Die Welt aus den Fugen

Die virtuelle Monsterjagd „Pokémon Go“ hat weltweit einen Hype ausgelöst, auf den Politiker und Medien bisher weitestgehend unkritisch aufgesprungen sind. Dabei gewinnen bei dem Spiel vor allem die Lizenzgeber. Spätestens wenn der Winter naht dürfte der Spuk wieder vorbei sein.


Wenn man ein paar Tage im Vorallgäu unterwegs ist, kann man glatt verpassen, wenn die Welt aus den Fugen gerät. Was frei zugängliches WLAN betrifft, scheint diese Region schlechter aufgestellt zu sein, als etwa ostarmenische Grenzgebiete oder die Inneren Hebriden. Wenn man sich dann am Ulmer Hauptbahnhof wieder mit der Welt vernetzen kann, muss man mitunter feststellen, dass Frankreich erneut von einem terroristischen Verbrechen heimgesucht wurde und in der Türkei ein Umsturz gescheitert ist.

Nur die vielen Menschen, die noch verbissener und in noch größerer Zahl als gewohnt auf ihre Smartphones starren, konnte ich mir nur schwer erklären. Die Ereignisse in Nizza und Ankara müssten doch inzwischen an Aktualität verloren haben. Also kein Grund, um derart fixiert auf den Bildschirm zu sein. Sollte etwa ein Virus die Menschheit heimgeseucht haben, das Erdbewohner in Mutanten verwandelt? Geradeso wie in der Serie „The Walking Dead“. Nur, dass die Ulmer Zombies vollständig auf ihre Handys fokussiert waren und darüber hinaus keinerlei Anstalten machten, andere, bisher nicht mutierte Menschen zu attackieren.

Walking Dead mit Smartphone

Ein paar weitere Klicks durch die Nachrichtenportale brachten die Antwort: Der Virus heißt „Pokémon Go“. Ein Handy-Computerspiel, bei dem es im Kern darum geht, irgendwelche wunderlichen Monster mit noch wunderlicheren Namen zu fangen, zu füttern und anschließend zu trainieren. Dann müssen die animierten Viecher in irgendwelchen Arenen gegen andere Monster antreten. Wobei es bei diesen virtuellen Gladiatorenkämpfen weniger auf das Geschick der Spieler, als auf die erkauften, erfutterten oder antrainierten Kraftpunkte der Biester ankommt. Die goldene Regel des Kapitalismus scheint dabei auch im Pokémon-Kosmos seine Gültigkeit zu behalten: Je mehr Geld für Investitionen vorhanden ist, desto wahrscheinlicher ist der künftige Erfolg. Frei nach Madonna: Cause we are living in a material world. And this is a material game.

Das Geld entscheidet

In der Hoffnung, dass irgendeine Qualitätszeitung oder zumindest die Grüne Jugend schon ein kritisches Wort zu dem Monster-Hype gefunden hat, durchstöberte ich weiter das Internet. Aber zu meiner Überraschung scheint der Hype den Hype weiter zu füttern. Alle Medien berichteten bislang neutral bis begeistert über die Handy-Monster-Hatz. Und leibhaftige Provinzpolitiker brüsten sich damit, welche Phantasiegeschöpfe sie bereits gefangen haben. Oder sie posten Fotos von sich im Einsatz: Auf der Jagd nach dem nächsten Pokémon. Und bei der Grünen Jugend, den EM-2016-Spassbremsen? Schweigen! Wo sind diese kritischen Geister, wenn man sie wirklich einmal braucht!

Das vorläufige Fazit von FAZ bis taz dagegen: „Pokémon Go“ ist eigentlich ganz gut, denn man muss rausgehen ins Freie, um die Monster mit so wohlklingenden Namen wie Rattfratz, Pummeluff oder Gluark zu erhaschen. Eben „augmented reality“, was schlicht und einfach bedeutet, dass die Phantasiewesen auf dem jeweiligen Smartphone in die reale Welt eingeblendet werden. Und genau dort müssen die Pokémon-Jünger auch sein, wenn sie ran wollen an ihre Schätzchen. Wobei sie wiederum zwei Regeln befolgen müssen: Mit dem Kopf immer auf die eingeschaltete Handy-Kamera schauen und dem Provider stets Zugang zu den Ortungsdaten gewähren (wobei sich mir sofort die Frage stellt, ob jetzt wenigstens alle, die bei Snwodens Enthüllungen hyperventilierten, aus Datenschutzgründen auf „Pokémon Go“ verzichten).

Wo bleibt der Datenschutz?

Besonders niedlich fand ich Berichte in Lokalzeitungen, in denen Menschen erklären, dass sie dank der Monsterjagd ihre Heimat endlich richtig kennenlernen und dabei sogar Museen, Gedenkstätten und besondere Orte entdecken. Ach nee! Freunde, in was für einer Welt lebt ihr denn, wenn ihr erst ein Rattfratz braucht, um zu merken, dass in Ulm ein Münster steht oder einen Pokéstop, damit ihr in Frankfurt einmal auf den Römerberg stößt? Die Tatsache, dass Verantwortliche von Gedenkstätten und Museen sowie Friedhofsbetreiber bereits vermehrt über würde- oder pietätloses Verhalten von Pokémon-Sammlern geklagt haben, belegt wohl, dass es mit dem kulturellen Mehrwert der Monster-Pirsch dann doch nicht so weit her sein dürfte.

Die anglikanische Kirche indes hat freudig festgestellt, dass nun Menschen in ihre Gotteshäuser kommen, die sonst niemals den Weg ins Haus des Herren gefunden hätten. Hallo, liebe Anglikaner! Diesen Leuten geht es nicht um euren Glauben, die wollen ein Pikachu oder ein Taubsi einsacken und dann wieder ab durch die Kirchentür zur nächsten Pokémon-Kampfarena! Und allen, die sich darüber begeistern, dass sich junge Menschen nun wieder bewegen, anstatt zu Hause vereinsamt vor der Spielekonsole zu versauern, sei gesagt: Wir brauchten in den 70ern oder 80er Jahren kein „Pokémon Go“, um in die Gänge zu kommen. Wir haben noch klassisch Fußball oder Basketball gespielt – gegen echte Menschen als Gegner. Ja, so etwas gab es wirklich! Und manchmal, so alle Schaltjahre einmal, sind wir sogar zum Spazieren in den Wald gegangen.

Lieber Fußball-Bilder sammeln

Nun will ich keinesfalls als Kulturpessimist gelten, der immer nur das Negative sieht. Im Grunde waren wir als Kinder und Jugendliche ja auch nicht anders, eben ab und an Jäger und Sammler. Nur hieß unser Pokémon damals Panini. Und anstatt auf Monster waren wir auf Klebebilder von Fußballern aus. Unser Pikachu hieß Karl-Heinz Rummenigge, unser Gluark, das war Bum-Kun Cha und unser Rattfratz nannte sich Manni Kaltz. Allerdings wären mir auch noch heute ein real existierender Boateng, Neuer oder Gomez lieber, als irgendwelche komischen Merchandise-Monster. Aber die Zeiten ändern sich eben. Nur rennen mittlerweile nicht mehr allein Kinder und Jugendliche mit ihren Handys durch die Gegend, um die Biester zu fangen, sondern gerade auch erwachsene Menschen mit Schulabschluss und Berufsausbildung. In Ulm und andernorts so gesehen und bis heute nicht verwunden.

Zu allem Überfluss berichtete mir meine Ehefrau, dass ihre Kollegen, keine Teenager, sondern gestandene Ingenieure und Bürokaufleute im Alter zwischen 30 und 50 Jahren, allabendlich losziehen, um ihre „Pokémon Go“-Performance aufzumotzen. Am nächsten Tag wird dann in der Frühstücks- oder Mittagspause ausgewertet, wer welches Vieh erhascht und welchen Level in der Hierarchie der Pokémon-Trainer erreicht hat.

Auch Erwachsene auf Monster-Pirsch

Als im Jahr 2000 die Container-Show Big Brother startete, deren Insassen Zlatko und Jürgen mit Tiefstniveau-Schlagern die Charts stürmen und Stefan Raab mit „Wadde hadde dudde da“ Deutschland beim Eurovision Constest vertrat, textete der Chefredakteur meines damaligen Arbeitgebers: „Hurra wir werden blöd!“. Leider ist der Mann nicht mehr im Dienst. Es hätte mich schon interessiert, was er zu „Pokémon Go“ zu schreiben hätte.

Trost verschafft mir indes eine Weisheit aus einem Hit der Manfred Maurenbrecher Band: „Jedes Ding hat seine Halbwertzeit, immer nur soweit, bis kein Hahn mehr danach schreit“. Und dieser Zeitpunkt könnte bei „Pokémon Go“ sehr schnell kommen. Denn haben die Fans erst einmal genug Monster gekascht und trainiert, fehlt die Herausforderung, Die  anschließenden Kämpfe dürften diesen Thrill nicht liefern. Immerhin entscheiden die jeweiligen finanziellen Mittel sehr stark über deren Ausgang.

Der Winter naht

Zum anderen wissen Fans von „Game of Thrones“, dass die Welt anders aussieht, wenn erst einmal „der Winter naht“. Das gilt nicht nur für die fiktive Welt von Westeros, sondern auch für die deutsche Provinz. Selbst der größte Fan dürfte sich überlegen, ob er wirklich noch zum Rattfratz-Jagen in den Schnee oder die Kälte zieht. An der heimischen Konsole dürfte es dann doch kommoder sein. Und vielleicht meldet sich bis dahin auch die Grüne Jugend zu Wort. Etwa mit: Freiheit für die Pummeluffs!

 

Andreas Kern

Der Diplom-Volkswirt und Journalist arbeitet seit mehreren Jahren in verschiedenen Funktionen im Bereich Öffentlichkeitsarbeit. Kern war unter anderem persönlicher Referent eines Ministers, Büroleiter des Präsidenten des Landtages von Sachsen-Anhalt sowie stellvertretender Pressesprecher des Landtages. Er hat nach einer journalistischen Ausbildung bei einer Tageszeitung im Rhein-Main-Gebiet als Wirtschaftsredakteur gearbeitet . Aufgrund familiärer Beziehungen hat er Politik und Gesellschaft Lateinamerikas besonders im Blick. Kern reist gerne auf eigene Faust durch Südamerika, Großbritannien und Südosteuropa.

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