Retten wir die Demokratie?

Die Demokratie, dieses komplizierte Geflecht aus Interessenausgleich und Machtbeschränkung, ist einsturzgefährdet.


Was ist Demokratie? Wenn wir das Wort mit „Volksherrschaft“ übersetzen, dann kann es schon per Definition in einer modernen Gesellschaft keine Demokratie geben. Zwar kann man bei einer Menschengruppe, die innerhalb nationalstaatlicher Grenzen lebt und durch eine gemeinsame Geschichte und gemeinsame kulturelle Prägungen und Bindungen gekennzeichnet ist, von einem Volk reden. Es mag auch durchaus sinnvoll sein, sich als Angehöriger eines solchen Volks zu verstehen.

Das Volk kann nicht herrschen

Aber bei der Vielzahl von Interessen, sozialen Situationen, Wünschen und Lebensentwürfen, familiären Bindungen und gesellschaftlichen Überzeugungen kann dieses Volk nicht herrschen, wenn Herrschen denn bedeutet, die eigenen Ziele in der Gesellschaft durchzusetzen.

Demokratie kann nicht mal „Mehrheitsherrschaft“ sein, denn es gibt auch keine Mehrheiten, die gleiche Ziele haben. Alle Angehörigen einer modernen Gesellschaft haben mal mit diesen, mal mit jenen anderen Gesellschaftsmitgliedern gleiche Überzeugungen und Interessen. Es gibt auch keine besonders grundlegenden – etwa ökonomischen – Interessen, die alles andere dominieren und auf deren Basis alle anderen Wünsche oder Einstellungen abgeleitet werden könnten. Selbst die ökonomischen Situationen der Menschen in einer modernen Gesellschaft sind zudem so vielfältig und wechselhaft, dass daraus keine klaren Mehrheiten entstehen könnten, die in der Demokratie herrschen könnten.

Es geht um Begrenzung von Macht

In der modernen Demokratie kann es also gar nicht um die Frage gehen, wer herrscht, sondern um die Frage, wie jede Herrschaft begrenzt werden kann und wie jeder Anspruch irgendwie in den Prozess der politischen Entscheidungsfindung einbezogen werden kann. Die Gesellschaft besteht aus einer riesigen Zahl von politischen Anspruchsgruppen und legitimen Interessensbekundungen. Nur die wenigsten davon können mit guten Gründen prinzipiell zurückgewiesen werden. Deshalb haben moderne Gesellschaften eine komplexe Struktur von Institutionen entwickelt, die politischen Entscheidungen miteinander aushandeln. Die politischen Parteien in den Parlamenten der verschiedenen Ebenen und die Regierungen, die sie bilden, sind davon nur ein kleiner, wenn auch wichtiger Teil. An ihrer Basis verwurzeln sich die Parteien vielfältig in der Bevölkerung. Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände, Nichtregierungsorganisationen gehören dazu. Journalisten und Umfrageinstitute bilden die „öffentliche Meinung“ – dies kann gern doppeldeutig verstanden werden.

Im Ergebnis erscheint der politische Prozess oft zäh und schwerfällig, mit großem Aufwand, so meint man oft, wird nur wenig produziert. Aber das ganze Verfahren stabilisiert die Gesellschaft und sorgt dafür, dass am Ende wirklich so ziemlich alle Wünsche und Vorstellungen, die es im Volk (!) so gibt, irgendwie berücksichtigt werden.

Politik-Bashing ist wohlfeil

Aber stabil ist dieses Gebilde nur, wenn wir es akzeptieren. In den letzten Jahren haben sich viele in allgemeinem Politik-Bashing gefallen, auch die, die eigentlich Teil dieser Prozesse sind. Die parlamentarische Opposition wirft den gerade Regierenden gern Schwerfälligkeit und Tatenlosigkeit vor, ohne das konkret zu belegen. In den Koalitionen wirft man einander Blockadehaltung vor, die Legitimität der Forderungen des Gegenüber wird erst mal bestritten. Solche Vorwürfe und Angriffe sind wohlfeil und werden gern in den Medien aufgegriffen, die sich damit wiederum beim Volk beliebt machen wollen.

Plötzlich glauben viele, dass es doch auch einfacher gehen müsste, dass doch nur ein starker, vom Volke getragener Mann kommen müsste, der die Strukturen zerschlägt und mit eisernem Willen und Durchsetzungsvermögen „endlich etwas tut“.

Die demokratischen Institutionen sind anfällig geworden, sie sind durch den Dauerbeschuss der pauschalen Kritik einsturzgefährdet. Wie stabil sie einer alten Demokratie wie den USA noch sind, verfolgen wir gerade mit Bangen. Derweil sollten wir uns darauf konzentrieren, die eigenen Strukturen wieder zu stärken, indem wir uns ihres Sinns vergewissern.

Jörg Phil Friedrich

Der Philosoph und IT-Unternehmer Jörg Phil Friedrich schreibt und spricht über die Möglichkeiten und Grenzen des digitalen Denkens. Friedrich ist Diplom-Meteorologe und Master of Arts in Philosophie.

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