Wie der Osten vor dem Zusammenbruch gerettet wurde

Am Tag der Einheit erinnert sich Kolumnist Henning Hirsch an seine Zeit als Privatisierer bei der Treuhand in Berlin


Am Jahrestag der Einheit entdecke ich mal wieder Kommentare, die der Treuhand die Hauptschuld am (angeblichen) Misslingen des reibungslosen Zusammenwachsens der beiden deutschen Staaten in die Schuhe schieben wollen. Vom Ausverkauf des ostdeutschen Tafelsilbers lese ich da bis hin zu flächendeckenden betrügerischen Machenschaften, die von den Mitarbeitern der Behörde begangen worden seien. Das ist Bullshit. Wird höchste Zeit für eine kleine Gegendarstellung.

Vorgeschichte

Die Treuhandanstalt als Holding der volkseigenen Betriebe wurde am 1. März 1990 vom damaligen Ministerrat der DDR als Anstalt zur treuhänderischen Verwaltung des Volkseigentums ins Leben gerufen. Die Hauptaktivität bestand in dieser ersten Phase in der Entflechtung der Kombinate und Umwandlung der herausgelösten Einheiten in Kapitalgesellschaften. Die drei Monate später nachgelieferte Grundlage bildete das von der Volkskammer am 17. Juni 90 beschlossene Gesetz zur Privatisierung und Reorganisation des volkseigenen Vermögens. Die neu geschaffene Holding umspannte im Sommer 1990 rund 8500 (bis 1992 wuchs die Zahl aufgrund weiterer Abspaltungen auf circa 14.000) Gesellschaften, in denen vier Millionen Menschen beschäftigt waren. Bei einer Bestandsaufnahme, die unmittelbar nach dem Tag der Wiedervereinigung erfolgte, stellte sich heraus, dass Personal- und Sachmittelausstattung völlig unzureichend waren, sodass Bonn sofort erfahrene Spitzenbeamte und Manager nach Ostberlin entsandte. Die Behörde wurde dem Bundesfinanzministerium angegliedert. Organisiert mit einer Kopfstelle in der Berliner Wilhelmstraße und 15 Niederlassungen. Die Zentrale war aufgeteilt in sechs Unternehmensbereiche, die wiederum in Direktorate untergliedert wurden. Das Aufgabenfeld der THA – das ist wichtig – erstreckte sich einzig auf das betriebsnotwendige Vermögen der neu geschaffenen Unternehmen. Die nicht-betriebsnotwendigen Immobilien wurden in die TLG (Treuhand-Liegenschaftsgesellschaft) überführt. Diese handelte großenteils eigenständig und war den operativen Direktoraten der THA gegenüber nicht weisungsgebunden.

Frisch vom Studium in eine neue Welt

Da die Regierung Kohl auf rasche Erledigung der Mammutaufgabe drängte, wozu eine Menge ökonomisch und juristisch ausgebildeter Fachkräfte benötigt wurden, akquirierte die Personalabteilung der THA nun verstärkt an den BWL- und rechtswissenschaftlichen Fakultäten der alten Bundesländer nach schnell einsetzbaren Berufsanfängern. Auf diesem Weg verschlug es auch mich an einem nebligen Herbstabend 91 direkt im Anschluss an meine letzte Klausur nach Ostberlin.  Aus dem Schwabinger Studentenviertel in die für mich völlig fremde Welt des wilden Ostens. »Gewöhnen Sie sich an frühes Aufstehen«, sagte mein neuer Chef, den ich an der Bar des Hotels, in dem wir alle monatelang untergebracht waren, kennenlernte. »Was bedeutet früh?«, fragte ich. »Die Ostmitarbeiter beginnen um sechs. Bei Ihnen reicht 7«, sagte er. »Oh!«, antwortete ich. Dass die Arbeitszeiten für uns Westler oft bis 22 Uhr dauern sollten, verschwieg er. Aber sowas ist ja alles nur ne Sache der Gewöhnung. »Wo soll ich mich melden?«, erkundigte ich mich noch. »U6, Direktorat Chemie, Abteilung Pharmazie. Sehe Sie dann morgen zur ersten Lagebesprechung«. Ich trank ein Bier, stellte den Wecker auf 5.30, denn ich wollte auf keinen Fall zu spät zu meinem ersten richtigen Job erscheinen. Die Einarbeitungsphase dauerte drei Monate und bestand zu 90 Prozent aus Praxis: Ich begleitete meinen Boss, einen erfahrenen Bayer-Manager, der für ein Jahr von Leverkusen an die Spree gewechselt war, zu täglich wechselnden Verhandlungen. Wir reisten über Land, lernten jede Region und jede Stadt des Ostens kennen, inspizierten die Firmen, unterhielten uns mit Geschäftsführung, Betriebsrat, Lokalpolitikern, Bankern, möglichen Investoren, Erbengemeinschaften. »Streng genommen müsste man all diese Unternehmen schließen. Keins von ihnen würde auf unserem freien Markt von sich aus überleben«, meinte der altgediente Chemieprofi, während wir irgendwo im Niemandsland zwischen Thüringen und Sachsen-Anhalt über schlecht asphaltierte Straßen rollten.

Zehn Prozent des Kurztraineeprogramms bestanden aus Tagesseminaren zu gesellschaftsrechtlichen Vertragsfragen und Aktenstudium. Nach einem Vierteljahr wurde ich aus der Ausbildung entlassen, erhielt meine eigenen Firmen nebst Deadlines für deren Privatisierung sowie ein Einzelzimmer im vierten Stock des Südflügels der Treuhandzentrale mit Blick auf den Innenhof zugeteilt. Da saß ich nun mit ner Menge neuer Akten, Telefon und PC und durfte mir gemeinsam mit zwei anderen Referenten – so lautete unsere offizielle Bezeichnung – eine Sekretärin teilen. Am kommenden Tag schon die erste eigenständige Verhandlung: mit einer Erbengemeinschaft, die eine schmuddelige Pillenfirma, die dem Großvater Anfang der 50er weggenommen war, zurückhaben wollte. Natürlich nicht nur den Betrieb als solchen, sondern ebenfalls ordentlich Anschubfinanzierung sowie nicht-betriebsnotwendige Immobilien rückübereignet. Das Übliche halt. Würden sie mit hoher Wahrscheinlichkeit alles bekommen und dann den Laden sofort nach Ablauf der Sperrfrist schließen. Erben waren die Schlimmsten. Bei denen drehten sich die Gespräche ständig nur um Kohle. Investoren waren mir lieber. Die wollten zwar ebenfalls Geld für ihre Arbeitsplatzgarantien, aber bei denen bestand wenigstens Hoffnung, dass sie ihr Augenmerk tatsächlich auf Gesundung und Fortführung der Firma richteten und es ihnen nicht bloß um den schnellen monetären Vorteil ging.

Aber als Privatisierer konnte man sich seine Verhandlungspartner nicht aussuchen. War ja jetzt nicht so, dass die Interessenten für die maroden Buden Schlange standen. Sobald sich Erben meldeten, deren Ansprüche juristisch plausibel erschienen, mussten wir uns mit denen zusammensetzen. Ob uns die Nasen nun gefielen oder nicht. Intern rechneten wir: Was kostet uns diese Privatisierung? Und zwar in Relation zu: Arbeitsplatz, Branche und Region. Ich war in den drei Jahren meiner Tätigkeit in der THA bei keinem einzigen Deal dabei, in dem über einen tatsächlichen Kaufpreis verhandelt wurde. Vom Kaufpreis – falls es überhaupt mal einen gab – wurde stets die notwendige Anschubfinanzierung subtrahiert, sodass es am Ende IMMER ein Zuschussgeschäft für die Treuhand war. Die Kunst für uns Privatisierer bestand darin, die Finanzierung möglichst gering – oder besser gesagt: in erträglichen Grenzen – zu halten. Weshalb wir schnelle Deals bevorzugten.

Denn mit fortdauernder Verhandlungsdauer wuchs der Einigungsdruck und zwang uns, das Portemonnaie noch weiter zu öffnen, als es unsere internen Richtlinien eigentlich erlaubten. In diesem Fall drohten langwierige Unterhaltungen mit der Innenrevision, auf die keiner von uns große Lust verspürte, denn von diesen humorlosen Jungs wurde man behandelt wie in einem FBI-Verhör. »Warum haben Sie den Deal nicht gestoppt, als Sie an die Finanzierungsgrenze gelangten? Sind Sie mit den Investoren persönlich bekannt, hat man Ihnen irgendwelche Vorteile angeboten?« … »Verhandelt lieber selbst, anstatt mir solch blöde Fragen zu stellen«, hatte ich beim letzten Mal geantwortet. Und mit den Erben morgen würde dasselbe Spiel drohen. Das wusste ich schon, als ich mir die Akte durchgelesen hatte.

Ohne Treuhand hätte sich der Osten in eine Industriebrache verwandelt

Von meinen persönlichen Erfahrungen zurück zur Funktion der Treuhand. Ohne diese Behörde wäre die Transformation von der Plan- zur Marktwirtschaft nie und nimmer gelungen. Anders ausgedrückt: ohne die Milliardenzahlungen des Bundes, die in vorverkaufliche Sanierung und Anschubfinanzierung bei Übernahme investiert wurden, hätte kein einziger ostdeutscher Betrieb die Wende überlebt: Gebäude- und Maschinenbestand vorsintflutlich, die Böden teils heftig kontaminiert, Produkte wie aus den 50er Jahren, keine Eigenmittel, Management mit Null Erfahrung in Marketing und Vertrieb. Das wäre, hätte man die Firmen alleine vor sich hin wurschteln lassen, ein Desaster geworden. Entgegen landläufiger Meinung arbeiteten 99.9% der THA-Mitarbeiter sauber. Controlling und Innenrevision waren streng und standen den Privatisierern ständig auf den Füßen. Die überwiegende Mehrzahl der Deals wurde seriös und hart verhandelt. Und zwar solange, bis beide Seiten an ihre ultimativen Schmerzgrenzen gelangt waren. Zurück am Schreibtisch in der Zentrale musste alles minutiös dokumentiert werden. Sobald eine Zahl oder ein Satz nicht stimmten, erhielt man am darauffolgenden Tag schon Besuch von einem internen Kontrolleur. Dass die Geschäfte windig waren, ist deshalb ein übles Gerücht, bar jeglicher Substanz.

Aber auch von einem Ausverkauf, der sich ja durchaus juristisch wasserfest durchführen lässt, kann keine Rede sein. Ohne die Treuhand gäbe es heute keinen Chemiepark Bitterfeld-Wolfen, kein Leuna, keine Berlin Chemie und kein Jenoptik. All diese Unternehmen existieren bloß noch deshalb, weil Anfang der 90er VIEL Geld in die Hand genommen wurde, um deren Industriebrachen flott für den Verkauf zu machen.

Worüber man allerdings durchaus diskutieren kann, ist die Frage, ob mit der Privatisierungsphase derart überstürzt begonnen werden musste. Ob man eventuell ein, zwei Jahre der Sanierung hätte vorschalten sollen. Hier verlassen wir jedoch die operative Ebene (THA) und begeben uns auf politisches Terrain. Die Geschwindigkeit des Prozesses bestimmte Bonn bzw. die Regierung Kohl. Berlin war damals bloß ausführendes Organ. Und in der Retrospektive muss man neidlos anerkennen, dass die Treuhand ihren Job außerordentlich gut erledigt hat. Die Freisetzung von Arbeitnehmern wäre ohne die Aktivitäten der Behörde weitaus dramatischer ausgefallen. Negativ zu Buche schlagen natürlich schiefgelaufene Deals: Investoren, die sich nicht an die Verträge hielten oder insolvent gingen, Erben, die Betriebe schlossen, um an die Immobilien zu gelangen. Der Prozentsatz der Privatisierungen, bei denen die Unternehmensfortführung vor Ende der Vertragslaufzeit scheiterte, dürfte sich dennoch unterhalb der 20-Prozent-Marke bewegt haben. Von daher wundert es nicht, dass nahezu sämtliche GUS-Staaten versuchten, dieses Modell zu kopieren. Mit logischerweise reduziertem Erfolg, weil sie über keinen solventen Geldgeber wie Westdeutschland verfügten. Weltbank und IWF konnten nie in dieser Größenordnung einspringen. Eine Neuauflage wird man eines Tages vielleicht in Ostasien erleben, falls der arme Norden und der reiche Süden Koreas irgendwann in ferner Zukunft zusammenfinden sollten.

Ob es klug war, vorschnell blühende Landschaften zu versprechen, steht auf einem völlig anderen Blatt.

Fazit: Ohne die Treuhand wäre Deutschlands Osten binnen Jahresfrist in eine industrie- und gewerbefreie Zone mutiert.

Henning Hirsch

Betriebswirt und Politologe, Comicleser, Filmjunkie, Bukowski- und FC- (es gibt nur einen FC: nämlich den aus Köln) Fan, trockener Alkoholiker. In die Abstinenz startete er mit einem Roman: Saufdruck. Seitdem tippt er abends Kurzgeschichten und Gedichte. Da die Schreiberei alleine nicht satt macht, verdient er tagsüber seine Kaltmiete und die Kühlschrankfüllung mit Marketing & Orga. Henning Hirsch lebt im Bonner Süden und ist Vater von drei Kindern ... Wer mehr von ihm lesen möchte: www.saufdruck.de

More Posts - Website

Follow Me:
Facebook

Schreibe einen Kommentar zu Jerry Cotton Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert