hand-Sofa, vor sich nen Taschenrechner, und kalkuliert: Lohnt es für mich, mit 563 Euro komplett und für immer aus dem Erwerbsleben auszusteigen und ab sofort nur noch auf meinem Second-Hand-Sofa rumzugammeln?

Ich habe das mal spaßeshalber für mich durchgerechnet: 1500 (besser: 2000) Euro Bares/Monat sind schon gut. Und ich brauch wirklich nicht allzu viel. Allein die letzte Autoreparatur (ja ja, ein böser Verbrenner) hat allerdings zweieinhalb Mille gekostet. Und hin und wieder ein kleiner Skiurlaub (den kalkuliere ich erfahrungsgemäß zwischen 3 u 4k; da sind aber der Skipass u die Brotzeit auf der Piste inklusive) sollte auch drin sein. Dann kaufe ich periodisch nen Schwung Bücher (die ich jedoch nicht alle lese. 50 Prozent verschenke ich unbenutzt weiter) oder rangiere 3 alte Jacketts aus und bestelle spontan 3 neue. Die ganzen Abos für Amazon, Netflix, WOW kommen hinzu, von diversen Privatversicherungen, die man so braucht (vielleicht braucht man sie auch nicht. Egal, ich hab sie trotzdem irgendwann mal abgeschlossen) ganz zu schweigen. Ab und an 1 Date (bei dem nichts rumkommt, ich mach’s trotzdem, um nicht völlig aus der Übung zu geraten), bei dem ich als Boomer die Restaurantrechnung für beide bezahle. Also, wenn ich es mir so richtig überlege: mit weniger als 2 Riesen wird es selbst für nen Minimalisten wie mich schwierig.

Minimalismus ≠ Armut

„Herr Hirsch, Skiurlaub, Streaming-Abos, Restaurants – das ist keinesfalls Minimalismus“ oder „Was Sie als Minimalismus betrachten, ist der gehobene bürgerliche Luxus“, halten Sie mir entgegen?

Unter Minimalismus versteht jeder was anderes, schon klar. Ich benötige jedoch tatsächlich nur wenig materielle Dinge, um glücklich zu sein. Meine Wohnung sieht aus, als ob die Möbelpacker nach 10 Minuten aufgehört haben, Möbel rein zu schleppen und das, was in meinem Kleiderschrank hängt und mir fürs gesamte Jahr reicht, reicht anderen für 1 Woche. Trotzdem würde ich nur ungerne auf Waschmaschine, Spülmaschine und meinen Flachbildschirm-TV verzichten (schaffe die mir aber erst dann wieder neu an, sobald die alten endgültig ihren Geist aufgeben). Ich fahre auch hin wieder gerne weg (im Alter allerdings sehr viel seltener als in der Jugend) und besuche Museen & Kunstausstellungen. Meine jährlichen Restaurantausflüge kann man an den Fingern einer Hand abzählen.

Denn: Minimalismus ist nicht dasselbe wie Armut. Viele verwechseln das miteinander bzw. glauben, die beiden Worte bedeuten dasselbe. Gemäß dieser irrtümlichen Auffassung müsste ein Minimalist leben wie Diogenes = nackt, auf einer Matratze in einer Mönchszelle hausend (bewohnte Fässer sieht man heute kaum noch), das essen, was andere übrig lassen und statt Dating-Restaurantbesuchen in der Öffentlichkeit onanieren? Falls ja: ganz so weit bin ich noch nicht. Speziell mit der Masturbation coram publico habe ich meine Probleme … PS. lebte Diogenes heute, hätte er selbstverständlich ebenfalls zwei, drei Streamingkanäle im Abo. Ob er Skifahren würde? Wahrscheinlich eher nicht. Griechen – v.a., wenn sie nackt rumlaufen – ist es auf den Pisten erfahrungsgemäß zu kalt.

Mer muss och jünne künne

Nachdem wir jetzt den Unterschied zwischen Minimalismus und Armut geklärt haben – zurück zum ursprünglichen Thema: Stimulieren 563 Euro dazu, sich ab sofort auf die faule Haut zu legen, dem geregelten Erwerbsleben für alle Ewigkeit abzuschwören und in Zukunft nur noch auf dem Second-Hand-Sofa vor laut laufendem RTL2-Trash-TV abzuhängen? Eindeutige Antwort = NEIN! Niemand – speziell der Homo oeconomicus nicht – käme auf die blödsinnige Idee, dass ihm 563 Euro Barschaft auf Dauer ausreichen. Damit kann man eine Zeit lang – mehr schlecht als recht – über die Runden kommen; aber das war’s schon. Jeder, der seine 5 Sinne beisammen hat, will deshalb so schnell als möglich raus aus dem Bürgergeld-Bezug.

Das Geschrei, das jedes Mal ertönt, sobald der Regelsatz moderat erhöht wird, ist nur das Schüren einer künstlichen Neiddebatte zu Lasten der Ärmsten unserer Gesellschaft. Und deshalb vor allem nicht christlich (denn aus den Reihen der C-Parteien hört man ja besonders häufig, dass Bürgergeld zu Faulheit verleitet. Ja ja, die FDP sagt das ebenfalls; aber die FDP trägt kein C im Namen).

An dieser Stelle wiederhole ich mich (hatte das schon in früheren Kolumnen zu Hartz 4 geschrieben): Was wir in Deutschland dringend benötigen, ist ein kompletter Systemwechsel beim Arbeitslosengeld. Die partout Nicht-Vermittelbaren werden ehrlicherweise in Sozialhilfe und Frühverrentung transferiert. Für den arbeitswilligen Rest muss der Staat den öffentlichen Sektor ausbauen, um diese Menschen dort unterzubringen. Ja ja, ich weiß, dass zu viel staatlicher Sektor (angeblich) ökonomisch nicht gut ist. Ein paar Millionen Dauerarbeitslose (zzgl. deren Millionen Kinder) sind aber gesellschaftspolitisch gesehen auch nicht gut. Wenn ich mich also zwischen 2 nicht allzu guten Möglichkeiten entscheiden muss, dann nehme ich die, die gesellschaftspolitisch die bessere darstellt.

Es ist und bleibt ein deprimierendes Thema, da nur wenigen der Ausstieg aus Hartz 4 (pardon: dem Bürgergeld) gelingt, und wir diejenigen, die ohne Schuld dauerhaft darin gefangen sind, als Arbeitsscheue und Kostgänger stigmatisieren. Wer Arbeitslosen deren Regelsatz nicht gönnt, sollte mal testen, wie weit er mit 563 Euro kommt – ich verrate es Ihnen = nicht weit. Gepriesen sei der, der das alte Kölner Sprichwort kennt: „Mer muss och jünne künne“ (man muss auch gönnen können).

Henning Hirsch

Betriebswirt und Politologe, Comicleser, Filmjunkie, Bukowski- und FC- (es gibt nur einen FC: nämlich den aus Köln) Fan, trockener Alkoholiker. In die Abstinenz startete er mit einem Roman: Saufdruck. Seitdem tippt er abends Kurzgeschichten und Gedichte. Da die Schreiberei alleine nicht satt macht, verdient er tagsüber seine Kaltmiete und die Kühlschrankfüllung mit Marketing & Orga. Henning Hirsch lebt im Bonner Süden und ist Vater von drei Kindern ... Wer mehr von ihm lesen möchte: www.saufdruck.de

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