Das Raubein und die zarten Klänge

Eine Kolumne für Gerard Depardieu zu dessen 70. Geburtstag. Von Ulf Kubanke


Frankreich in den 50er Jahren: Mondlicht ergießt sich über den Grabhügel. Im Schutze der Nacht macht sich ein kleiner Junge mit Schippe und Schweiß ans schaurige Werk. Sein Ziel sind die Taschen Verstorbener mit ihren Beigaben von Schmuck und anderen verkäuflichen Wertsachen. Grimmig entschlossen fleddert der noch nicht einmal Halbwüchsige die vor ihm liegenden Ruhestätten. Gruselig, traumatisierend, belastend, ekelerregend, schändlich? Eine Tragödie für das lebhafte Kind? Sicherlich all das! Doch was tut man nicht alles, wenn man in eine bettelarme Famile aus Analphabeten hineingeboren wird, wenn die Geschwister Hunger leiden und auch der eigene Magen regelmäßig knurrt wie ein waidwundes Tier.

Nichts deutet zu diesem Zeitpunkt darauf hin, dass aus dem Dreikäsehoch mit wild flackernden Blick und dem heftigen Temperament viele Jahre später eine der größten kulturellen Ikonen der Grande Nation werden soll; ein Mann, der sich zum weltweiten Exportschlager französischer Darstellerkunst mausert, ein Bauch, dessen niedlicher Frohsinn als Obelix Kinderherzen höher schlagen lässt. Nun feiert Gerard Depardieu, dessen Biografie wie kaum eine zweite das Auf und Ab des prallen Lebens verkörpert, sein 70stes Wiegenfest.

Grund genug, diesen harten Burschen, diesen lustvollen Agent Provocateur etwas näher unter die Lupe zu nehmen. Wem es eines Indizes bedarf, dass nicht immer die Verhältnisse das Tun bis in alle Ewigkeit prägen, wird hier fündig. Denn niemand hätte auch nur einen Pfifferling auf das verwahrloste Kind gesetzt, dessen Existenz vom ersten Atemzug an bereits ein stetiges Ringen ums nackte Überleben einläutete.

So erblicken seine Augen das Licht der Welt trotz hartnäckiger Abtreibungsversuche der eigenen Mutter mittels Stricknadeln und allerlei weiteren scharfen Gegenständen. Von Beginn an bleibt er sich selbst überlassen. Es folgen häusliche Gewalt, bitteres Elend, Abbruch der Schule und Prostitution als zehnjähriger Strichjunge. „Wenn die Typen mit Fressen wie Lino Ventura, die Lastwagenfahrer, die Schausteller anboten, mir einen zu blasen, nannte ich sofort meinen Preis.“. Alles mündet in harscher Jugendkriminalität samt organisiertem Zigarettenschmuggel sowie qualvollen Aufenthalten im Jugendarrest. Überall bleibt er Überlebenskünstler.

Sein unbändiger Wille und die hervorbrechende musische Begabung fungieren als Assistenten eines Schicksals, das sich für ihn gottlob peu a peu zu wenden beginnt. Als wundersame und doch für ihn zutiefst realistische Stoffe und prägende Schlüsselrollen preist Depardieu gern Dumas “Der Graf Von Monte Christo”, Hugos “Die Elenden” und besonders Rene Fauchoirs “Boudu”. Letzteres ein Stück über einen Clochard, der Zugang zur Welt der Reichen und Privilegierten erhält, die gesamte ihn aufnehmende Familie inklusive des Zimmermädchens verführt und alle von ihren Neurosen heilt. Nach Renoirs Erstverfilmung adaptierte Hollywood die Vorlage in den 80ern als “Zoff In Beverly Hills” mit Nick Nolte in Depardieus Rolle. Zwar drehte Depardieu die Filmvariante erst 2005. Dennoch ist die Rolle ebenso von ihm geprägt wie umgekehrt, da sie zu seinen frühen Schauspielerfahrungen am Theater der späten 60er und frühen 70er zählt.

Die Liste weiterer Leinwandverdienste reicht von hier zum Mond. Er war die massige Hälfte an der Seite von Pierre Richard in drei liebenswerten Kultkomödien. Filmkenner schätzen sein Auftreten in Bertoluccis „1900“, Literaten seine „Balzac“-Verkörperung und viele Gothics schwören auf „Vidocq“. Auch als Kolumbus machte er in “1492” eine gute Figur. All diese Perlen lässt man nun in etlichen Lobpreisungen berechtigt Revue passieren.

Und dennoch: Wie ein Blitz fährt alle Widersprüchlichkeit dieser Welt in die Knochen des Mannes. Skandale, Eklats, Tragödien? Er bietet dem Publikum dekadenlang alles in Form seines öffentlichen Lebens. Freundschaft zu Putin, die Abrechnung seines Sohnes Guillaume, der kurz danach verstirbt, Exzesse, Alkohol am Steuer, Schlägereien mit Fotografen, die legendäre Pinkelaffäre? All das verziehen die Franzosen und der Rest des Planeten dem Charismatiker. Denn wer will schon Heilige vergöttern, wenn um die Ecke Hedonisten und gefallene Helden warten? Entsprechend liebevoll nennen die Franzosen ihr Enfant Terrible “Gégé“.

Gleichwohl geht auch ein solcher Krug nur solang zum Brunnen, bis er bricht. “Ich lebe mich!” ist sein oft bauchladenhaft postuliertes Credo. Solch ein Glaubensbekenntnis funktioniert bei Stars indes nur, solange dem Motto keine Dritten zum Opfer fallen. Doch eben dieser Verdacht steht in seiner unappetitlichsten Form – Vergewaltigung und sexueller Übergriff – seit kurzem im Raum. Es gibt juristische Schritte einer jungen Schauspielerin, die ihn eben dieses Delikt für August diesen Jahres beschuldigt. Die Staatsanwaltschaft bestätigt Vorermittlungen. Es gibt jedoch keine Anklage.

Nun könnte hier eine langwierige, philosophische Erörterung folgen, welche die Unschuldsvermutung samt der Frage, wie weit man Kunst vom Künstler trennen sollte, erörtert. Doch das ist nicht nötig. Bezüglich der Vorwürfe ist der Ausschlag des Pendels noch ungewiss. Von Weinsteins oder Cosbys Schuld bis zur Verleumdung à la Connor Oberst bleibt alles möglich. Und die Kunst selbst kann seriöserweise ohnehin lediglich dort in Frage stehen, wo sie analog Riefenstahl oder Breker kein Eigenleben führt und Teil des kriminellen Agierens wird. Caravaggios oder Dalis Bilder hingegen sind nicht deshalb angreifbar, weil der eine mutmaßlich ein Mörder war und der andere womöglich arg mit Francos Faschismus kuschelte. Werner Herzogs Filme werden nicht deshalb fragwürdig, weil Hauptdarsteller Kinski womöglich seine Tochter missbrauchte.

Genau so verhält es sich mit einem der größten Talente Depardieus: Des Franzosen tiefe Liebe zur Musik und des eigenen Schaffens in dieser Sparte! Es lohnt sich sehr, diese außerhalb seiner Heimat zu wenig beachtete Facette zu ergründen. Denn sie steht für sich und offenbart ein wichtiges Puzzle im Mosaik Depardieu, das unabhängig von Kinoleinwänden und Skandalen das Gesamtbild vervollständigt.

Er machte nämlich etwas Produktives aus allen negativen Erfahrungen der Jugend. Sowohl Depardieus Rebellentum als auch manch erlernter Kniff der Schauspielerei tragen ihren Teil dazu bei, ihn gleichermaßen zum kreativen Sender wie sensitiven Empfänger zu formen. Aufbegehrende Chansoniers wie Brel oder Gainsbourg prägten ihn ebenso, wie große Komponisten Marke Ennio Morricone. Mit Letzterem spricht er ausgiebig 1976 bei den Dreharbeiten zu „1900“ und saugt alle Emotion in dessen Filmmusik auf wie ein Schwamm.

Mehr als zwei Dekaden später revanchiert Depardieu sich. Für den Hommage-Sampler „Canto Morricone“ nimmt er dessen „Ricordare“ und „Effacer Le Passé“ auf. Bereits ab 1979 beginnen Depardieus musikalische Gehversuche ein veritables Eigenleben. Für den den Streifen „Je Vouz Aimee“ an der Seite von Catherine Deneuve und Jean-Louis Trintignant beeindruckt er die Legende Serge Gainsbourg. Gemeinsam verfassen sie das Lied „La P’tite Agathe“. Dergestalt aufgeweckt erblüht seine musikalischer Instinkt und nimmt Fahrt auf.

Voll audiophiler Leidenschaft wirft er sich ins eigene Debütalbum „Ils Ont Dit Moteur… Coupez!“. Seine damalige Frau, Elisabeth Depardieu, hat erheblichen Anteil an den Liedern. Obwohl die LP anno 1980 floppt, entwickelt sie sich im Lauf der Zeit zur ebenso gesuchten wie verehrten Rarität. In französischsprachigen Ländern genießt die Platte längst ihren verdienten Ruhm.

Mitte der 80er folgt eine Kollaboration mit der bedeutenden Chanteuse Barbara. Beide stehen gemeinsam nicht nur als Schauspieler auf den Brettern. Sie komponieren auch die Songs für das erfolgreiche Bühnenstück „Lily Passion“. Der Soundtrack erweist sich als wichtiger Einfluss in Depardieus musikalischer Laufbahn. Danach singt er diverse Filmmusiken wie etwa „Mon Pere, Ce Heros“/“Mein Vater Der Held“.

Qualitativ herausragend gestaltet sich seine Zusammenarbeit mit dem Musik-Avantgardisten Hector Zazou. Für die grandiose Rimbaud-Ehrung „Sahara Blue“ nimmt er 1992 an dessen erlesenem Team teil. Zwischen bedeutenden Namen wie John Cale, Dead Can Dance oder Bill Laswell blamiert er sich nicht. Depardieu trägt „I’ll Strangle You“ als Ouvertüre des Albums vor, deren Inbrunst sich aus tief empfundener Seelenverwandtschaft zum großen Poeten speist.

Somit verkörpert Depardieus Werk jene kompromisslose Indvidualität samt Freigeistigkeit der Kunst, welche verdeutlicht, wie nützlich solch Eigensinn der Gesellschaft in philosophischer wie unterhaltender Hinsicht sein kann. Als Gipfel dieser Entwicklung erscheint 2017 „Depardieu Chante Barbara“. Zum 20. Todestag seiner obig erwähnten, engen Freundin gelingt ihm eine angemessen tiefe Verbeugung vor ihrem bedeutenden Werk. Daneben erobert der Koloss ihre Melodien a la “Göttingen” in typisch gerardesker Mischung aus Sensibilität, Zuneigung und zupackendem Gestus. Das erwähnte Motto “Ich lebe mich selbst” ließ ihn zumindest in der Musik jede Selbstbezogenheit erfolgreich aufgeben, ohne die eigene Strahlkraft zu verleugnen. 


Foto: Official Press and Promo-Photo 1985 by G. Depardieu

Ulf Kubanke

Ehemaliger Anwalt; nun Publizist, Gesprächspartner und Biograph; u.a. für Deutschlands größtes Online-Musikmagazin laut.de.

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