Out of Hildburghausen

Jetzt also auch Kassel. Nichts gegen die nordhessische Großstadt, aber langsam wird der Tatort derart inflationär, dass selbst Darsteller über die Massenware lästern. Wenn 40 neue Folgen pro Jahr auf den Markt kommen, muss die Serie zwangsläufig irgendwann in der Beliebigkeit versanden.


Klein-Krotzenburg hat noch keins, Mitterfirmiansreut nicht und Hildburghausen auch noch nicht. Dafür erhält Kassel das nächste Tatort-Ermittlerteam. Natürlich freut man sich als gebürtiger und bekennender Hesse, wenn eine Stadt aus der Heimat bundesweite TV-Aufmerksamkeit auf sich zieht. Aber ob die Tatort-Verantwortlichen angesichts der Ermittler-Inflation noch wissen, was sie tun, kann man sich wirklich fragen.

Schickte jede ARD-Sendeanstalt früher ein Team auf Verbrecherjagd, so sind es allein im mittelgroßen Bundesland Hessen bald derer drei – und zwar in Frankfurt, Wiesbaden und demnächst eben Kassel. Der Hessische Rundfunk ist da keine Ausnahme, auch WDR, NDR und wie sie sonst heißen sind dabei, ein einst stattliches Pferd zu Tode zu reiten. Folglich stieg die Zahl der Erstausstrahlungen 2015 auf 40 an. Soviel wie nie. Selbst eine der beliebtesten Schauspielerinnn aus dem Tatort-Kosmos, Adele Neuhauser aus Wien, findet es übertrieben, dass nun fast jede Kleinstadt ein eigenes TV-Kommissariat hat.

Festival der Beliebigkeit

Gewiss, die Einschaltquoten stimmen noch. Erklären kann man sich das aber nur mit der sehr deutschen Neigung, einstmals Bewährtem besonders lange anzuhängen. Gaben die verschiedenen Kommissarinnen und Kommissare noch bis in die 80er Jahre ein einigermaßen einheitliches Bild ab, so weiß man inzwischen wirklich nicht mehr, für was die Reihe eigentlich steht. Sie hat sich ausgefranst und ist in einem extremen Ausmaß beliebig geworden.

Die aktuellen Quotenkönige sind Axel Prahl und Jan Josef Liefers, deren Münsteraner Ableger der Reihe vor allem auf den Spaßfaktor setzt. Anfangs war das wirklich erfrischend anders und lustig, mit der Zeit ist diese nordwestdeutsche Variante des Polizeispiels jedoch immer mehr zur selbstverliebten Ego-Show zweier Individualisten mutiert. Wer sehen will, wie man Heiterkeit und Spannung wirklich gut mixt, sollte einfach zum very britischen Inspector Barnaby umschalten.

Ego-Show mit Liefers und Prahl

Ebebenfalls auf der Comedy-Welle, aber (noch) deutlich sympathischer als Liefers & Co, sind Christian Ulmen und Nora Tschirner in Weimar unterwegs. Allerdings würden deren Drehbücher bei der englischen BBC oder ITV wohl nicht mal die Vorkontrolle überstehen – und vermutlich schnellstmöglich „back to sender“ geschickt. So künstlich und an den Haaren herbei gezogen wirkt die Handlung der Weimar-Variante manchmal.

Ulrich Tukur ist mittlerweile so etwas wie der Joseph Beuys der Kriminalfilme. Sein Wiesbaden-Tatort kommt so abgehoben und verkopft daher, dass man wohl entweder eine bestimmte Grundmenge an illegalen Rauschmitteln intus haben muss, um sich dafür zu begeistern. Oder man steht ansonsten auf estnisches Autorenkino in Originalversion.

München sendet Tarantino für Arme

Manchmal ist Tatort auch Tarantino für Arme. Etwa, wenn Starregisseur Dominik Graf eine München-Folge derart mit Symbolismus, und Nebenhandlungen überfrachtet, dass selbst seine gestandene Hauptdarstellerin Meret Becker Schwierigkeiten hat, Handlung und Drehbuch einigermaßen zu verstehen.

Wenn die Kölner, Stuttgarter oder Leipziger Teams unterwegs sind, ist der Tatort einfach Massenware – ohne große Ausschläge nach oben oder unten. Allerdings auch ohne wirklich Gänsehaut bei den Zuschauern auszulösen. Dafür stehen viel zu häufig die persönlichen Befindlichkeiten der Ermittler, die grundsätzlichen Probleme der Menschheit oder Ausflüge in die  – von den Autoren vermuteten – Brennpunkte der deutschen Aktualität im Weg. Was allerdings nicht bedeuten muss, dass es per se langweilig sein muss, wenn das Umfeld der Kriminaler oder Sozialkritik in die Handlung einbezogen werden. In jedem durchschnittlichen Schwedenkrimi gelingt dies eigentlich ganz gut.

Allerdings sind es auch hier die Briten, die zeigen, wie man es perfekt macht. „Für alle Fälle Fitz“ („Cracker“ im Original) gilt bei Krimi-Fans immer noch als Erweckungserlebnis. Wie sich der dickleibige Hauptdarsteller Robbie Coltrane als versoffener, sexgeiler und spielsüchtiger Kriminalpsychologe durch die Verwerfungen der Nach-Thatcher-Ära ermittelt, wurde von den Feuilletons in aller Welt gefeiert.  Die Folge „Kalte Rache“ ist bis heute mit das Beste, was je unter dem Rubrum Krimi über den Bildschirm lief. Diese atmosphärische Dichte und derart spektakuläre Wendungen schaffen Tatort-Autoren auch dann nicht, wenn sie noch hundert Jahre und an tausend Orten der deutschen Provinz üben dürfen.

Der Kaiser ist nackt

Es ist damit zu rechnen, dass es dem Tatort so ergehen wird, wie dem Kaiser mit seinen neuen Kleidern im Grimm`schen Märchen. Zwangsläufig wird ein Feuilletonist irgendwann schreiben, dass der Kaiser Tatort längst nackt ist. Spätestens dann, sollte es auch der große Teil der Fangemeinde verstanden haben.

Schon jetzt kann niemand mehr ernsthaft erklären, was der Tatort eigentlich ist. Comedy wie bei Liefers oder Ulmen? Dadaismus à la Tukur? Actionkino mit Großschauspieler Til Schweiger? Eine konsistente Antwort gibt es nicht.

Wer wirklich gute Krimis mag, für den wäre ein Ende des Tatorts kein Verlust. Ausreichend Alternativen gibt es. Vor allem die aus angelsächsischer oder skandinavischer Produktion sind deutlich besser. Daneben können deutsche Formate wie etwa „München Mord“, „Der Staatsanwalt“ oder „Wilsberg“ zumindest solide Unterhaltung sein.

Schweiger braucht den Tatort nicht

Frontrunner wie Liefers, Prahl, Ulmen und Tschirner wiederum brauchen kein Tatort-Label. Ihre Filme dürften auch in einer eigenen Reihe funktionieren. Was selbstverständlich gerade für Til Schweiger gilt, dessen Produktionen der Kollege Wallasch hier ausgiebig kommentiert hat. Auf Schweigers Filmen muss nicht Tatort drauf stehen. So lange Schweiger drin ist, werden es die Fans mögen.

Die Liebe der Fans zum Tatort indes dürfte irgendwann endlich sein.

Andreas Kern

Der Diplom-Volkswirt und Journalist arbeitet seit mehreren Jahren in verschiedenen Funktionen im Bereich Öffentlichkeitsarbeit. Kern war unter anderem persönlicher Referent eines Ministers, Büroleiter des Präsidenten des Landtages von Sachsen-Anhalt sowie stellvertretender Pressesprecher des Landtages. Er hat nach einer journalistischen Ausbildung bei einer Tageszeitung im Rhein-Main-Gebiet als Wirtschaftsredakteur gearbeitet . Aufgrund familiärer Beziehungen hat er Politik und Gesellschaft Lateinamerikas besonders im Blick. Kern reist gerne auf eigene Faust durch Südamerika, Großbritannien und Südosteuropa.

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