Abruptes Ende einer Kreuzfahrt

Die FDP geht von Bord. Besser jetzt als in ein paar Monaten, wenn der Kahn eh havarieren wird, oder sind die Liberalen doch zu schnell ins Rettungsboot gesprungen?


[Achtung: die folgende Kolumne basiert einzig auf der Auswertung von Sekundärquellen: Tageszeitung, TV-Nachrichten, Brennpunkten und Talk Shows. Obwohl ich jemanden kenne, der jemanden kennt, der in Berlin wohnt, war es mir bisher leider nicht möglich, an die Originalunterlagen heranzukommen]

Die FDP hat den Dampfer verlassen, und Jamaika liegt nun wieder dort, wo es sich seit Jahrhunderten befindet: weit hinterm Horizont, irgendwo westlich von Madeira und den Kanaren in der Karibik. Und das ist auch gut so. Denn: was soll Jamaika in Berlin? Obwohl, vielleicht ist es doch gar nicht so gut, dass wir es nicht geschafft haben, die Flagge dieses sympathischen Inselstaats über dem Reichstag zu hissen.

Aber der Reihe nach oder Chronologie eines Scheiterns. Da der Souverän – gemeint sind wir alle – mittlerweile vogelwild wählt, flimmerte am Abend des 24. Septembers ein Ergebnis über den Bildschirm, das allen politisch Interessierten sofort signalisierte: es wird kompliziert werden. Um 18.03 erklärten die Sozialdemokraten, dass sie das Votum selbstverständlich respektierten, für eine Neuauflage der Großen Koalition nicht zur Verfügung stünden und sich auf die harten Bänke der Opposition zurückziehen. Ein echt schnell gezogenes Fazit, ging es mir durch den Kopf, als ich erstaunt den definitiven Groko-Exit aus dem Mund von Martin Schulz vernahm. Zielte in die Richtung: Wir Sozialdemokraten haben verstanden. Schulz zog aus der krachenden Niederlage jedoch nicht den Schluss, sich vom Parteivorsitz zu verabschieden. Soweit reichte sein Verständnis dann doch nicht.

Die AfD darf dieses Mal noch nicht mitspielen, also lief die Entwicklung bereits am Wahlabend auf Koalitionsverhandlungen in der Farbkombi Schwarz, Grün, Gelb hinaus. Keiner der Beteiligten schien darauf richtig große Lust zu verspüren. Die Kanzlerin richtete deshalb in der 20-Uhr-Elefantenrunde die Bitte an ihren unterlegenen Kontrahenten, sein 18.03-Njet nochmal zu überschlafen. Vergeblich, die SPD blieb stur: Wir gehen in die Opposition. „Wat will’ste da jroß machen?“, fragt sich in so einem Fall der Rheinländer und schwenkt um zu Plan B: Jamaika. Das werden muntere Gespräche, zäh, lang andauernd, aber vielleicht wird am Ende doch was Vernünftiges bei rauskommen, überlegten die potenziellen Delegationsteilnehmer, bevor …: ja, bevor was geschah? Es passierte nämlich einige Wochen lang gar nichts. Die beiden in treuer Hassliebe verbandelten Unionsschwestern mussten sich erstmal intern finden, dann sollte bloß nichts Falsches gesagt oder getan werden, bevor die Niedersachsenwahl unter Dach und Fach gebracht worden war. Und so verstrich wertvolle Zeit, die Gunst des zügigen Beginns wurde vertan, die Skepsis der Teilnehmer – vor allem bei FDP und CSU – wuchs täglich an. Und noch war kein einziges Wort miteinander gewechselt worden.
Zwischenfazit 1: Ouvertüre vermasselt.

Am 18. Oktober starteten endlich die Sondierungsgespräche. Die sind den Koalitionsverhandlungen vorgeschaltet, dienen dem gegenseitigen Beschnuppern und dem Abstecken der Claims. Sowas wie die ersten 15 Minuten beim Date: Ich mag dich, kann mir vorstellen, gemeinsam mit dir ins Bett zu gehen oder: sorry, du bist doch nicht mein Typ. Könnte an einem Tag erledigt sein. Aus Gründen, die in unserem Naturell begründet sein müssen, dauerte dieser Warm-up jedoch viereinhalb Wochen. Die typisch deutsche Vorgehensweise, alles minutiös zu organisieren, Gruppen, Untergruppen und Spezialgruppen zu bilden und jeden gesprochenen Satz haarklein zu protokollieren und ihn abends zurück in der Parteizentrale ein weiteres Mal mit Referenten und Kollegen durchzukauen. Um dann am Morgen darauf Bedenken anzumelden, weil der Lektor ein paar Kommafehler entdeckt hat. In solch einer arbeitsdurchtränkten Atmosphäre ist es natürlich schwierig, sich auf das zu konzentrieren, worum es in Phase 1 eigentlich primär gehen sollte: Vertrauen zu- und Gefallen aneinander finden. Selbst der ausdauerndste Verhandler wird müde und gereizt, wenn er nur millimeterweise Fortschritte registriert in dem Wissen, dass er das alles in den richtigen (Koalitions-) Verhandlungen erneut durchdeklinieren muss.
Zwischenfazit 2: ungenügende Teambuilding-Maßnahmen.

Die drei dicksten Brocken bestanden in: (1) Migration/ Flüchtlingsfrage, (2) Klima/ Energiepolitik und (3) Finanzen/ Steuern/ Solidarzuschlag. Hier war klar, dass alle Beteiligten sich bewegen mussten, um in den Bereich der gemeinsamen Schnittmengen zu gelangen. Anstatt die Manövriermassen und roten Linien in den Wochen zwischen BTW und Niedersachsenwahl zu definieren, loteten die Parteien ihre Schmerzgrenzen wohl erst im Verlauf der Sondierungen aus, was ein zähes Ringen um jedes Detail zur Folge hatte. Mitunter wurden ausgehandelte Kompromisse am Tag darauf wieder einkassiert und mit dem Gefeilsche von vorne begonnen. Einige Teilnehmer gaben tägliche Wasserstandsmeldungen ab, andere twitterten munter aus den Tagungsräumen. Die Presse wurde über Dinge informiert, die vorher von den Delegationen als vertraulich eingestuft worden waren. Diskretion schien für manche ein Fremdwort zu sein. Kein Wunder, dass die Nerven nach spätestens 14 Tagen zum Reißen gespannt waren, und viele lieber schnell weg als weiter bleiben wollten.
Zwischenfazit 3: Es wurde zu lange und mit zu wenigen Spielregeln sondiert.

In der Nacht vom 19. auf den 20. November lässt die FDP die Gespräche platzen. Großer Auftritt von Lindner und Kubicki vor laufenden Kameras kombiniert mit einem prägnanten Spruch: Besser nicht regieren, als falsch regieren. Zurück bleiben eine konsternierte Union und verblüffte Grüne. Am Morgen darauf werden wir mit Erklärungsversuchen und Schuldzuweisungen überflutet: „Es war kein Entgegenkommen der anderen erkennbar“, „das zukünftige Regierungsprogramm hätte einzig schwarze und grüne – jedoch keine gelbe – Tinte enthalten“, „wir waren Lichtjahre von einem tragfähigen Zukunftsprogramm entfernt“, so die Liberalen. Während CDU/ CSU und die Grünen betonen: „Eine Einigung lag greifbar vor uns. Es fehlten einzig ein paar Stunden, um weißen Rauch aufsteigen zu lassen“ und: „Wir sind der FDP in so vielen Punkten entgegengekommen“. Schnell reden die einen von Dolchstoßlegende und die anderen von einer seit langem geplanten Exit-Inszenierung. Die Wahrheit findet man vermutlich irgendwo in der Mitte: Weder stapelten sich am Sonntagabend unterschriftsreife Dokumente auf dem Tisch, noch schien das Durchhauen des Knotens zu einem späteren Zeitpunkt unmöglich. Als 08/15-Zuschauer des Spektakels gewann man den Eindruck, dass Lindner und Kubicki schlichtweg keine Lust mehr auf die Nonstop-Party verspürten und sich endlich ausschlafen wollten. Und wie prinzipientreu alle plötzlich sind. Die FDP, da sie die Interessen ihrer Wähler nicht verrät, die Grünen, weil sie viele Forderungen durchgesetzt haben, die CSU hat sowieso immer Recht, und die CDU behält stets das Wohl des Landes im Auge.
Zwischenfazit 4: Alle vier beteiligten Parteien weben nun an ihren eigenen Legenden.

Die Reise nach Jamaika ist zu Ende. Am Zwischenstopp baden-württembergische Landesvertretung ging ein wichtiger Teil der Mannschaft von Deck, und der Dampfer muss zurück ins Trockendock. Einerseits okay. Wer nicht mitfahren möchte, löst eben kein Ticket für die vierjährige Kreuzfahrt. Tut die SPD ja auch nicht, und AfD und Linke werden gar nicht erst an Bord gebeten. Andererseits stellen sich jedoch ein paar Fragen zum missglückten Probelauf: Weshalb dauerte es viereinhalb Wochen, um festzustellen, dass weder die Inhalte noch die Chemie für eine gemeinsame Regierung taugen? Kann man sowas nicht wesentlich schneller bemerken? Warum war es nicht möglich, gemeinsame Berührungspunkte zu finden? Alle vier beteiligten Parteien verstehen sich als Vertreter der bürgerlichen Mitte. Und die sind nicht in der Lage, Kompromisslinien auszuhandeln? Oh weh! Welche Dämonen trieben Lindner und Kubicki dazu, den Versammlungsort nahezu fluchtartig zu verlassen? Weil eine – selbst gesetzte – Deadline verstrichen war? Hätte dieser Rückzug nicht in geordneteren Bahnen ablaufen können? Falls keinerlei liberale Handschrift in den Dokumenten zu erkennen war: Was um Himmelswillen haben die FDP-Vertreter da die ganze Zeit getrieben? Videospiele auf ihren Tablets gezockt, anstatt sich an den Diskussionen zu beteiligen? Fragen über Fragen.
Zwischenfazit 5: Der Wille, sich zu einigen, war von Anfang an schwach ausgeprägt.

Was für Auswirkungen hat das Scheitern? Es zeigt dem Bürger, dass Dreier- bzw. Viererkoalitionen auf Bundesebene zur Zeit noch nicht möglich sind. Es demonstriert des Weiteren den Egoismus der Parteien: Erst die Wünsche der eigenen Wähler befriedigen, bevor an das Land gedacht wird. Klar galt es für alle Beteiligten, Schmerzgrenzen vor allem bei Migration, Klima und Steuern zu überwinden. Schwierig, aber nicht unmöglich. Ob nun zehn oder fünfzehn Kohlekraftwerke abgeschaltet werden, die Obergrenze der Flüchtlinge fix ist oder einen atmenden Deckel erhält, der Soli bereits in dieser oder erst in der nächsten Legislaturperiode abgeschafft wird: Darüber hätte man sich einigen können, wenn man denn gewollt hätte. Und das eigentlich Fatale: Es entsteht der Eindruck, dass einige Teilnehmer lieber auf Neuwahlen spekulieren, als sich auf die steinige Koalitionsarbeit einlassen zu wollen. Eventuell  – und das wäre der Worst case – beschleicht den Wähler das Gefühl, dass mit den altvertrauten Fraktionen Stillstand und Unregierbarkeit drohen. Was in der Konsequenz zu einem Erstarken der extremen Ränder führt.

Dem Bundespräsidenten ist deshalb zuzustimmen, wenn er sagt: „Wer sich in Wahlen um politische Verantwortung bewirbt, der darf sich nicht drücken, wenn er sie in den Händen hält“. Ob seine klugen Worte bei den adressierten Parteiführern Gehör finden, ist – Stand Mittwochmittag – völlig ungewiss, darf aber bezweifelt werden.

Fazit: das Platzenlassen von Jamaika war keine notwendige Heldentat, sondern ein Bärendienst an unserer Demokratie. Zumindest wenn man sich eine Regierung mit stabiler Mehrheit im Parlament wünscht.

Henning Hirsch

Betriebswirt und Politologe, Comicleser, Filmjunkie, Bukowski- und FC- (es gibt nur einen FC: nämlich den aus Köln) Fan, trockener Alkoholiker. In die Abstinenz startete er mit einem Roman: Saufdruck. Seitdem tippt er abends Kurzgeschichten und Gedichte. Da die Schreiberei alleine nicht satt macht, verdient er tagsüber seine Kaltmiete und die Kühlschrankfüllung mit Marketing & Orga. Henning Hirsch lebt im Bonner Süden und ist Vater von drei Kindern ... Wer mehr von ihm lesen möchte: www.saufdruck.de

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