Antirassistische Ignoranz

Was haben Flüchtlingshelfer, die ein lesbisch-schwules-transgender Willkommensfest veranstalten wollen und die linken französischen Kritikerinnen und Kritiker des algerischen Schriftstellers Kamel Daoud gemeinsam? Sie erliegen ihrer antirassistischen Ignoranz, meint Heiko Heinisch.


Vor kurzem erzählte mir eine Kollegin, die sich in der Flüchtlingshilfe engagiert kopfschüttelnd, einige ihrer Mitstreiter planten ein „lesbisch-schwules-transgender-Flüchtlingswillkommensfest“. Ihr Einwand, diese Idee sei naiv, stieß auf Unverständnis. Mir fiel spontan der Fall des algerischen Schriftstellers Kamel Daoud ein, der in den letzten Wochen durch alle Medien ging.

19 französische Soziologinnen und Soziologen hatten Daoud in einem offenen Brief in Le Monde der „Islamophobie“ bezichtigt. Er verbreite, so die Kritiker und Kritikerinnen, islamfeindliche Klischees und liefere Brennstoff für „die islamophoben Phantasien“ eines wachsenden Teils der europäischen Öffentlichkeit und spiele so den Rechten in die Hände. Was war geschehen? Daoud hatte am 31. Januar einen Artikel zu den massenhaften Übergriffen auf Frauen in der Silvesternacht in Köln veröffentlicht. Differenziert analysiert er die in Europa daraufhin stattfindende Debatte, sowohl das Bild der Rechtsextremen von DEN Arabern, von einer „Invasion der Barbaren“, die „unsere“ Frauen angreifen, als auch das Dilemma der Islamischen Welt: „In den Ländern Allahs herrscht ein krankes Verhältnis zur Frau und zum Begehren.“

Zwei Ereignisse, eine Ursache

Die Idee des speziellen Willkommensfestes und die Reaktion auf Daoud scheinen auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun zu haben, aber sie entspringen ein und demselben Phänomen: Einer Ignoranz gegenüber dem Anderen, gegenüber Menschen aus anderen Welt- und Kulturgegenden, einer Ignoranz, die sich antirassistisch ummantelt, die vorgibt oder sich ernsthaft einredet, Menschen zu schützen, sie jedoch paternalistisch vereinnahmt. In jenem vermeintlichen Akt des Beschützens werden den Fremden eigene Vorstellungen, ein eigenes Weltbild und eigene Gedanken abgesprochen, sie werden zum Objekt der Vorstellungen ihrer europäischen Protektoren. Dementsprechend groß sind Entsetzen und Wut, wenn ausgerechnet einer der Fremden – in diesem Fall Daoud – ein anderes Bild zeichnet, wenn er über seine Gesellschaft etwas schreibt, was diesen Vorstellungen wiederspricht.

Jene vermutlich wohlmeinenden Flüchtlingshelfer, die glauben, sie bereiten Flüchtlingen aus Afghanistan, dem Irak oder Syrien eine Freude, wenn sie ihnen zu Ehren eine schwul-lesbische-transgender-Party schmeißen, haben sich vermutlich noch nie mit den Lebensstilen, den Traditionen und Geisteshaltungen beschäftigt, die die Sozialisation der Flüchtlinge geprägt haben. Schlimmer noch: Sie kommen womöglich gar nicht auf die Idee, dass diese Sozialisation anders verlaufen sein könnte als ihre eigene, dass die Anderen anders sein könnten als sie selbst. Von ihnen wird schlicht ignoriert, dass die große Mehrheit der Flüchtlinge aus extrem patriarchalen und homosexuellenfeindlichen Gesellschaften kommt und diese Einstellungen mit Sicherheit nicht an den Grenzen abgelegt hat. Dahinter verbirgt sich der Glaube, Flucht mache Menschen zu besseren Menschen. Das gipfelt mitunter in der romantisierenden Wunschvorstellung vom noch nicht durch Kapitalismus, Konsum und westlichen Lebensstil Verdorbenen, von Rousseaus „edlem Wilden“. So gesehen ist die Idee zu diesem Fest Ausdruck von Desinteresse an der Realität der Menschen und von einem pauschalisierenden Bild, das man sich von ihnen nur zu gern macht.

Kamel Daoud schreibt in seinem Artikel in Le Monde:

Die Aufnahme der Flüchtlinge, der Asylsuchenden, die vor dem IS oder den jüngsten Kriegen fliehen, stößt im Westen auf einige Naivität. Man denkt beim Flüchtling an dessen Status und nicht an seine Kultur. Er ist ein Opfer, das die Projektionen der Europäer auf sich zieht, die Pflicht zur Menschlichkeit oder Schuldgefühle.

Der vorgebliche Antirassismus degradiert den Flüchtling zum Objekt, das so und nicht anders zu sein hat. Es geht – und das lässt sich am Fall Daoud noch deutlicher zeigen – um Deutungshoheit.

Der Araber soll schweigen

Die Kritiker Daouds kritisieren ihn nicht in der Sache, sie argumentieren nicht, sie beziehen ihn nicht ein in ihren Diskurs, sondern verbieten ihm schlicht den Mund. Mit dem Vorwurf, Daoud bediene durch seine Kritik die europäischen Fremdenfeinde, erzeugen sie eine Hierarchie der Diskurse: Wichtig ist nur der „eigene“, europäische Diskurs, die eigene Auseinandersetzung mit den Rechten von Pegida bis FN. Der Araber soll diesen Diskurs nicht stören. Äußern dürfte sich Daoud nur dann, wenn er genau diesem Diskurs Schützenhilfe leisten würde.

Was dem westlichen Intellektuellen erlaubt ist – sich von seinen Wurzel zu distanzieren – ist dem maghrebinischen Intellektuellen verboten. Er muss im Einklang mit seiner Herkunftskultur leben und seine Giftpfeile für das verfluchte Europa reservieren. (Pascale Bruckner)

Kamel Daoud ist nicht der einzige Intellektuelle, der den Ärger und mitunter den Hass manch westlicher und oft aus linken Kreisen kommender Kritikerinnen und Kritiker auf sich zieht. Ähnlich erging es Ayaan Hirsi Ali, Hamed Abdel-Samad oder Necla Kelek, um nur drei Namen zu nennen. Die französische Replik zielt ebenfalls nicht alleine auf Daoud, sondern auf das selbstkritische maghrebinische intellektuelle Milieu, namentlich auf Rachid Boudjedra und Boualem Sansal, wie Pascal Bruckner richtig feststellt. Sie zielt auf Schriftsteller, Journalisten und Künstler, die sich nicht bis in alle Ewigkeit als Opfer des Kolonialismus identifizieren wollen, sondern ihre eigenen gesellschaftlichen Verhältnisse kritisieren und als Ursache mancher Misere benennen.

Kolonialistische Bevormundung

Die Initiatoren des offenen Briefs können und wollen nicht sehen, dass Daoud sich in einem anderen diskursiven Raum aufhält, dass er über das Eigene redet. Sie können seine Argumentation nur innerhalb ihres eigenen, europäischen Koordinatensystems verstehen. Daher ist er ihnen nur ein weiterer Stichwortgeber europäischer Rassisten. Dabei übersehen sie geflissentlich, dass er sich von eben diesen dezidiert und mehr als deutlich distanziert. Ihr Diskursraum ist schon lange frei jedes Grautons – für uns oder gegen uns, dazwischen existiert nichts. So sind ihnen alle Europäer, die nicht ihre Meinung vertreten wahlweise Rassisten, Faschisten oder Kulturalisten – stammen diese Gegner aus islamischen Gesellschaften, sind sie „Zeugen der Anklage“ und Stichwortgeber der Fremdenfeinde. Der Diskurs über das Eigene wird den Anderen nicht zugestanden.

Diese vorgeblichen Antirassisten verweigern den kritischen Geistern der Islamischen Welt nicht nur die Solidarität, die diese so dringend benötigen, sie verweigern den islamischen Gesellschaften insgesamt das Recht auf Entwicklung und Veränderung, ist doch der erste Schritt zur Veränderung das Hinterfragen des Eigenen. Und so ist auch hier Pascal Bruckner zuzustimmen, wenn er bemerkt, dass die „einstigen Verdammten dieser Erde“ nicht ins Zeitalter der Selbstverantwortung eintreten sollen. „Selbstkritik, Selbstironie bleiben unser exklusives Privileg.“

Der Angriff von den „sicheren Terrassen der Pariser Cafés“ (Daoud), während er in Oran tagtäglich seine Haut riskiert, ist nur ein weiterer Beleg für die Fortsetzung postkolonialer Herrschaft. Die französischen Kollegen gestehen dem arabischen Intellektuellen die Freiheit des Denkens noch immer nicht zu, schreibt Martina Meister in Die Welt.

Spieglein, Spieglein an der Wand…

Sowohl die Veranstalter des genannten Flüchtlingsfests als auch die französischen Kritikerinnen und Kritiker Kamel Daouds verbindet die Ignoranz gegenüber dem Anderen, von dem sie nichts wissen wollen, den sie nicht sehen wollen wie er ist, um nur ja ihr Bild von sich selbst als Teil der Guten und ihr damit verbundenes Weltbild nicht zu gefährden. So geraten die Flüchtlinge zu Spiegeln, die dieses Bild und die eigene Haltung bestätigen sollen. Dieser Antirassismus ist nicht nur selbstgefällig und eurozentrisch, sondern fatal für die Dissidenten innerhalb der islamischen Welt: Verfolgt nicht nur von den religiösen Autoritäten ihrer Ländern und großen Teilen ihrer Gesellschaften – sondern zudem denunziert und zum Abschuss frei gegeben von „Antirassisten“, die Problemen in anderen Ecken der Welt nur dann Beachtung schenken, wenn sie „den Westen“ dafür verantwortlich machen können.

Heiko Heinisch

Nach Abschluss des Geschichtsstudiums arbeitete Heiko Heinisch u.a. am Ludwig-Boltzmann-Institut für historische Sozialwissenschaft. Nach längerer freiberuflicher Tätigkeit arbeitet er seit Mai 2016 als Projektleiter am Institut für Islamische Studien der Universität Wien. Nach längerer Beschäftigung mit den Themen Antisemitismus und nationalsozialistische Judenverfolgung wuchs sein Interesse an der Ideengeschichte, mit Schwerpunkt auf der Geschichte der Ideen von individueller Freiheit, Menschenrechten und Demokratie. Er hält Vorträge und veröffentlichte Bücher zu christlicher Judenfeindschaft, nationalsozialistischer Außenpolitik und Judenvernichtung und widmet sich seit einigen Jahren den Problemen, vor die Europa durch die Einwanderung konservativer Bevölkerungsschichten aus mehrheitlich islamischen Ländern gestellt wird. Daraus entstand das gemeinsam mit Nina Scholz verfasste Buch „Europa, Menschenrechte und Islam – ein Kulturkampf?“ im Wiener Passagen Verlag (2012). Er ist Mitglied des Expert_Forum Deradikalisierung, Prävention & Demokratiekultur der Stadt Wien. Im März 2019 ist das gemeinsam mit Nina Scholz verfasste Buch „Alles für Allah. Wie der politische Islam unsere Gesellschaft verändert“ im Molden Verlag erschienen.

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