Ein starker LGBTQ-Roman. Und warum wir manche Romane politisch lesen, andere nicht.
„Mädchen, Frau, etc…“ von Bernardine Evaristo ist ein politischer Roman im besten Sinne. Ein Werk, das Positionen und deren Entwicklung und Weiterentwicklung aufeinanderprallen lässt, die in dieser Form selten gehört werden, aber dabei alles andere als ein Meinungsroman, der seine Protagonisten schont. Die Literaturkolumne von Sören Heim
Eigentlich möchte ich in einer Besprechung von Mädchen, Frau, etc… gar nicht so sehr politische Positionen referieren und diskutieren. Nicht, um politische Anliegen klein zu halten, sondern weil man dazu tendiert, über das Politische das Ästhetische zu übersehen, und weil diese Behandlung stets nur bestimmten Büchern angedeiht, und nicht etwa den nicht minder politischen etwa von Mann oder Dostojewskij. Dennoch wird man darum nicht herumkommen. Deshalb vorab eine kurze Überlegung zum „Warum?“. Denn sicher ist Mädchen, Frau, etc… ein politisches Buch in dem Sinne, dass seine Figuren politische Haltungen vertreten. Und auch in dem Sinne, dass Autorin Bernardine Evaristo natürlich eine Auswahl trifft, welche Figuren mit welchen Haltungen sie auftreten lässt. Das aber gilt eben auch für eine ganze Reihe anderer Romane, die man nicht vordergründig um ihrer politischen Inhalte willen bespricht.
Vorüberlegung
Erstens scheint mir, ist es dem Konservativen gelungen, tatsächlich so etwas wie die Anmut des Natürlichen zu gewinnen. Nicht nur gegenüber Konservativen und sogenannten „mittigen“ Menschen, sondern überhaupt. Ein Roman mit eher konservativem Setting, das bei Dostojewski ja durchaus weit ins Reaktionäre spielt, ist nichts besonderes. Man kann sich also gleich ganz darauf konzentrieren, wie er gearbeitet ist. Eine Kirchengruppe in einem Stadtroman stellt „Alltag“ dar, eine Anarchokomune wird als „Statement“ wahrgenommen. Das hat eine gewisse Folgerichtigkeit, denn der Konservativismus blieb zumindest oberflächlich bis zum Aufstieg des Thatcherismus über Jahrhunderte sich selbst relativ gleich. Ein Roman dagegen, der durchweg mit thatcheristisch denkenden Figuren bevölkert wäre, würde wohl durchaus verstören. So sehr, dass man ihn wahrscheinlich nur als Satire wahrnehmen könnte (nebenbei: Natürlich ist der Thatcherismus nicht all zu konservativ, sondern Teil einer radikal kapitalistischen Revolutionsbewegung von oben, die sich im Bereich der Rhetorik und der Kulturpolitik teils an Elementen der Linken Counterculture bedient hat).
Zweitens aber gewinnen konservative Schriftsteller daraus eine Lockerheit, die es ihnen erlaubt, ihre Haltung tatsächlich nicht in den Mittelpunkt zu stellen und ein breites Ensemble mittiger und auch sehr progressiver Figuren überzeugend und durchaus mit Sympathie auftreten zu lassen. Dostojewskijs Die Dämonen etwa dürfte in jüngerer Zeit deutlich mehr begeisterten jungen Lesern den Anarchismus schmackhaft gemacht haben als das orthodoxe Christentum, das der Autor doch eigentlich vertritt. Eine solche Souveränität ist natürlich etwas, das die gesellschaftlichen Umstände Menschen, die mit ihnen aktuell zu kämpfen haben, schwer macht.
Der Roman
Mädchen, Frau, etc… ist ein Roman, der von Anfang an klar macht, dass er den Blick auf eine bestimmte, allerdings sehr diverse Gruppe Menschen lenken will, deren hauptsächliches, vielleicht einziges vereinigendes Merkmal ist, dass sie auf die ein oder andere Weise als nicht zur Mehrheitsgesellschaft gehörig betrachtet werden. Die Hauptfiguren, von denen es insgesamt mindestens 12 gibt (mindestens, weil einige Nebenfiguren durchaus ähnlich viel Raum bekommen), sind allesamt lesbisch, bi oder verorten sich außerhalb solcher Zuordnungen. Die meisten sind schwarz und sie selbst oder ihre Eltern haben Migrationserfahrungen. Des Weiteren sind auch viele innerhalb der britischen und/oder amerikanischen Szene geschlechtspolitisch sowie teils auf anderen politischen Feldern engagiert. Der Klappentext verspricht ein Umspannen dieser Thematik über die letzten etwa 100 Jahre, wobei der Großteil der Handlung sich zwischen den Erlebnissen der Generation Ammas, der ersten Protagonistin, die zu Romanbeginn in ihren Fünfzigern vorgestellt wird und ihrer Tochter Yazz, die gerade erwachsen wird, abspielt. Einige Figuren führen zurück bis in die Großelterngeneration.
Und man kann Autorin Evaristo nicht vorwerfen, dass sie mit Welt und Szene, die möglicherweise auch die ihre ist, für die sie in jedem Fall Sympathien zu hegen scheint, zahm umspringt. Wie oft, wenn der Blick akribisch genug auf ein Thema gelenkt wird, treten negative Momente deutlicher hervor. Da sind die Kämpfe der Machtblöcke in einem selbstverwalteten Hausprojekt, die Versuche, ständig wieder neue Ausschlüsse zu produzieren, neue Gruppen zu definieren, die noch diskriminierter sind, und den anderen Regeln aufzudrängen – solche Momente möchte man beinahe pythonesk nennen. Da sind gewaltvolle Liebesbeziehungen, darunter eine, in der eine afroamerikanische Bauarbeiterin und Projektleiterin eine Freundin Ammas über deren schlechtes Gewissen, bisher immer auf weiße Blondinen abgefahren zu sein, mit der Zeit total unterwirft, ihren Freunden entfremdet, und versucht alles bis hin zum Kleidungsstil zu diktieren, bis es den Freunden endlich gelingt, die Frau zu befreien. Da sind viele unglaublich erfolgreiche Menschen, beruflich, künstlerisch und ganz besonders auch sexuell, die dennoch stets darauf bestehen, besonders unterprivilegiert zu sein. Und Evaristo lenkt den Blick immer wieder genau auf diese Widersprüche, indem etwa die Tochter die Mutter mit ihrem „elitären“ Anspruch konfrontiert und ihr gleichzeitig erklärt, ihr frauenzentrierter Feminismus sei sowas von vorgestern, während die Mutter das Gefühl hat, in dem queeren Humanismus, dem sich die Tochter verschrieben hat, verschwämmen langsam alle Kategorien und damit auch die Möglichkeit, überhaupt noch für eine Interessensgruppen politische Verbesserungen durchzusetzen. Und so weiter und so fort. Die Bruchstellen und Konflikte sind so mannigfaltig wie die Erfahrungen von Rassismus und anderen Formen der Ausgrenzung durch die Mehrheitsgesellschaft, wobei die einzelnen Figuren durchaus auch darüber im Clinch liegen, was überhaupt als Diskriminierung zu bewerten sei und wie schwer das jeweils genommen werden sollte. Mädchen, Frau, etc… ist alles andere als ein Meinungsroman, es ist ein Werk, das Positionen und deren Entwicklung und Weiterentwicklung aufeinander prallen lässt, die in dieser Form selten gehört werden, auch wenn sie heute jeder zu kennen glaubt, der irgendwelchen Streitereien auf Twitter folgt.
Die Form
Nun aber endlich zu dem, was meines Erachtens für einen Roman dann doch entscheidend ist: Wie liest es sich? Ist das Ganze gelungen? Ist es schön? Ja. Im Großen und Ganzen ist es das. Der ganze Text ist in einer etwas eigentümlichen Weise in flatternden Zeilen verfasst, die vom Satz her ein wenig an Verse erinnern könnten. Man bekommt das Gefühl, einen Vortrag in einer Art schleifenförmigem Rhythmus zu lesen, bei dem ein Textblock immer in den nächsten hinein schwappt. Ich habe das zwanghafte Schreiben in Versen anlässlich von Annette, ein Heldinnenepos kritisiert. Doch hier stellt sich die Sache anders da. Wo Anne Webers Verse eigentlich recht trockene Prosa sind, deren Rhythmus, so vorhanden, in keiner Weise mit den Zeilenumbrüchen harmoniert, aber auch keinen gewollten Kontrapunkt setzt (vielmehr durchweg ein „ich will aber jetzt halt da Verse stehen haben“ nahelegen, wo eigentlich gar keine auskomponierten Verse stehen), ist die Sprache von Evaristo melodisch, rhythmisch, tatsächlich darauf ausgelegt, Leser durch ein vielschichtiges und durchaus nicht ganz kurzes Buch zu tragen und behauptet sich zugleich nie als strenger Vers, sondern eben als Flattersatz, der nur leise an Verse anklingt. Ja, der ungewöhnliche Satz dürfte sogar eher unnötiges Gimmick sein, die sprachliche Gestaltung funktioniert auch so. Sie macht auch die größte Schwäche des Werkes halbwegs ertragbar. Dass nämlich neue Figuren gern mit einem längeren biographischen Abriss eingeführt werden, der wenig mehr enthält als reine Aufzählung von Lebensdaten und Stationen. Das liest sich manchmal wie Steckbriefe über Dinge, die besser in der Erzählung entwickelt oder verschwiegen worden wären.
Doch das ist nur ein kleiner Kritikpunkt. Mädchen, Frau, etc… ist im Großen und Ganzen sehr lesenswert, gestaltet viele überzeugende Figuren und setzt deren Stimmen glaubhaft voneinander ab. Ein lesenswerter Roman bereits in der mir zur Rezension vorliegenden Übersetzung von Tanja Handels. Ich habe in das Original nur kurz reingelesen, doch gehe ich davon aus, dass man es bei guten Englischkenntnissen definitiv vorziehen sollte. Die rhythmisch-melodische Gestaltung ist Evaristo offenkundig wichtig, und es ist einfach unmöglich, so etwas komplett in eine andere Sprache zu retten. Dennoch: Auch die Übersetzung kann sich sehen lassen. Das Jahr ist noch nicht alt, aber bisher ist das mein Buch des Jahres.
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