Verblödung durch Drüberreden — Hämophektiken des Stereotypverfertigens (2)

„Wir müssen Reden“ – Im 2. Teil seines Essays zeigt D. H. Rapoport wie das vielbeschworene „Drüberreden“ Stereotype festschreibt


Alle sagen, man „solle drüber reden“. Wenn man Probleme miteinander hat, zum Beispiel. Oder auch in der Gesellschaft. Da heißt es dann „gesellschaftlicher Dialog“. Über Flüchtlinge, zum Beispiel, müsse der „angeschoben“ und möglichst „offen“ geführt werden. Oder, wenn es ganz groß wird, zum Beispiel bei neuen Gesetzen, muss eine „gesamtgesellschaftliche Debatte“ her. In jedem Fall sei es besser, miteinander zu reden, als beispielsweise aufeinander zu schießen oder ein Gesetz mit der Faust oder dem Schwert durchzusetzen. Sowas eben. Reden sei auch besser als Schweigen und Verdrängen.

Der Haken am Reden

Meinungen dieser Art hat jeder schon gehört. Und es ist ja auch, wie man so sagt, was dran. Dies und das ist dran – und ein Haken. Im folgenden will ich vom Haken am Drüberreden, nunja, reden. Ich will erklären, dass rassistische Stereotype kollektiv (und nicht privat) geformte Handlungsgestalten sind und der Mechanismus im Kollektiven genau die — üblicherweise für segensreich gehaltene — „gesellschaftliche Debatte“ ist. Mein Thema ist die Verblödung durch Drüberreden.

Gut. Fangen wir mit dem Reden im Allgemeinen an. Es ist ein weitverbreiteter Irrtum, die Menschen redeten, um einander von Sachverhalten in Kenntnis zu setzen. Das ist Quatsch. Sprache, sintemal gesprochene, dient nur in seltenen Fällen der Übermittlung von Informationen. Sprache ist das Hauptmittel unserer Sozialisation. Als solches dient sie zuerst – mit Abstand zuerst! – der Selbstversicherung am Andern. Sprache ist Wechselbestätigung im Gegenüber. Jeder Mensch ist gewohnt und darauf angewiesen, sich seine Selbstwahrnehmung dadurch zu beglaubigen, dass er sie verläßlich auch in der Fremdwahrnehmung seiner selbst erzeugen kann. Dieser grundlegende Zweck richtet das eigene, wie auch das fremde Kommunikationsverhalten ab.

Reden ist so in die Welt getreten. Reden, das ist, wohin das Lausen unserer Affenvorfahren sich entwickelt hat. Zu einer Art „Fernstreicheln“ nämlich. Das war der evolutinäre Grund der Sprach-Entstehung. (Von wegen „Im Anfang war das Wort“!) Gruppendasein zu ermöglichen, ohne dass man deswegen immer gleich in die Nahdistanz musste, das war der Vorteil. Ein Laut, ein Ruf, und schon war klar, hey, Du gehörst dazu, Du bist einer von unserem Rudel, Du bist gemocht, und Dein Befinden zählt etwas. „Bleib hier!“ und „Hau ab!“, das waren die beiden Urworte. Mit einem Wort, Sprache ist in der Hauptsache non-verbale Kommunikation mittels Verben.

„Fernstreicheln“ und Reden übers Wetter

Das ist auch der Grund, aus dem Menschen gern übers Wetter reden. Das Wetter ist ja eigentlich offensichtlich. Wenn sich zwei im Regen begegnen, sind sie meist ganz gut im Bilde, dass es gerade regnet. Trotzdem wird sich einer nicht enthalten können, sowas wie „So ein Scheißregen!“ zu offenbaren, worauf der Angesprochene etwa „Kann man wohl sagen“ zu antworten genötigt ist. Es geht nicht um Information, geschweige denn Debatte. Debatte ist fast schon Sprachmißbrauch. Ganze Gesellschaften meiden den Disput. Waren Sie mal in Japan? Wirklich. Man muss, wenn man die Kommunikationsgewohnheiten der Menschen beobachtet, unbedingt zu dem Schluß kommen, dass die Fähigkeit der Sprache, dennoch Information zu übermitteln, reiner Zufall ist. Viele würden sagen: Ein glücklicher Zufall. Ich möchte anfügen: Nicht nur.i

Denn Sprache, und insonderheit gesprochene, erhält damit die sphinxhafte Doppelnatur, Sozialisationshandlung und Mittel zur Übertragung von Information zu seinii. Man weiß eigentlich nie, welches von beiden sie gerade ist. Oder, wenn sie beides zugleich ist, zu welchen Anteilen dies und zu welchen jenes? Selbst wenn man in der Philosophen eigenen Weltfremdheit meint, das Verhältnis von Sozialisationshandlung und Informationsübermittelung sei prinzipiell der Analyse zugänglich, wende ich ein: Wer tut denn sowas? Wer läßt denn, parallel zu seiner Rede immer einen Sprachanalysator im Kopf mitlaufen, der meldet: „Obacht, die Feststellung des Regnens bekundet zu 88% ein Sozialisationsbedürfnis?“ Ich möchte behaupten, daß die Analyse nur in Draufsicht (also einem Beobachter) oder in der Retrospektive zuverlässig möglich ist, nicht aber während einer eine Rede führt.

Sprache also handelt uns durch ihre lebensweltliche Dimension einen erheblichen Kopfsalat ein. Ich sage das nicht, um die Sprache zu denunzieren; sie bleibt, gerade weil sie so schwierig ist, die große Liebe meines Lebens. Es ist wie mit jeder großen Liebe: Nur durch sie kann man klug werden — und nur durch sie verblöden. Damit meine ich nicht, dass Sprache natürlich ein Mittel der Verführung ist. Ja, das ist sie. Es gibt kein besseres. Daneben ist sie auch Mittel der Beschwörung und Bewältigung. Sie hat diese fast magisch anmutende Eingenart, alles Benannte allein durch den Vorgang des Benennens zu einem Objekt zu machen, das der Betrachtung und Manipulation zugänglich wird. Das ist die Grundlage jeder Introspektion und Psychoanalyse. All das ist richtig. Auch, dass Reden Gewaltausübung sei, läßt sich nicht von der Hand weisen. Nicht allein, weil die Herrschenden den Sprachgebrauch diktierten oder in ihren Begriffen die bestehenden Machtverhältnisse fälschlich als „natürliche Verhältnisse“ aufschienen. Sondern weil sie ganz prinzipiell das Mittel der Wahl ist (sic!), unser Handeln massiv zu beeinflussen. Sprache, als Erziehung, als Aufforderungssatz, und natürlich als Gesetz, vermittelt jene Form der Gewalt, die wir Zivilisation nennen. Und wäre, selbst wenn ihr ein Element der Herrschaftsbefriedung eignete, doch ein unleugbarer Forschritt, verglichen mit der Gewalt durch Zähne, Faust und Schwert. Noch als Monolog übt Rede unleugbar Gewalt, denn sie ist die Hauptwaffe des Selbsthasses — und dann wieder das Hauptinstrument der Selbsttröstung.

Die dunkle Seite der Sprache?

Und so weiter. All das kann Sprache infolge ihrer Doppelnatur und soll hier im Einzelnen nicht weiter ausgeführt werden. Es ist nur wichtig für den Fortgang meines Argumentes, die Sprache aus der Nische zu befreien, in welche sie die Ansehung der Meisten (und leider auch der Philosophen) pferchen will; dass nämlich Sprache im Wesentlichen nichts, als ein Symbolsystem zum Übermitteln von Nachrichten sei. Oder in den ungleich schöneren Worten Wilhelm von Humboldts, das „Medium des Denkens und der Weltauffassung schlechthin“. Mag sein, ihre helle Seite ist so; aber ihre andere Seite, die Seite ihrer Herkunft, ihrer Wurzeln als Sozialisationshandlung, die soll man nicht unterschlagen. Nicht aus Defaitismus, sondern aus dem ehrlichen Drange heraus, die Welt, in der wir leben, zu begreifen. Zum Beispiel, wie in ihr rassistische Stereotype entstehen. Der Vorgang bliebe ganz unbegriffen, gestünden wir uns diese Seite des Miteinanderredens nicht ein.

Sehen wir uns ihn endlich genauer an, den Mechanismus, wie in der kollektiven Handlung des Drüberredens rassistische Stereotype verfertigt werden. Seine Funktionsweise liegt darin, dass ein Begriff, anstatt zum Symbol des mit ihm Bezeichneten, zum Symbol der mit ihm verknüpften Sozialisationshandlung wird.

Dieser Mechanismus erhellt unmittelbar aus dem oben gesagten. Üblicherweise meint man von Begriffen, dass sie irgendeine Art von Gegenständen bezeichnen. Sie hätten, meint der Philosoph, eine Extension und eine Intension; Extension sei, was an Gegenständen unter einen Begriff fiele und Intension, wodurch diese Gegenstände von allen anderen sich unterschieden. Und das sei im Wesentlichen und von einigen philosophischen Spitzfindigkeiten abgesehen, was einen Begriff ausmache, Symbol, bzw. Name für Extension und Intension zu sein. In der Tat ist das häufig und gerade bei Begriffen, mit denen Philosophen sich beschäftigen, der Fall. Aber daneben haben Begriffe eben die Funktion, Teil einer Sozialisationshandlung zu sein. Linke beispielsweise können leicht zueinander finden, indem sie „Kapitalist“ oder „Ausbeutung“ sagen. Neben der — von mir gar nicht bestrittenen — epistemologischen Dimension dieser Begriffe, dienen sie immer auch als Schibboleth linker Köpfe; sind sie gleichzeitig Symbol der Sozialisationshandlung des Einander-zu-Erkennen-gebens.

Und gerade so, nur eben eine intellektuelle Ebene drunter, bildet sich das völkische Stereotyp. „Jude“, beispielsweise, das Wort erfuhr im Drüberreden seinen Bedeutungswandel. Extensional wäre der „Jude“ der Sammelbegriff für alle Juden, die ich kennte und konkret benennen könnte. Er vereinheitlich in dieser Form die mannigfache Bedeutung und Wahrnehmung des Einzelnen gerade nicht. Auch intensional ist das Wort „Jude“ zunächst noch kein Stereotyp. Vielmehr würde es die unterschiedlichen Zuschreibungen bezeichnen, anhand derer unterschiedliche Menschen einen Juden von einem Nicht-Juden unterscheiden würden. (Natürlich ist die Merkmals-Zuschreibung bereits ein Einfallstor für Stereotypen, aber das wäre kein Mechanismus ihres Zustandekommens, sondern nur Ausdruck ihres Bestehens.) Der Mechanismus liegt tatsächlich darin, dass das Wort „Jude“ — trotz Extension und Intension! — in einem ganz anderen, nämlich lebensweltlichen Zusammenhang Verwendung findet; als Sozialisationshandlung. Für den Lohn des Dazugehörens machen Menschen sich gern dümmer, als sie sind. Das Wort „Jude“ (Türke, Neger etc.) steht im Dialog für die Anbiederung, vom selben Rudel (Stamm, Volk) zu sein. Es hat sich, in einem Prozess, den wir noch genauer untersuchen werden, ganz in das alte „Bleib hier!“ und „Hau ab!“ unserer Affenvorfahren verwandelt.

Bereits an dieser Stelle werden einige recht befriedigende Vorteile dieser Theorie vor Theorien von vereinheitlicht fehlgeleiteten Wahrnehmungen erkennbar. Erstens werden die Stereotype kollektiv angefertigt, anstatt privat. Dadurch wird Vereinheitlichung überhaupt erst möglich und verständlich. Zweitens ist das meiste auf den Affekt des Dazugehören-Wollens abgewälzt (i.e. ein In-Group / Out-Group-Phänomeniii). Das mag, wie alle monokausalen Zusammenhänge, kritikwürdig sein. Dennoch ist es eine gewaltige Verbesserung gegenüber Theorien, welche die einheitliche Wahrnehmungs-Pathologisierung einer Gesellschaft behaupten. Denn zunächst sind auch diese Theorien monokausal. Aber darüber hinaus behaupten sie psychopathologische Mechanismen, die sich nicht nur ganz prinzipiell der empirischen Überprüfbarkeit entziehen, sondern ihrerseits die Frage ihres einheitlichen Zustandekommens im Raum stehen lassen. Drittens schließlich ist der vorgeschlagene Mechanismus der Verblödung durch Drüberreden offen für die empirische Überprüfung. Man kann nämlich in der Tat, weil die hier gemeinte Rede im Gegensatz zur privaten Wahrnehmungsstörung öffentlich und unverstellt ist, im Nachhinein analysieren, wie die Begriffe „Jude“, „Neger“ etc. verwendet wurden; ob als Informations-Träger — oder als Sozialisationshandlung.

LINK – Hier geht’s zu Teil 1

i Man kann den Einwand führen, die Sozialisationshandlung sei ja doch im „Übermitteln von Information“ schon inbegriffen. Denn Informationsübermittlung sei schließlich kein Selbstzweck, sondern stets eingebettet in ein Geflecht verschiedener Absichten; Information würde so gut wie immer zu einem Zweck übermittelt, der nicht identisch mit dem Inhalt der Information selbst ist. Wenn beispielsweise die Information „Es regnet“ übermittelt würde, könnte der implizite Zweck der Information darin liegen, den Adressaten zum Anlegen regenfester Kleidung zu bewegen. Oder eben zur Sozialisation durch Zustimmung. Welche Zwecke auch immer im Einzelnen gemeint wären, in der Regel sei, so das Argument, mindestens ein Teil von ihnen sozialer Natur. – Darauf erwidere ich, dass man es gern so sehen kann und diese Aussage, von einigen technischen Details abgesehen, von meiner gar nicht verschieden ist. Es wird nur, sage ich, dieser soziale Zweck einer Information in der Regel übersehen. Die Philosophen beschäftigen sich, wenn sie über Bedeutungs- und Wahrheitstheorien nachdenken, in der Regel mit dem informatorischen Gehalt der Sprache und, wenn es hochkommt, mit dem Redegestus (zB. in “Moods and Performances” bei Donald Davidson). Die hier, vielleicht ein bisschen mutwillig überbetonte Eigenschaft der Sprache, Sozialisationshandlung zu sein, ist hingegen so gut wie niemals Gegenstand der Untersuchung.

ii Diese einfache Erkenntnis weist im Übrigen fast in die entgegen gesetzte Richtung des sogenannten „linguistic turns“. Damals begann ein Gutteil der Philosophen, jegliche Erkenntnisfähigkeit des Menschen in die Möglichkeit, eine Sprache zu sprechen einfalten zu wollen (eine andere Form Einfalt, wenn man will). Meine Argumentation zielt, im Gegensatz dazu, in die Richtung, Sprache zu einem lebensweltlichen Ding aufzublasen. Ein Ding, das mit Handlungen und Gefühlen genauso einher geht, wie andere komplexe Gebilde; Staat zum Beispiel, oder Wissenschaft. Gebilde also, denen neben ihrer epistemischen Dimension, Erkenntnis zu ermöglichen, ganz wesentlich auch eine lebensweltliche Dimension eignet. Das bedeutet, man lebt in diesen Dingen und durch sie und zwar unabhängig davon, was man von der Wirklichkeit begreifen mag oder über sie aussagen könnte.

iii Die deutsche Übersetzung für In-Group lautet „Eigengruppe“ und meint die eigenen Leute. Man verzeihe mir, dass ich lieber beim Anglizismus bleibe, aber „Eigengruppe“ klingt irgendwie nach „Eigenurin“. Ich sage auch nicht Stein-Musik. Manche Anglizismen sind einfach, ähm, cooler.

Daniel Rapoport

Daniel H. Rapoport, geb. 1971, studierte Chemie an der TU Berlin und arbeitet seitdem als Wissenschaftler an Technologien zur Analyse und Vermehrung menschlicher und tierischer Zellen. Neben wissenschaftlichen Publikationen veröffentlicht D.H. Rapoport Essays und Glossen zu Politik, Philosophie und Kunst.

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