Die Magie des ersten Satzes

Der erste Satz eines Romans hat dieselbe Aufgabe wie die sexy Brünette in der Victoria’s Secret-Werbung für Wonderbras zu erfüllen: er soll zum Spontankauf eines Produkts animieren


Nachdem Sörens Beitrag „Die Austreibung der Schönheit“, in der er die Reduktion der Sprache auf die reine Informationsvermittlung beklagt, am vergangenen Wochenende auf großes Interesse bei den Lesern stieß und im Anschluss kontrovers über die optimale Länge von Sätzen und den vibrierenden Sound einzelner Textpassagen diskutiert wurde, hatte ich das Thema für meine neue Kolumne gefunden: die Magie des ersten Satzes.

Vor einigen Jahren trieb ich mich mehr in Autorenforen als in Facebook rum. Dort stellen Nachwuchs- und Hobbyschriftsteller Kurzgeschichten und Gedichte vor und lassen ihre (Mach-) Werke von anderen Usern beurteilen. Gibt dabei Rechtschreibungs-, Grammatik-, Füllwort-, Inhalts-, Logik- und Spannungsexperten. Die Bandbreite der Bewertungen reicht von „Super. Du findest bestimmt einen Verlag“ über „noch bist du nicht so weit. Stete Übung macht den Meister“ bis hin zu „kompletter Schrott“ oder „tu uns bitte allen einen Gefallen und lade keine neuen Stories von dir hoch“. Ein harter, teils grausamer, aber unterm Strich lehrreicher Ausleseprozess. Neben den beiden Hauptrubriken Prosa und Lyrik existiert ein weiterer Bereich: Kreatives Schreiben. Hier wird so spannenden Fragen wie „Kann mir jemand dabei helfen, eine Fantasywelt zu entwickeln?“ oder „Wie viele Wörter hast du heute aufs Papier gebracht?“ nachgegangen. Eines Morgens stand da folgende Behauptung zu lesen: „Ich lasse mich bei der Auswahl eines Romans einzig vom ersten Satz leiten. Ist der sexy, dann kaufe ich das Buch; andernfalls stelle ich es sofort ins Regal zurück“. Daraus resultierte eine der längsten Diskussionen in dieser – an ausufernden Debatten wahrlich nicht armen – Schreibwerkstatt. Schnell standen sich zwei Lager unversöhnlich gegenüber: die Befürworter der Ausgangsthese, die sich auf die Erste-Satz-Magie versteiften und die Gegner, die die Ad-hoc-Entscheidung nicht nur für unsinnig, sondern sogar als Frontalangriff auf das Wesen der Belletristik ansahen.

Ich gehörte anfangs zu den Opponenten, empfand die Erste-Satz-Dogmatik als engstirnig bis hin zu realitätsfremd, freundete mich jedoch im Lauf der Monate immer stärker mit der Position der Befürworter an. Ein attraktiver Einstiegssatz hat ja was. Von der Funktion her ähnelt er einem bunten Plakat, das uns zu einem Museumsbesuch überreden, einem spannenden Trailer, der mich ins Kino lotsen soll, David Beckham mit entblößtem Oberkörper, der mir ein After Shave andrehen, einer barbusigen Blondine im schummrigen Kontakthof des Bordells, die mich gleich um 200 Euro erleichtern will, der Frau, der wir nach zehn Sekunden verfallen und bereits beim ersten Date einen Heiratsantrag stellen. Bei allen fünf Beispielen wissen wir nicht, ob das Produkt den im Teaser vorgegaukelten Erwartungen entspricht. Eventuell ist der Film todlangweilig, das Rasierwasser riecht nach gegorenem Moschus, die Hure entpuppt sich im Neonlicht ihres Zimmers als alt und habgierig, die blitzgeheiratete Angebetete macht uns das Leben bis zur nächsten Scheidung richtig sauer. Trotzdem lassen wir uns oft aufgrund eines Spontaneindrucks zum Kauf animieren. Warum sollte dieses Phänomen nicht auch für Romane gelten?

Ich durchforstete die kleine Bibliothek in meinem Wohnzimmer auf der Suche nach Büchern mit sexy Einstiegssätzen – Sätze, die sofort ins Auge springen und dem Leser suggerieren: in dieser Art wird es bis zum finalen Punkt auf der letzten Seite weitergehen – und wurde tatsächlich fündig. Im Folgenden eine Auswahl attraktiver Einleitungen. Und zwar allesamt aus Romanen, die mich derart in ihren Bann zogen, dass ich sie binnen weniger Tage und Nächte nahezu rauschartig, dabei Essen, Trinken und Körperhygiene vergessend, durchlas.

Preisgekrönte Sätze

Beginnen möchte ich mit einem prämierten Beispiel: „Ilsebill salzte nach“. Der Anfang des „Butt“ von Günter Grass war gemäß einem im Jahre 2007 gefällten Urteil der Experten von Initiative Deutsche Sprache sowie Stiftung Lesen der schönste Einstiegssatz der deutschsprachigen Literatur. Und ich fragte mich damals – und tue es heute noch – warum? Was um Himmelswillen ist an diesem Satz attraktiv, abgesehen davon, dass er leicht verständlich ist? Ich finde ihn komplett fade. Was übrigens für den gesamten „Butt“ gilt, weshalb ich ihn damals nach dreißig Seiten wieder beiseite legte. Großartig hingegen Kafkas Start in „Die Verwandlung“: „Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt.“ Belegte aus Gründen, die niemand außer den oben genannten Fachleuten kennt, nur Rang 2. Vielleicht weil Grass damals noch lebte, Kafka jedoch schon lange tot war. Auf Platz 3 landete Siegfried Lenz: „Hamilkar Schaß, mein Großvater, ein Herrchen von, sagen wir mal, einundsiebzig Jahren, hatte sich gerade das Lesen beigebracht, als die Sache losging.“ (So zärtlich war Suleyken). Ganz okay, aber sexy geht anders.

Aus meinem Bücherregal gegriffen

Nun aber endlich zu den Romanen in meinem Bücherregal.

Während ich schreibe, bricht die Dunkelheit herein, und die Leute gehen zum Abendessen.
Henry Miller: Stille Tage in Clichy

Leicht melancholischer Start in einen kurzen Roman, 1956 in der englischen Originalfassung „Quiet days in Clichy“ erschienen. Spielt im Paris des Jahres 1933. Die Geschichte erzählt von den schriftstellernden Bohemiens Carl und Joey, die ein ausschweifendes Leben führen. Ihr weniges Geld geben sie am liebsten für Nutten und Partys aus. Gilt als Meilenstein der erotischen Literatur. Aufgrund des teils pornografischen Inhalts in den USA erst 1965 und in Deutschland 1968 veröffentlicht.

Dieses schreibe ich, Sinuhe, der Sohn Senmuts und seines Weibes Kipa – nicht um die Götter Kemets zu preisen, denn der Götter bin ich überdrüssig –, nicht um Pharaonen zu verherrlichen, denn auch ihrer Taten bin ich müde; sondern um meiner selbst willen schreibe ich es.
Mika Waltari: Sinuhe der Ägypter (1948)

DER Ägyptenroman schlechthin. Erzählt vom Leben des Arztes Sinuhe, der, aus bescheidenen Verhältnissen stammend, bis zum Leibarzt des Ketzer-Pharaos Echnaton aufsteigt, bevor er von den Amun-Priestern den Auftrag erhält, den König zu vergiften. Verbittert zieht er sich in die Einsamkeit der Wüste zurück und kritzelt dort in jahrelanger Arbeit seine Geschichte auf hunderte Papyrusrollen.

Achtzig Jahre nach dem Tod ihres Propheten Mohammed hatten die Moslems ein Weltreich aufgebaut, welches sich von der indischen Grenze ununterbrochen durch Asien und Afrika die südlichen Gestade des Mittelmeers entlang bis zur Küste des Atlantischen Ozeans dehnte.
Lion Feuchtwanger: Die Jüdin von Toledo (1955)

Von den vielen guten historischen Romanen Feuchtwangers sticht die Jüdin von Toledo wegen der bittersüßen Love Story, die sich zwischen Raquel und dem kastilischen König Alfonso entwickelt, nochmals heraus. Als Raquel vom wütenden Mob erschlagen wird, wandelt sich der trauernde Herrscher vom Kriegsherrn zum friedliebenden Landesvater.

Der Knabe war klein, die Berge waren ungeheuer.

So startet Heinrich Mann in das Epos „Die Jugend des Königs Henri Quatre“. Erzählt wird in zwei Bänden (Nr.2.: Die Vollendung des Königs Henri IV) der Werdegang des Herzogs von Bourbon, der als Protestant im letzten Viertel des 16ten Jahrhunderts auf den französischen Thron gelangen will. Diesen kann er jedoch erst besteigen, als er zum Katholizismus konvertiert. Seine Einsicht, „Paris ist eine Messe wert“, wird auch heute noch zitiert, wenn man eine überraschende 180-Grad-Kehrtwende in Angelegenheiten der Politik und des Glaubens mit einem Bonmot umschreiben möchte. Erschienen 1935.

Ich war 50 und hatte seit vier Jahren keine Frau mehr im Bett gehabt.
Charles Bukowski: Das Liebesleben der Hyäne (1978)

„Was Sie schreiben, ist so roh und direkt. Wie ein Schlag mit dem Hammer auf den Kopf. Und doch steckt so viel Humor und Zärtlichkeit dahinter“, sagte die Kritikerin, als sie den Roman studiert hatte.
„Yeah“, antwortete Bukowski.

Der Morgen dämmerte. Der große Caddy schoss durch die Straßen der Stadt. Meine fünf Huren schnatterten wie eine Horde betrunkener Affen.
Iceberg Slim: Pimp

Hier ausnahmsweise drei Sätze. Icebergs Slims – im Gefängnis getippte – Lebensbeichte. Die ungeschminkte, grausame Story eines Zuhälters, der seine Mädchen auf den Straßenstrich schickt. Veröffentlicht 1969; diente als Vorlage für zahlreiche Rap- und Hip-Hop-Texte.

Mein Chef sagte mir: „Ich behalte Sie nur aus Rücksicht auf Ihren ehrenwerten Herrn Vater, sonst wären Sie schon längst hinausgeflogen.“
Anton Tschechow: Der Taugenichts (1890)

Eine der vielen schönen Novellen Tschechows, in denen er die Flucht eines Sohns aus gutbürgerlicher Familie aufs Land schildert. Als er glaubt, endlich alle einengenden Konventionen hinter sich gelassen zu haben, verlässt ihn seine Frau, und er kehrt reumütig in die Stadt zurück.

Ein grauer gedrungener Bau, nur vierunddreißig Stockwerke hoch.
Aldous Huxley: Schöne neue Welt (1932)

Eine Wohlstandsgesellschaft im Jahre 632 nach Ford. Unruhe, Elend und Krankheit sind überwunden. Eine totalitäre Herrschaft mit einer strengen Drei-Klassen-Gesellschaft garantiert genormtes Glück. Jede Form von Individualismus wird als asozial gebrandmarkt. Eines der wenigen Pflichtbücher im Schulunterricht, das ich mit Begeisterung las.

Wenn ihr das wirklich hören wollt, dann wollt ihr wahrscheinlich als Erstes wissen, wo ich geboren bin und wie meine miese Kindheit war und was meine Eltern getan haben und so, bevor sie mich kriegten, und den ganzen David-Copperfield-Mist, aber eigentlich ist mir gar nicht danach, wenn ihr’s genau wissen wollt.
J.D. Salinger: Der Fänger im Roggen (1951)

Braucht man nichts weiter drüber zu sagen. Kennt jeder. Und wer von diesem Roman bisher tatsächlich noch nichts gehört hat, sollte ihn sich spätestens jetzt sofort besorgen.

Das Städtchen Holcomb liegt auf der Weizenhochebene von West-Kansas, eine weite einsame Gegend, die selbst für die anderen Kansaner hinter dem Mond liegt.
Truman Capote: Kaltblütig (1965)

Beruht auf einer wahren Geschichte: eine dreiköpfige Familie wird bei einem Raubüberfall ermordet. Die zwei männlichen Täter werden schnell gefasst und zum Tode verurteilt. Der Autor besucht die beiden regelmäßig in ihren Zellen, führt zahlreiche Interviews mit ihnen und begleitet sie bis zum Galgen. Aus diesen Notizen entstand der erste sogenannte Tatsachenroman der Weltgeschichte.

Mittlerweile war klar, dass die Zeiten des Wassers vorbei waren, erinnerte sich der alte Qfwfq; die Zahl derjenigen, die sich entschlossen, den großen Schritt zu tun, wurde immer größer, es gab kaum noch eine Familie, die nicht einen ihrer Lieben auf dem Trockenen hatte, und alle erzählten sich Wunderdinge vom Leben dort und holten ihre Verwandten nach.
Italo Calvino: Das Gedächtnis der Welten/ Bd. 1 der Cosmicomics (1965)

Fantastische Geschichte der Entstehung des Lebens von seinen Anfängen im Ozean über die Zwischenstation Amphibien und Dinosaurier bis hin zu den ersten rattenartigen Säugern. Und immer mittendrin der unsterbliche Held mit dem unaussprechlichen Namen: Qfwfq.

Zum ersten Mal traf ich Neal, kurz nachdem mein Vater gestorben war … ich hatte gerade eine schwere Krankheit hinter mir, von der ich nicht groß reden will, bloß dass sie mit dem Tod meines Vaters zu tun hatte und mit dem scheußlichen Gefühl, dass alles tot war.
Jack Kerouac: On the Road (1958)

In der Urfassung 1951 binnen drei Wochen auf eine vierzig Meter lange Papierrolle getippt. Atemloser Bericht vom Leben eines Hobos: Natur, Drogen, Jazz und Sex bestimmen die Handlung. Ständig auf der Suche nach Glück. Freiheit, der großen Liebe und der ultimativen Party. Meilenstein der Beat-Literatur.

Erster Satz: wichtig, aber für sich alleine nicht kaufentscheidend

Das war nun ein Dutzend willkürlich zusammengestellter Kostproben aus meinem Bücherregal für magische erste Sätze, die den Leser mühelos in den Roman hineinziehen, und bei denen die nachfolgende Handlung qualitativ und vom Spannungsaspekt her auch das hält, was auf Seite 1 versprochen wird. Die Geschmäcker sind unterschiedlich: das was mich in Schwärmerei versetzt, bewirkt bei anderen vielleicht nur ein müdes Lächeln oder gar ein Gähnen. Es existieren tausend weitere Beispiele für attraktive Einstiege. Und natürlich stoppt auch niemand nach der ersten Zeile eines Buchs. Das Auge überfliegt eine Drittel bis halbe Seite, bevor im Gehirn die Entscheidung „weiterlesen oder weglegen“ getroffen wird. Das wissen auch die Anhänger der Sexy-Satz-These. Die Auswahl eines Romans geschieht in der Regel anhand der Kriterien: Genre, kenne ich den Autor?, ist es eine Empfehlung eines Freundes?, steht das Buch in einer Bestsellerliste?, Klappentext, Studium Seite 1 und einer zufällig ausgewählten Passage im Mittelteil. Auf diesen Parametern fußt die Kaufentscheidung. Trotzdem ist die Beschäftigung mit dem Startsatz aus Autorensicht sinnvoll. Denn falls dieser bereits mit der 08-15-Schablone fabriziert wurde, wird auch der Rest des Textes Standardware sein.

Henning Hirsch

Betriebswirt und Politologe, Comicleser, Filmjunkie, Bukowski- und FC- (es gibt nur einen FC: nämlich den aus Köln) Fan, trockener Alkoholiker. In die Abstinenz startete er mit einem Roman: Saufdruck. Seitdem tippt er abends Kurzgeschichten und Gedichte. Da die Schreiberei alleine nicht satt macht, verdient er tagsüber seine Kaltmiete und die Kühlschrankfüllung mit Marketing & Orga. Henning Hirsch lebt im Bonner Süden und ist Vater von drei Kindern ... Wer mehr von ihm lesen möchte: www.saufdruck.de

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