Social Media ohne Trump?
Der Spontanrausschmiss des US-Präsidenten aus Twitter und Facebook mag uns zwar emotional erstmal befriedigen, wirft aber die Frage auf: Wer entscheidet da eigentlich anhand welcher Kriterien bei den Social-Media-Giganten? Kann das jedem von uns passieren? Plädoyer für eine Überarbeitung des Regelwerks von Henning Hirsch
Als am späten Abend des 6. Januar der letzte QAnon-Schamane aus dem Kongress vertrieben worden war und sich die Reinigungstrupps aufmachten, die in den heiligen Hallen herumfliegenden Bierdosen und BigMac-Kartons einzusammeln, geschah etwas Ungewöhnliches: Sowohl Twitter als auch Facebook sperrten den irrlichternden US-Präsidenten auf ihren Plattformen. Erstmal begrenzt auf 12 Stunden, dann ausgeweitet bis zum Ende seiner Amtszeit. Während sich dieser Schritt bei Twitter schon länger anbahnte, mutete die plötzliche Rigorosität Zuckerbergs, der in einer Art Spontan-Erweckungserlebnis seine Liebe zu einer Fakenews-freien Online-Welt entdeckt zu haben schien, anfangs doch erstaunlich an. Besser spät als nie, dachte ich und ging beruhigt ins Bett. Nachdem ich eine Nacht drüber geschlafen hatte, sortierte ich die Heldentat der Plattformbetreiber am Morgen danach leicht anders ein: Nämlich als 5 nach 12 Bannstrahl, um im allerletzten Moment die Reißleine zu ziehen und nicht in den trumpschen Abwärtsstrudel mit reinzugeraten. Gelegenheit, Eier zu zeigen, gab es vorher schon zur Genüge: Charlottesville, der Aufruf an „Patrioten“, den Anti-Corona-Maßnahmen von Michigan-Gouverneurin Whitmer nicht Folge zu leisten, die Entsendung paramilitärischer Einheiten nach Portland zwecks Eindämmung der BLM-Demonstrationen mögen hier als Beispiele genügen.
Biegsame Standards und Hausrecht des Betreibers
Völlig losgelöst vom konkreten Fall Trump müssen drei Fragen gestellt werden:
– Reicht das Regelwerk der Social-Media-Betreiber aus?
– Ist es klar formuliert und transparent genug?
– Und die Gretchenfrage: können private Anbieter nach eigenem Ermessen von ihrem Hausrecht Gebrauch machen, oder unterliegen Informationsgiganten doch öffentlichen Regeln bzw. muss Meinungsfreiheit auch von manchen Privaten garantiert werden?
Die (sehr biegsamen) Standards von Facebook und Twitter sind hier und hier zu finden. Nach Studium derselben entsteht der Eindruck, dass eine halbentblößte Titte auf einem Ölgemälde, das ein Rubens-Liebhaber postet, strenger sanktioniert wird als Hass, Hetze, Beleidigung und was es sonst noch alles an Unappetitlichem in den Social-Media-Kanälen zu lesen gibt. Zudem werden die ohnehin nur rudimentären Regeln kaum ernsthaft durchgesetzt. 99 Prozent der Fake-News-Trolle gehen straffrei aus. Was auf entweder grob fahrlässige Nonchalance oder chronisch unterbesetzte Kontrollabteilungen hindeutet. Beides wäre kein Ruhmesblatt für Hightech-Konzerne.
Die Sache mit der Meinungsfreiheit ist tricky bis heikel, weshalb es sich an dieser Stelle empfiehlt, erstmal die bundesdeutsche Generalklausel zu zitieren:
Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.
Art. 5 GG, Abs. 1
Allerdings regelt das Grundgesetz vornehmlich das Verhältnis Bürger-Staat, nicht jedoch die Interaktion zwischen Privatleuten. Und die Social-Media-Kanäle werden nun mal von Privatunternehmen betrieben, die ihre eigenen Regeln aufstellen dürfen. Niemand besitzt ein Dauer-Anrecht auf einen Account und niemand wird durch eine Sperre daran gehindert, seine Meinung trotzdem zu vertreten. Um beim aktuellen Auslöser Donald Trump zu bleiben: Dem stehen ja außerhalb von Facebook & Twitter weitere Kanäle offen, seine Weltsicht zu verbreiten. Beispielsweise Presse Briefings, Pressemitteilungen, TV-Ansprache an die Nation, Teilnahme an öffentlichen Diskussionsrunden, Leserbriefe etc. etc. Ist ja nun nicht so, als ob Social Media die einzige Möglichkeit der Informationsvermittlung darstellt.
Meinungsfreiheit und Last-Minute-Notbremse
Streng genommen bedeutet Meinungsfreiheit nichts anderes als den Staat – von begründeten (und gut zu begründenden) Ausnahmefällen abgesehen – daran zu hindern, Zensur auszuüben. Was Zuckerberg und Dorsey mitunter tun, mag dem ein oder anderen zwar wie Zensur vorkommen; juristisch gesehen machen sie jedoch nur von ihrem Hausrecht Gebrauch, das jedem Privatmann zusteht. Wie ein Kneipenwirt dürfen sie einen pöbelnden Gast vor die Tür bugsieren. Und gepöbelt hatte der 45. US-Präsident in den vergangenen 4 Jahren wahrlich genug. Das hätte für 400 Rausschmisse ausgereicht.
Trotzdem bleibt bei den Social-Media-Riesen ein ungutes Gefühl zurück. Wer entscheidet da eigentlich? Und anhand welcher Kriterien wird entschieden? Kann man Facebook & Twitter noch mit einer Kneipe gleichsetzen, oder müssen aufgrund der globalen Nahezu-Monopolstellung dieser Anbieter nicht doch andere Maßstäbe herangezogen werden? Gibt es bei Facebook ein Experten-Gremium, das eine so weitreichende Entscheidung wie die Sperrung des US-Präsidenten-Kontos trifft oder macht das der CEO alleine? Konnte Herr Zuckerberg nicht mehr schlafen, weil er um den Fortbestand der US-Demokratie fürchtete oder handelte es sich eher darum, um 5 nach 12 panikgetrieben von Bord des unrettbar sinkenden Seelenverkäufers ans rettende Ufer zu springen? Eine Last-Minute-Notbremse, um den ansonsten drohenden massiven Einbruch der Werbeeinnahmen in der allerallerletzten Nanosekunde zu verhindern? Ist Facebook eine Trink- und Saufhalle mit unbeschränktem Hausrecht des Gastronomen oder müssen/ sollten doch Regeln, wie sie für den öffentlichen Bereich gelten, zur Anwendung gelangen?
Die Regelwerke von Facebook & Co. gehören dringend überarbeitet
Nicht nur Angela Merkel sieht die dauerhafte Sperrung der Social-Media-Konten des US-Präsidenten deshalb kritisch: „Die Betreiber sozialer Netzwerke tragen zwar Verantwortung dafür, dass die politische Kommunikation nicht mit Hass und Anstiftung zu Gewalt vergiftet wird. Die Meinungsfreiheit als Grundrecht von elementarer Bedeutung kann aber nur durch den Gesetzgeber, nicht nach der Maßgabe von Unternehmen, eingeschränkt werden“. Hört also die Meinungsfreiheit gar nicht jenseits der staatlichen Garantie auf, sondern umfasst auch Teile des privaten Sektors? Meiner Meinung nach: JA. Denn Facebook & Twitter sind schlichtweg zu groß und kommunikationsmächtig, als dass sie im Bedarfsfall wie ein erzürnter Kneipenwirt handeln dürfen. So sehr die Übernacht-Kündigung Trumps uns emotional gefallen mag, so birgt die Sperre doch den Keim für nachfolgendes Unheil. Was, wenn Zuckerberg in einem Jahr entscheiden sollte, Joe Biden vor die Tür zu setzen, weil der Steuererleichterungen zurücknimmt und/oder eine stärkere Kontrolle der Online-Giganten fordert? Warum Trump und nicht ebenfalls alle anderen Politiker, die offenkundige Falschnachrichten verbreiten und zwischen den Zeilen Unzufriedenheit und Gewalt schüren? Weil The greatest POTUS of all time im Moment des Bannstrahls bereits verloren war, während man das bei den anderen Fakenews-Spreadern halt noch nicht so genau weiß und deshalb mit der Entscheidung lieber abwartet? Das Instrument der Account-Stilllegung aus schierem Opportunismus heraus?
Facebook & Co. werden um eine grundlegende Debatte, was bei ihnen geht und was definitiv nicht geht, nicht herumkommen. Die augenscheinliche Diskrepanz zwischen Tittenphobie und Beide-Augen-zudrücken bei Hass & Hetze ist dem Publikum nicht mehr lange vermittelbar. Da hilft auch ein Leuchtturm-Rausschmiss wie der des US-Präsidenten nicht weiter. Ohne transparente Regeln und die Möglichkeit des ernstgenommenen Einspruchs des Sanktionierten werden die Socialmedia-Plattformen keine Zukunft haben. Anfang 2021 wirkt das alles immer noch stark flickschusterartig zusammengebastelt anstatt seriös geplant und konstruiert.