Mutmaßlicher Babymörder frei
Ein vor dem Landgericht Frankenthal unter Mordanklage stehender Mann wird nach zweieinhalb Jahren aus der Untersuchungshaft entlassen und ist jetzt erst einmal frei. Ein Skandal?
Der Mann, ein jetzt 35 Jahre alter Deutscher, soll seine zwei Monate alte Tochter aus dem zweiten Stock geworfen und damit getötet haben. Mord, gefährliche Körperverletzung und Geiselnahme in Tateinheit mit versuchtem Mord und gefährlicher Körperverletzung wird dem Angeklagten mit der Anklage vorgeworfen. Sein Fall wird bereits zum zweiten Mal vor dem Landgericht Frankenthal verhandelt. Der erste Prozess, der im November 2016 begann, war wegen Erkrankung der Vorsitzenden Richterin schon nach 23 Verhandlungstagen geplatzt. Im Dezember 2017 begann die Hauptverhandlung erneut.
Nun entließ das OLG Zweibrücken den Mann aus der Untersuchungshaft, nachdem das Bundesverfassungsgericht der von dem Verteidiger, Rechtsanwalt Alexander Klein aus Ludwigshafen eingelegten Verfassungsbeschwerde stattgegeben hatte.
Ein Monster ist frei
Nun sei ein Monster frei, liest man in den sozialen Netzwerken. Die Schuld daran habe der Verteidiger und das Bundesverfassungsgericht. Dieses Land sei kein Rechtsstaat, wenn man solche Typen laufen lasse.
Die Wut und das Unverständnis über die Entlassung eines Angeklagten, dem derart schreckliche Taten vorgeworfen werden und der diese durch seinen Verteidiger insoweit bestätigte, als er diesen erklären lies, „er habe seine Tochter mit eigenen Händen umgebracht und die andere verletzt“, kann ich gut verstehen. Ein Grund mehr, sich die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einmal genauer anzusehen.
Das BVerfG stellt bei seiner Entscheidung auf die Grundrechte des Angeklagten aus Art. 2 GG ab:
Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleistet jedermann die Freiheit der Person und nimmt einen hohen Rang unter den Grundrechten ein. Das kommt darin zum Ausdruck, dass Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG die Freiheit der Person als „unverletzlich“ bezeichnet, Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG ihre Beschränkung nur aufgrund eines förmlichen Gesetzes zulässt und Art. 104 Abs. 2 bis 4 GG besondere Verfahrensgarantien für ihre Beschränkung statuiert.
Der Freiheitsentzug ist grundsätzlich nur rechtskräftig Verurteilten zuzumuten. Dieser Grundsatz wird bei der Untersuchungshaft insoweit durchbrochen, als die Anwesenheit des Angeklagten in der Hauptverhandlung gesichert werden soll.
Dabei muss den vom Standpunkt der Strafverfolgung aus erforderlich und zweckmäßig erscheinenden Freiheitsbeschränkungen der Freiheitsanspruch des noch nicht rechtskräftig verurteilten Beschuldigten als Korrektiv gegenübergestellt werden, wobei dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eine maßgebliche Bedeutung zukommt.
Mit zunehmender Haftdauer gewinnt der Freiheitsanspruch des Angeklagten zunehmendes Gewicht und verlangt damit, dass das Gericht sich ziemlich zügig mit seinem Fall zu beschäftigen hat. Die U-Haft ist schließlich nicht als Strafe gedacht. Deshalb darf sie auch durch trödeliges Verhalten der Gerichte nicht unnötig in die Länge gezogen werden. Das Zauberwort lautet hier Beschleunigungsgebot.
Das Beschleunigungsgebot in Haftsachen verlangt, dass die Strafverfolgungsbehörden und Strafgerichte alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen ergreifen, um die notwendigen Ermittlungen mit der gebotenen Schnelligkeit abzuschließen und eine gerichtliche Entscheidung über die einem Beschuldigten vorgeworfenen Taten herbeizuführen
Bereits in früheren Entscheidungen hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass bei absehbar umfangreicheren Verfahren stets eine vorausschauende, auch größere Zeiträume umgreifende Hauptverhandlung mit mehr als einem durchschnittlichen Hauptverhandlungstag pro Woche notwendig ist.
Unschuldsvermutung
Ja, aber der Mann hat doch ein Baby getötet, den darf man doch nicht mehr rauslassen, könnte man denken. Aber dem ist nicht so, denn allein die Schwere der Tat und die sich daraus ergebende Straferwartung können bei erheblichen, vermeidbaren und alleine dem Staat zuzurechnenden Verfahrensverzögerungen nicht zur Rechtfertigung einer ohnehin schon lang andauernden Untersuchungshaft dienen. Irgendwann ist Feierabend mit U-Haft und das muss jeder Strafkammer bewusst sein. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist ja bekannt und von den Gerichten zu beachten. Solange jemand nicht rechtskräftig verurteilt ist, gilt die Unschuldsvermutung.
Das LG Frankenthal und mit ihm das OLG Zweibrücken hatten die Entlassung aus der U-Haft zunächst mit der Begründung verweigert, die Verfahrensverzögerung sei aufgrund einer Überlastung der Kammer und damit quasi unverschuldet eingetreten. Diese Argument ließ das BVerfG allerdings nicht gelten.
Die nicht nur kurzfristige Überlastung eines Gerichts kann insofern niemals Grund für die Anordnung der Haftfortdauer sein. Vielmehr kann die nicht nur kurzfristige Überlastung eines Gerichts selbst dann die Fortdauer der Untersuchungshaft nicht rechtfertigen, wenn sie auf einem Geschäftsanfall beruht, der sich trotz Ausschöpfung aller gerichtsorganisatorischen Mittel und Möglichkeiten nicht mehr innerhalb angemessener Fristen bewältigen lässt (BVerfGE 36, 264 <273 ff.>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 30. Juli 2014 – 2 BvR 1457/14 -, juris, Rn. 23). Die Überlastung eines Gerichts fällt – anders als unvorhersehbare Zufälle und schicksalhafte Ereignisse – in den Verantwortungsbereich der staatlich verfassten Gemeinschaft. Dem Beschuldigten darf nicht zugemutet werden, eine längere als die verfahrensangemessene Aufrechterhaltung des Haftbefehls nur deshalb in Kauf zu nehmen, weil der Staat es versäumt, seiner Pflicht zur rechtzeitigen verfassungsgemäßen Ausstattung der Gerichte zu genügen.
Der eigentliche Skandal
Und da trifft das BVerfG den Nagel auf den Kopf und benennt glasklar den eigentlichen Skandal. Die Exekutive in Form der Landesregierungen lässt die Justiz bei ihrer wichtigen Arbeit im Stich, indem sie ihr die notwendige materielle und personelle Ausstattung seit Jahren verweigert. Es gibt zu wenig Richter, zu wenig Staatsanwälte und zu wenig übriges Personal. Die Überlastung der Gerichte ist ein Systemfehler. Dies sage ich hier nicht zum ersten Mal, aber vielleicht begreift die Politik ja irgendwann einmal, dass ein Rechtsstaat nur dann funktionieren kann, wenn man seine Justiz so ausstattet, dass sie ihre Arbeit auch in angemessener Zeit erledigen kann. Vielleicht begreift sie, dass auch bei Gericht Menschen arbeiten, die krank werden können, die ein Anrecht auf Erholung durch Urlaub haben und die selbst wenn sie an die Grenzen ihrer körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit gehen, nicht auf Dauer das Pensum von anderthalb oder zwei Menschen leisten können. Dass permanent überlastete Richter auch nicht die Qualität ihrer Arbeit dauerhaft auf hohem Niveau halten können, müsste auch jedem klar sein. Wenn das nicht bald begriffen wird, werden noch mehr Mordverdächtige freigelassen werden müssen.
Nach den Feststellungen des Gerichts hat die Strafkammer nur an 0,65 Tagen pro Woche verhandelt und damit die absoluten Mindeststandards erheblich unterschritten. Es muss durchschnittlich an mehr als einem Tag in der Woche verhandelt werden. Und mit diesen Mindeststandards ist es nun einmal so, dass deren Unterschreitung Konsequenzen haben muss. Da kann man nicht, aus welchen Gründen auch immer, die „Grenzwerte“ neu definieren, nur damit man eine U-Haft mal eben so verlängert.
Ja, es ist ein Skandal, wenn ein Mordverdächtiger aus der U-Haft entlassen werden muss. Es ist eine Niederlage. Aber es ist aber kein Skandal des Bundesverfassungsgerichts. Das hat das getan, was seine Aufgabe ist. Die Grundrechte zu schützen. Und es hat gezeigt, dass es das ohne Ansehen der Person tut und nur verfassungsrechtliche Maßstäbe anwendet. Diese Entscheidung ist keine Klatsche für den Rechtsstaat, nein, es ist der Sieg des Rechts über die Beliebigkeit.
Niemand muss nun befürchten, dass der Angeklagte Gelegenheit bekommen wird, sich dem Verfahren zu entziehen. Da wird die Polizei ein waches Auge darauf haben müssen. Ob dem Angeklagten mit seiner unverhofft neuen Freiheit tatsächlich ein Gefallen getan wurde, bleibt abzuwarten. In solchen Fällen muss man leider immer damit rechnen, dass durchgeknallte Zeitgenossen dem Angeklagten nach dem Leben trachten und womöglich wird er sich bald wieder nach einer Zelle sehnen, die ihm zumindest vor der Außenwelt Schutz bietet.
Pakt für den Rechtsstaat
Wenn diese Entscheidung dazu führt, dass auch breitere Bevölkerungsschichten sich einmal drüber empören, wie beschissen die Politik mit unserer Justiz umgeht, was sie ihr alles aufhalst ohne ihr die dafür notwendigen Mittel bereitzustellen, dann wäre das eine gute Sache. Denn niemand, auch ich nicht, kann damit zufrieden sein, wenn ein mutmaßlicher Mörder frei herumläuft. Ihn wegzusperren bedarf allerdings rechtsstaatlicher Mittel und die lagen in diesem Fall nicht mehr vor.
Heute morgen hörte ich zufällig im Radio, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel und die Ministerpräsidenten sich auf einen Pakt für den Rechtsstaat geeinigt hätten. Ach was. Insgesamt soll der Bund den Ländern 400 Millionen Euro für 2000 neue Richter- und Staatsanwaltsstellen. Das dürfte zwar bei Weitem nicht ausreichen, um die vorhandenen Lücken zu schließen, aber es ist immerhin einmal ein Schritt in die richtige Richtung. Um wirklich etwas zu bewirken, müsste man ein paar Milliarden in die Hand nehmen. Macht man ja bei Hilfen für Banken auch schon mal. Aber immerhin, die Botschaft scheint angekommen zu sein. Vielleicht hören wir ja noch einmal, wir schaffen das.