Magischer Realismus – Ein „Genre“ für Faule?

Clive James hat ohne weitere Erörterung im Guardian den Magischen Realismus als Quelle fast aller überbewerteten Romane bezeichnet. Kolumnist Sören Heim nimmt das zum Anlass, über den Magischen Realismus nachzudenken. Könnte James Recht haben?


‘The most overrated books almost all emerged from a single genre – magic realism’. Man hätte sich zu diesem Statement von Clive James ein paar weitere Ausführungen gewünscht. Denn man mag sich vorstellen, was der Autor meint. Der magische Realismus wirkt wie ein „Genre“, das Abkürzungen bereithält, wo andere Autoren hart arbeiten müssen. Verdammt, ich habe mich mit meinem Plot in eine Ecke geschrieben, aus der ich nicht mehr herauskomme. Hey, lass doch einfach irgendetwas Verrücktes passieren, das in der Welt der Newtonschen Physik unerklärlich ist, aber irgendwie vage symbolisch gelesen kann. Gordischer Knoten zerhackt.

Magischer Realismus als Entschuldigung für Faulheit?

Und stimmt ja, man erlebt immer wieder solche Stellen bei Autoren, die man dem magischen Realismus zuordnen könnte. Aber so weit scheint James gar nicht denken zu wollen, denn dann wäre er gezwungen, tiefer über den Magischen Realismus nachzudenken, und müsste sich die lapidare Aburteilung der gesamten Richtung – „I can’t stand it“ – verkneifen. Denn Magischer Realismus ist ja nicht mehr und nicht weniger als der Versuch, Momente der kollektiven Mythenwelt und des individuellen Unterbewussten in einer Weise symbolisch in die Handlung zu integrieren, die es ermöglicht, das Verhältnis des Menschen zum rein Faktischen, zu dem, womit schlechte Erzieher ihrer Zöglinge nerven („Des iss halt so“), zu reflektieren. Ein derart gearbeiteter Roman muss in der gleichen Weise streng komponiert werden wie einer, der auf magische Elemente verzichtet. Symbole, Einbrüche des Irrationalen bei Marquez, bei Carpentier, aber ebenso etwa bei Gogol, der, ohne den Begriff schon kennen zu können, ganz ähnlich arbeitete, sind keine Zufälle und Verlegenheiten, sondern ebenso durchdacht wie die Indizienkette Conan Doyles, an der sich ein Sherlock Holmes entlang arbeitet. Mythologie des bearbeiteten Kulturraums, menschliche individual- und Massenpsychologie, usw. – all das will auf dem Niveau der Zeit begriffen UND künstlerisch fruchtbar gemacht worden sein.

Nein, magischer Realismus ist KEIN Genre

Dass man dennoch relativ leicht auf die Idee kommen kann, es sei etwas dran, dass „‘The most overrated books almost all emerged from a single genre – magic realism’“, verweist allerdings noch auf etwas anderes bezüglich des Magischen Realismus. Denn es handelt sich eben nicht um ein Genre, genauso wenig wie es sich bei Expressionismus, Präraffaelismus oder dem ominösen Realismus um Genres handelt. Der Magische Realismus ist eine künstlerische Haltung, die dem Selbstverständnis nach konsequent eine Weltanschauung umsetzt. Eine Haltung übrigens, die gleich mehrfach unabhängig voneinander geboren wurde. Genres dagegen sind vor allem in Literatur gegossene Anforderungen des Marktes an die Einordnung von Waren in Geschmacks-Schubladen. Ein Krimi etwa kann magisch-realistische Momente enthalten oder nicht, ebenso ein Liebesroman oder ein Thriller. Daraus folgt auch, dass der Magische Realismus generell mit dem Anspruch auftritt, große Kunst zu schaffen. Er will die Welt begreifen, nicht einfach nur unterhalten. Und ja: Erst das ist überhaupt die Stelle, an der „überbewertete“ Kunst entstehen kann. Wenn sich einer einen abbricht, aber offenkundig meilenweit am Ziel vorbeischießt. Und dann wird das „Magische“ leicht zur schlechten Krücke, die umso deutlicher auf die Verfehlungen des Werkes zeigt. Ein schlechter Krimi ist einfach ein schlechter Krimi. Die Gefahr,dass ein solcher überhaupt erst in die Position gerät, überbewertet sein zu können, ist relativ gering.

Was ist eigentlich „Realismus“?

Ein Wort noch zum Realismus, der James magisch genug sei. Zeigen Sie ihn mir, diesen Realismus. Wenn auch nicht durch Zauberei, so ist das Brechen des faktisch Vorgefundenen, um es in einem ästhetischen Gebilde neu zu arrangieren, so sehr das zentrale Moment von Kunst, dass sich Autoren von Joyce bis Balzac mit Recht Realisten nennen können – und man diese Zuordnung ebenso mit Recht bestreiten kann. Der Impressionismus etwa trat nicht zuletzt an, die Welt der menschlichen Wahrnehmung adäquater darzustellen, und selbst der Magische Realismus behauptete historisch ja das von sich: Endlich auch die Realität des besonders durch den Kolonialismus Verdrängten anzuerkennen und ihr zu literarischem Recht zu verhelfen. In diesem Sinne: Ja. Der Realismus ist magisch, und der magische Realismus ist ein Teil davon.

Sören Heim

Sören Heim ist Journalist, Übersetzer und Schriftsteller. Er ist Träger des kosovarischen Preises für moderne Dichtung „Pena e Anton Pashkut“ (Stift des Anton Pashku) und des Sonderpreises „Favorit von Daniel Glattauer“ der art.experience 2014. In HeimSpiel schreibt Sören Heim mit Heimvorteil zu den Schnittpunkten von Kunst, Kultur und Gesellschaftspolitik. Er beleuchtet die unerwartete Bedeutung ästhetischer Fragestellungen für zeitgenössische Debatten, die mit Kunst auf den ersten Blick kaum Berührungspunkte haben. Und wo immer, sei es in der Politik, sei es in der Ökonomie, sei es gar im Sport, er auf geballten Unsinn und Unverstand trifft, wagt der Kolumnist auch das ein oder andere Auswärtsspiel. Bisher erschien die Kolumne HeimSpiel im Online-Debattenmagazin The European. Daneben veröffentlicht Heim in mehreren Literaturzeitschriften vornehmlich Lyrik und dichte Kurzprosa, und bloggt auf der eigenen Homepage aus seinem Zettelkasten. Monographien: Kleinstadtminiaturen: Ein Roman in 24 Bildern. Girgis Verlag: 2016 – ISBN: 978-3939154181.Cover nur Front Gewogene Worte: Nachdichtungen aus dem Chinesischen. edition maya: 2016 – ISBN: 978-3930758463.cover kathaStrophen. Experimente in Rhythmus und Melodie. Chiliverlag: 2017 -ISBN: 978-3943292541.FrontCover 2_bleu Algenhumor: Gedichte für das dritte Jahrtausend. Girgis Verlag: 2016 – ISBN: 978-3939154228.algen Audio-Exklusiv: La vie! La jeunesse! – Hörmordkartell 2017

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