Tod und Tabu

In ihrer bedeutenden Rede zur Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels fragte sich Carolin Emcke weshalb Rassisten, Sexisten, Neu- und Altrechte und religiöse Fundamentalisten die Würde so vieler Menschen mit solch perfider Verbissenheit verletzten und deutete an, dass es vielleicht gar nicht um die Angegriffenen geht, sondern um die phantasierte Würde der Angreifer. Zu glauben gleiche Rechte für Alle, für Asylanten, Flüchtlinge, LGBTI-Menschen, Frauen, Kinder und andere, nähmen niemandem etwas weg, sondern erweiterten doch den Kreis der frei und demokratisch lebenden Menschen, ist allerdings naiv. Diejenigen, die Liberalisierungen im sozialen und politischen Miteinander bekämpfen, verlieren tatsächlich etwas: ihre Deutungshoheit und damit die Macht über das Leben anderer. Wolfgang Brosche untersucht, wie das im speziellen Fall der „Demo für Alle“ aussieht.


Das Virginitätsideal ist das Ideal jener, die entjungfern wollen.
Karl Kraus

Die „Demo“ und ihr Verlangen nach Tabus

Hedwig Beverfoerde (zu deren Adels-„von“ später noch manches zu sagen sein wird), die Führerin der aufklärungs- und homosexuellenfeindlichen „Demo für Alle“, hat sich für Deutschland an die Spitze einer europaweiten Initiative gesetzt, deren Ziel es ist, die EU zu veranlassen, die Ehe für alle Zeiten einzig als eine Gemeinschaft zwischen Mann und Frau gesetzlich festzuschreiben.

Vor Kurzem mokierte Beverfoerde sich auf ihrer Facebookseite über die Warnung einer Elternzeitschrift vor der Infiltration von Schulen und Kindergärten mit rechtem Gedankenschlecht durch die zur (und mit) Indoktrination missbrauchten Kinder von Neonazis. Die rechten Leser empörten sich in ihren Kommentaren dazu in dem Tenor: nun würden schon Eltern, die ihre Kinder zu Gehorsam und Wohlverhalten erzögen und sie anständig kleideten und kämmten bereits als rechte Gesellen diffamiert. Unsere Gesellschaft mutiere zur linken Diktatur, in der die Elternrechte einkassiert würden.

Nach ihrem vergeblichen Kampf gegen neue Bildungspläne in Baden-Württemberg und Niedersachsen, versuchen Beverfoerde und ihre Kohorten es nun in Hessen und drohen mit neuem Protest in Wiesbaden.

Der jüngste Coup der „Demo für Alle“ ist ein Besuch ihrer Führerin Beverfoerde und deren journalistischer Kooperationspartnerin Birgit Kelle beim Bayrischen Kultusminister Ludwig Spaenle. Selbst im reaktionären Freistaat gibt es Pläne für eine sachte Unterrichtsreform in Sachen LGBTI-Rechte und Lebensrealität. Dagegen läuft Beverfoerdes Organisation seit Längerem auch in anderen Bundesländern Sturm. Man überreichte dem Minister einen Forderungskatalog, der nichts weniger als am Rande der Volksverhetzung zusammengeschmiert war. Ziel: keine Akzeptanz von Homosexualität und Homosexuellen; kein Gespräch darüber in der Schule, also Schweigen von den Realitäten der Gefühle, der Lust und des Begehrens; Sexualität solle als Verantwortungsaufgabe für die heterosexuelle Fortpflanzung vermittelt werden.

Ich will im Einzelnen gar nicht mehr auf die seit Jahren in ohrentötender Monotonie wiederholten Forderungen, Behauptungen, Beleidigungen von Homosexuellen (ja, aller LGBTI-Menschen) und andere Frechheiten eingehen. Auf den bösen Kern herunter gebrochen bleiben zwei niederträchtige Anwürfe übrig: Homosexualität (und jede andere Sexualität als die Heterosexualität zwecks Vermehrung der Art) ist Sünde, falsch, krank, nah an der Kriminalität, denn sie ist eben auch ansteckend und deshalb gefährlich für Familie, Kinder und Staat. Es geht darum, langsam reißen sie die Maske herunter, LGBTI-Menschen als nicht gleichwertig bezeichnen zu dürfen und sie auch so behandeln zu können. Lupenreiner Rassismus und Klassismus!

Es ist die Wucht der Niedertracht, die uns mit diesen primitiven und bösartigen Gedanken trifft. Hier sollen Ausgrenzung, Hass und Abwertung quasi politisch institutionalisiert werden. Aber dahinter steckt noch etwas ganz anderes, tief verborgen hinter diesen Vorurteilen, der Abwehr, dem Niederknüppeln. Überlesen darf man im genannten Forderungskatalog an den bayerischen Landtag (dem eigentlich nur noch die Aufforderung nach der Wiedereinführung des § 175 fehlt, aber keine Sorge, das wird noch kommen) nicht den neunten, letzten Abschnitt. Er ist den Elternrechten gewidmet. Elternrechte heißt bei diesen Leuten „Beherrschung der Kinder“ als von ihnen gemachte Geschöpfe! Beherrschung in jeder Hinsicht! Es geht um den ultimativen Besitz am Kind. I can make you and I can break you!

Beverfoerde, Kelle, ihre Gallionsfigur Gabriele Kuby und Ihresgleichen sind gar nicht am Wohl ihrer und anderer Kinder interessiert, denn dann würden sie sich mit gleicher Empörung um die Kinderarmut in diesem Lande kümmern, um die Verwahrlosung zehntausender Kinder, sie müssten auf die Straße gehen gegen die Brutalität und die Gewalt, die so viele Kinder täglich erfahren, gegen die mörderischen Eltern, die jedes Jahr mehr als 150 umbringen, sie müssten demonstrieren gegen die Grausamkeit der Erziehung und Dressur, gegen den Spott und gegen die Lebens-Entmutigung, gegen das Brechen von Kindern – aber nein, das alles tun sie nicht. Denn das sind ihre Instrumente im Umgang mit Kindern und die wollen sie sich auf keinen Fall – „Elternrechte“ – nehmen lassen. Es ist ein urtümlicher Hass gegen das Leben, das sich in Kindern am freiesten manifestiert, der diese gefährlichen Leute antreibt:

Es geht um den Willen zur Macht übers Kind, der schon vor der Geburt beginnt, ja sogar schon Teil des Zeugungsaktes ist, ja eigentlich noch weit davor entsteht… „mein Kind“. Eine Sache mit Possessivpronomen!

Verschweigen und Verdrängen, Tabu und Töten

Der Katalog den Beverfoerde und ihre Clique in Bayern überreichte, fordert das Verschweigen, ja das Totschweigen von anderer Sexualität als der Heterosexualität, die Tabuisierung nicht nur eines Themas, sondern von Menschen und damit unterbindet man auch, dass diese Menschen sich überhaupt bemerkbar machen dürfen. Und wenn, dann höchstens als Aussätzige! Das ist die Forderung nach Lepra-Quarantäne!

In ihrem Essay „Hate Speech“ widmet Judith Butler ein langes Kapitel der breitgefächerten Analyse eines amerikanischen Militärgesetzes aus den 1990er Jahren. Dieses Gesetz verbot homosexuellen Militärangehörigen nicht nur sich zu outen, sondern überhaupt über Homosexualität zu sprechen; nicht nur die ihre. Schon das Erwähnen dieses Themas, so insinuierte man, sei gefährlich und könne Militärangehörige in Gefahr und Verruf bringen.

Butler stellt fest, dass es sich hier nicht nur um ein Redeverbot handelte, das die verfassungsmäßigen Rechte einschränkt, ja außer Kraft setzt, sondern das natürlich auch das Begehren reguliert, sexuell und emotional.

Ja noch mehr – es nimmt die Deutungshoheit über den tabuisierten Begriff „Homosexualität“ den Homosexuellen selbst weg – die nicht über sich sprechen dürfen und übergibt sie an eine tabuisierende Institution.

Aus einem Sprechakt wird so als Handlungsanweisung, ein Akt der staatlichen Pastoralmacht über das Leben einer ganzen Bevölkerungsgruppe.

Zugrunde liegt die Befürchtung, dass Homosexuelle mit ihrer Homosexualität den Zusammenhalt, die Integrität, die Hierarchien und letztendlich auch Sinn und Zweck des Militärs desavouieren, also seine Schlagkraft schwächen würden. Da diese Befürchtung nicht für Heterosexuelle gilt, die sich ja nicht einmal outen müssen und deren Leben an sich schon ein nicht notwendiges Bekenntnis zur Heterosexualität ist, grundieren all diese Ängste in einer damals auch schon längst ausgeräumten Chimäre: Homosexualität ist ansteckend, also eine Krankheit, die den Staat gefährdet.

Doch noch mehr: dieses Sprechverbot ist mythisch: Wenn man den Namen des Teufels ausspricht, dann kommt er. Die Furcht der heterosexuellen Männer vor der Homosexualität, die sie als bedrohlich für ihr anscheinend gesichertes Selbstbild wahrnehmen, erhält so ihre Pseudobegründung, ihre Rechtfertigung, ihren Bestand. Das Errichten eines Tabus legitimiert die Gewalt gegen die Tabubrecher, also Menschen die man aus der Gemeinschaft ausstößt, um so erst die Gemeinschaft zu stiften. Das einzig wirklich Teuflische daran ist die self-fulfilling prophesy, ist der Teufelskreis, der hier initiiert wird. Aber das eignet ja allen Tabus. Ein Tabu dient immer der Vernichtung eines Begehrens und benötigt gleichsam den Bruch, um intakt zu bleiben. Eine Absurdität mit schlimmsten Folgen für die Tabubrecher – drohte ihnen in dem Fall jenes US-Gesetzes die Verstoßung aus dem Militär, die soziale Auslöschung, ist es in anderen Gesellschaften die Strafe des Todes, der endgültigen Auslöschung. Ein Tabu erzeugt also bewusst Ängste und Hass auf diejenigen, die es brechen – mit einem Tabu, das immer sexuelle (Neid-)Implikationen hat, wird also die gesamte Gesellschaft durch Furcht und künstlich erzeugte Ehrfurcht gemaßregelt und regiert.

Die Kontrolle über die Sexualität der Beherrschten und in dem amerikanischen Gesetz noch viel mehr, die Kontrolle über das Selbstbild, dessen Deutung und das Zurechtkommen mit dem eigenen Leben, den eigenen Gefühlen und dem Körper, wird den Beherrschten weggenommen.

Man kann also mit Recht jenes amerikanische Gesetz als eine Attacke der autoritären Antiaufklärer gegen Liberalität, Emanzipation und Menschenrechte nennen. Beispiele dafür, dass es, wenn einmal eingeführt, nicht bei einem solcher Gesetze bleiben wird, liefert die Geschichte des 20. Jahrhunderts in Menge; siehe die Nürnberger Rassegesetze.

Das US-Militärgesetz hatte keinen Bestand – aber die Verleugnung und Verdrängung der Homosexualität in Institutionen und im Privatleben ist heute noch immer und nicht nur in den USA virulent. In Russland gibt es inzwischen ähnliche Gesetze, die nicht bloß das Militär betreffen, sondern die homosexuelle Selbstdarstellung in der ganzen Gesellschaft kriminalisieren und damit Homosexuelle zu Menschen zweiter Klasse machen.

Auf solche Gesetze laufen die Forderungen der „Demo für Alle“ auch hinaus – noch mehr, man verlangt letztendlich das Recht, Homosexuelle, LGBTI-Menschen, diskriminieren zu dürfen, auszuschließen aus bestimmten gesellschaftlichen Bereichen, was sie wieder mit Absicht in die Schatten und ins Zwielicht drängen soll. Einmal im Zwielicht, wird ihnen auch das vorgeworfen werden und man wird sie wieder kriminalisieren. Die eigentliche Absicht der fanatischen Kämpfer gegen Homosexuelle ist die Rückkehr des § 175.

Was treibt diese Niedertracht an?

Sigmund Freud deutete solche Art von Verdrängung, Verleugnung und Kriminalisierung Homosexueller als einen konstituierenden Akt für den Zusammenhalt staatlicher Institutionen (z.B. des Militärs), ja des ganzen Staates selbst. Die somit rituelle Abscheu vor Homosexuellen definiert also das Selbstverständnis ganzer Großgruppen und garantiert ihren Zusammenhalt. Ohne Zweifel trifft das auf die Betreiber und die Anhänger der „Demo für Alle“ zu; sie gewinnen ihr Selbstverständnis, ja sogar ihre Identität, indem sie anderen ihre Identität verweigern, sogar diese andere Identität bekämpfen. Sie wollen mit ihren Forderungen und deren Realisierung durch ausgrenzende Gesetze alle in den Dunstkreis ihrer Identität zwingen, die ja erst durch die Abwehr des anderen, nicht durch etwas Eigenes entsteht.

Es ist übrigens nicht verwunderlich, dass die Selbstverleugner und Hasser, die sich z.B. bei den „Homosexuellen in der AfD“ zusammengerottet haben, in das gleiche Horn stoßen. Der Wunsch zur angeblich sauberen, anständigen, gerechtfertigten Mehrheit zu gehören setzt die Opferung des Selbst auf dem Altar dieser Mehrheit voraus. Die Terrorchimäre des Normalen dient tatsächlich der Disziplinierung nach innen in die Gruppe hinein.

Es geht also auch hier wieder einzig um die Pastoralmacht – ums Beherrschen. Das Beherrschen von Menschen wird von den Beherrschenden immer als befriedigend und selbstbestätigend wahrgenommen – immer aber auch als bedroht.

Die naive Einstellung, gleiche Rechte für Homosexuelle/LGBTI nähmen ihren Gegnern doch nichts weg, sondern erweiterten den Kreis derer, die diese Rechte genießen, ist natürlich grundfalsch. Die „Demo für Alle“ und andere Hassorganisationen verlieren sehr wohl etwas: erst einmal die Deutungshoheit über gesellschaftliche Erscheinungsformen, die ihnen das windige Recht gibt, Realitäten (wie die Existenz der Homosexualität oder die gleiche Lebensberechtigung von Homosexuellen) zu leugnen. – Deshalb bemüht man sich nahezu manisch, Homosexualität als nicht natürlich, krankhaft und pathologisch darzustellen; was ja dann auch wieder den Kampf dagegen, wie gegen eine Seuche, rechtfertigen soll. Mit der Verschwörungstheorie von der „Internationalen Homolobby“ verfolgt man genau solche Ziele, nämlich Homosexualität als epidemisch zu deuten. Dabei wird die Anzahl der Homosexuellen wie oft genug lügenhaft behauptet wird, nicht größer, schon gar nicht durch „Ansteckung“, sondern aufgrund vieler Liberalisierungen nur sichtbarer. Aber genau das sollen sie ja nicht mehr sein – wie der Forderungskatalog der „Demo für Alle“ belegt. Der erste Schritt zur Vernichtung ist die frühe Verdrängung aus der Gesellschaft – in diesem Fall der Demo-Umtriebe heißt das: Verdrängung aus dem Schulalltag.

Damit ist aber der Hass gegen Homosexuelle nicht ganz erklärt. Er liegt noch tiefer. Ähnliche Kämpfe wie gegen Homosexuelle führen die Mitglieder und Anhänger der „Demo“ und vieler anderer Organisationen, mit denen man sich international vernetzt, auch gegen Frauen- und Kinderrechte, gegen Wissenschaften, die neue Erkenntnisse zu Geschlechterfragen erarbeiten oder gegen die Abtreibung und die Sterbehilfe – also gegen alles, was Menschen eine größere Selbstbestimmung verschafft und Gleichheit in einer demokratisch verfassten Gemeinschaft. Recht eigentlich wenden sich diese reaktionären Gruppierungen gegen jede menschliche und rationale Veränderung der Gesellschaft. Es ist deshalb auch kein Wunder, dass in diesen Organisationen Neofaschisten, Rechtsradikale, Wissenschaftsfeinde, Fundichristen und ungewöhnlich viele Adelige gemeinsam agieren.

Was sie alle eint, ist die Angst vor Veränderungen – die diese gesellschaftlichen Ausdifferenzierungen mit sich bringen – und damit die Angst vor der gerechteren Zukunft, der Unwille, diese Zukunft zu gestalten und die Unfähigkeit, das Hergebrachte, also ihre eigene Generation, auf den Prüfstand zu stellen, denn das könnte Bedeutungsverlust heißen – was ja erneut ein Verlust der Herrschaft ist.

Kind, Herrschaft und Elternschaft als Lüge von der Liebe

Kurz nach Darwin und durchaus von dem Begründer der Evolutionsforschung beeinflusst, erarbeitete Freud für viele furchtsame Ignoranten noch heute radikale Konzepte des Weltverständnisses, die auf Introjektion, also Forschung und nicht mehr auf Projektion, also Religion, gegründet waren. Der Entwickler der Psychoanalyse und ihrer Theorien war lebenslang ein mutiger Kämpfer für die Moderne. Ein schädliches Mal jedoch zeigte er sich zaghaft und opportunistisch.

Mit Erschrecken hatte Freud festgestellt, dass alle seine Patienten als Kinder von ihren Eltern oder Erziehungsberechtigten und Autoritätspersonen missbraucht worden waren: sexuell oder emotional.

Wir wissen längst, dass der geifernde Kinderschänder, der hinter dem Busch lauert, ein Märchentrumm ist – und die wahren Kindesmissbraucher die Masken von Vätern, Onkeln, Lehrern und Priestern tragen. Fassungslos aufgrund dieser Tatsache formulierte Freud die Theorie von der Verführung im Kindesalter, die regelrecht epidemische Ausmaße hatte – anders ließ sich das psychische Leid, das er vorfand, nicht mehr erklären. Das hieß aber auch, die Gesellschaft der Jahrhundertwende, deren Bigotterie und Rassismus Freud wohl kannte (ihm selbst war oft genug der Judenhass begegnet), war eben nicht bürgerlich wohlanständig, sondern durch und durch grausam und hasserfüllt und ließ Grausamkeit und Hass an der nächsten Generation aus – und nannte das Erziehungsberechtigung und Elternrecht.

Freud ahnte sehr wohl, dass dieser skandalenthüllende Gedanke ihn seine bürgerliche Existenz hätte kosten können – alle seine anderen Erkenntnisse hatten ja bereits zu wüsten Angriffen geführt. Die wenigen Kollegen, mit denen er sich besprach, wehrten diesen Gedanken, dessen Sprengkraft sie genau erkannten, ebenso ab – und mahnten Freud, ihn bloß nicht zu veröffentlichen.

Kurz darauf präsentierte Freud dann den „Ödipuskomplex“, der zwar auch zwei Tabus ansprach – Inzest mit der Mutter und den Vatermord – aber auf eine Weise, die dem Kind die Schuld zuwies fürs sexuelle Begehren und die Aggression der Eltern. Der notorische „Ödipus-Komplex/Konflikt“ ist ein Schandfleck auf Sigmund Freuds Weste, nicht weil er einen großen wissenschaftlichen Irrtum darstellt, sondern weil er für ein persönliches, opportunistisches Versagen des sonst so mutigen Forschers, steht.

Erst einige Jahrzehnte nach der Veröffentlichung mehrten sich kritische Stimmen auch aus der Geschlechterforschung – am deutlichsten hat es Erich Fromm formuliert, als er sagte: der Konflikt in den menschlichen Gesellschaften bestehe nicht zwischen Patriarchat und Matriarchat, sondern zwischen Eltern und Kindern. Das hätte Freud erkennen müssen, wenn er den Ödipus-Mythos unvoreingenommen angeschaut hätte. Denn nicht Ödipus, das Kind, setzt das tragische Geschehen in Gang. Es sind seine vor der Zukunft furchtsamen Eltern, die sich wahrsagen lassen, was denn mit dem erwarteten Kind geschehen werde. Sie sind es, die daraufhin ihr Kind foltern lassen – man durchschneidet ihm die Fußsehnen damit er unbeweglich wird – gleichsam das, was die Demo für Alle gesetzlich festlegen will: die emotionale Unbeweglichkeit der nächsten Generation, die man auch noch mit einem gesetzlichen Gebot zum Schweigen, ja Verstummen bringen will.

Die Eltern lassen Ödipus nach der Verstümmelung in der Wildnis aussetzen, wo er den Tod finden soll. Das ist ein perfide und sorgfältig geplanter Kindsmord. Dass Ödipus diese Anschläge überlebt, gehört zur Logik der tragischen Erzählung.

Freud deutet nun auch das weitere Geschehen so um, damit es in sein Konzept des polymorph perversen Kindes passt. Keineswegs aber WILL Ödipus seinen Vater töten – wer die Geschichte genau liest, der erfährt, dass der junge Mann gar nicht weiß, wer ihm auf offener Straße feindlich entgegentritt (sein Vater) und erfährt auch, dass der Kampf, der aus dem Streit folgt, in Notwehr endet. Ödipus wird erneut vom Vater – ohne dass er es weiß – mit dem Tode bedroht. Und als er dann nach Theben, seiner eigentlichen Heimatstadt kommt, drängt sich ihm seine Mutter (die er gar nicht kennt) als Königin und Frau auf. Die Tabus von Mutterinzest und Vatermord müssen also zwangsläufig gebrochen werden – sie sind gleichsam eine Waffe gegen die nächste Generation, die Unerhörtes ausgeübt hat; und doch ist Ödipus nur seinen eigenen Weg gegangen, aber blieb immer verstrickt in die zerstörerische Macht seiner Eltern…

Die Deutungshoheit über das zukünftige Leben, die Pastoralmacht bis zum Tode – oder wie die „Demo für Alle“ das nennt, das „Elternrecht“, bleibt also immer in der Elterngeneration. Der Kampf findet statt zwischen Eltern und Kindern – und dem Kind, das unschuldig in die Machenschaften seiner Eltern gezogen wird, gibt man auch noch die Schuld. Die Eltern neiden ihrem Kind das unschuldige Neusein, die Frische, die Lebendigkeit – die bei ihnen abnehmen. Die Angst vor dem Tod korreliert mit der Angst vor und dem Hass auf das Kind. Diese Angst vor dem Tod führt zu Phantasien des Selbstbelügens, durch Religion abgesichert: ich lebe in meinen Kindern weiter.

Aber natürlich sind die Kinder nicht die zweite Auflage des eigenen Ichs. Damit jedoch diese Illusion wahr werde, darf das Kind kein anderes und eigenes Ich entwickeln. Man erfindet Gefahren, die vom Kind ausgehen: Rebellion, Umsturz und Vatermord. Schon gar nicht darf das Kind eine eigene Sexualität, ein anderes Begehren haben. All das muss vernichtet oder wenigstens mit Tabus gezähmt und gebändigt werden. Und so greift man denn zu Verweisen, Rügen, Strafen, zur Erziehung. Alles, was das Kind ausmacht als wirklich eigenständige Person, die in die Zukunft hinein leben könnte, muss aberzogen werden. Man setzt sogar mit dem Betrügen des Kindes ums eigene Leben noch früher ein – und verhindert, dass das Kind überhaupt vom anderen Leben, das das seine sein könnte, erfährt. Deshalb bekämpfen die Eltern der „Demo für Alle“ jede Schule der Vielfalt, der Offenheit, der Lebendigkeit.

So verweigert man den Jungen die notwendigen Informationen, um eine sexuelle und damit individuelle Selbstentdeckung und Selbstdefinition unmöglich zu machen – die Definition soll wirkmächtig bei den Eltern bleiben, die dadurch die Sexualität, das Empfinden und das Selbstempfinden ihrer Kinder beherrschen – natürlich will die Elterngeneration diese Pastoralmacht für sich allein behalten, um den Preis, den sie auch selbst einmal bezahlt hat: das Zerbrechen des Kindes!

Es ist angesichts dieser Absichten auch kein Wunder mehr, weshalb sich die Gegner der Homosexuellen auf die Religion berufen. Das Christentum (wie alle Monotheismen) ist nichts weiter als ein gigantisches Erziehungsprojekt. Dessen größte und hässlichste Narrative mit der Lüge von der Liebe getarnt werden.

Im Alten Testament ist Abraham bereit, seinen eigenen Sohn abzuschlachten, um seinen himmlischen Vater zufrieden zu stellen. Nein, ich akzeptiere nicht den Einwand, Gott schickte in letzter Sekunde einen Engel, um das Opfer abzubrechen. Wieso befiehlt dieser himmlische Diktator denn dieses Opfer überhaupt? Um Abrahams Treue und Loyalität zu erforschen! Also sadistisch zu beobachten, wie dem das Herz bricht, weil er seinen eigenen Sohn umbringt!

Recht eigentlich handelt dieser Mythos ja von zwei Morden – dem des Abraham an seinem Sohn und dem Seelenmord Gottes, der damit seine Macht manifestiert, an Abraham.

Der Abraham-Mythos ist keine Lobpreisung Gottes, sondern die Geschichte eines Doppelmordes. Es gibt darin keinen gütigen Gott – es handelt sich um das mörderische Unterfangen, einen Menschen auf Linie zu bringen. Wer behauptet, Gott habe aus Barmherzigkeit dann doch den Engel geschickt, schlägt sich auf die Seite von Mördern – denn Barmherzigkeit ist pure Willkür dessen, der mit dem Leben eines anderen spielt. Er könnte morden oder es auch aus purem Machtkalkül lassen.

Das Neue Testament bietet uns noch eine Steigerung des Kindermordes, die durch den unerhörtesten Lügencoup der Geschichte zur größten Liebestat aller Zeiten erklärt wurde. Nicht nur, dass sich Jesus auf den Willen des Vaters hinrichten lassen muss, nein, er muss sich damit auch noch einverstanden erklären: „Nicht mein Wille geschehe!“

Hier kommt kein Engel mit milderen Umständen zur Rettung – hier wird das Abschlachten des Kindes Wirklichkeit. Der Vater vernichtet das junge Leben, damit es ihm zu Willen ist.

Um diese epochale Infamie hat man sich im Christentum das Konstrukt des Sündenfalls und der Erbsünde zurechtgelegt, das jeden Menschen per se für schlecht und sündig erklärt. Im tiefsten geht es bei diesem Mythos vom Rauswurf aus dem Paradies und seinen grässlichen, mörderischen Folgen ja auch um das Bekämpfen des eigenen Willens, des eigenen Lebens im Kind, um das Unmöglich-Machen einer selbst gewählten und gestalteten Zukunft. Nur Eltern glauben an Paradiese, eine Welt ohne Entwicklung und Zukunft und deshalb ohne Tod, den sie so fürchten. Der unfolgsame Adam, das ungehorsame Kind – vor dem die Anhänger der Hedwig Beverfoerde so viel Angst haben – sie sind die Geschöpfe der Zukunft, die die herrschenden Eltern an ihren Tod gemahnen.

Hier wird auch deutlich, weshalb sich so viele Adlige an der „Demo für Alle“ beteiligen… Hedwig von Beverfoerde voran, Beatrix von Storch als graue Eminenz im Hintergrund oder Matthias von Gersdorff mit seinen reaktionären Träumen von der katholischen Standesgesellschaft. Die Idee des Adels ist ja gerade die ununterbrochene Blutlinie der Unterordnung, die die künftigen Generationen aufs vergangene Leben der Eltern verpflichtet. Das geht ohne Brechen des Willens, der Individualität und der Unterordnung unter die Diktatur der Heterosexualität nicht ab.

Es ist – dies als Apercu – auch nicht verwunderlich, dass das kürzliche Outing eines hohen Mitgliedes der britischen Royals von Reaktionären als höchste Bedrohung der Dynastie verstanden wurde – was sie ja auch ist: die Existenz der Homosexualität bedroht die tönernen Füße der heterosexuell strukturierten Macht. Freud hatte es schon ganz richtig gesehen – die Unterdrückung der Homosexualität (und anderer Sexualitäten) imaginiert ein bestimmtes Staatswesen und bestimmte Machtstrukturen. Die Akzeptanz des anders gearteten zieht selbstverständlich auch einen anderen, weniger selbstherrlichen, ja minder herrischen Staat nach sich. – Oder noch deutlicher: staatliche und private Strukturen, denen eine sexuelle und geschlechtliche Hierarchie zugrunde liegt, werden bedroht durch einen menschlicheren Umgang miteinander und die Gleichberechtigung der Geschlechter und Sexualitäten. Deshalb wird der Kampf gegen LGBTI-Menschen und Genderforschung auch so erbittert geführt, denn deren Emanzipation ist nicht denkbar ohne noch weitgehendere Forderungen nach und Verwirklichung von Gerechtigkeit.

Hier erklären sich auch die Eiertänze, die speziell eine Frontfrau der „Demo für Alle“, Birgit Kelle, immer wieder vollführt um die Begriffe Toleranz und Akzeptanz – letztendlich fühlt sie auch ganz persönlich ihre reaktionär imaginierte Machtstellung in der Familie und als Mutter bedroht. Dabei vergisst sie, dass es nicht ihr Muttersein (oder das Vatersein der Männer) ist, das Autorität verschafft, sondern der Grad ihrer zugewandten Menschlichkeit, die kein Geschlecht und keine Hierarchie hat.

Und noch etwas Monströses motiviert die Feinde der Homosexuellen, der Emanzipation und Gleichberechtigung – nicht nur die Furcht vor einer menschlicheren Gesellschaft, die ihnen ihre Definitionshoheit, die Möglichkeit zur Diffamierung und Abqualifizierung, das Einteilen von Menschen in erste, zweite oder womöglich dritte Klasse nehmen würde…

Ein phantastischer Kampfbegriff der „Demo für Alle“ ist die unhaltbare Chimäre von der „Frühsexualisierung“. Man behauptet, durch eine Frühsexualisierung sollen Kinder vorbereitet werde auf den sexuellen Zugriff von Pädophilen – gemeint sind natürlich die Homosexuellen. Ich erwähnte bereits früher, dass wir längst wissen: es ist nicht der schmierige Kinderschänder, der sexuelle Outcast, der hinter dem Busch auf Kinder lauert, es sind zumeist die dem Kind sehr Nahestehenden, die sich an ihm vergreifen. Es ist also das Entsetzen vor der eigenen Lust, dem eigenen Begehren, das diese Eltern und Kinderschützer beunruhigt und das sie deshalb auch das reine, saubere, unschuldige Kind erfinden lässt als Projektionsfläche ihrer eigenen Wünsche, die sie so im Kind abzutöten meinen. So ist Karl Kraus zu verstehen, wenn er sagt: „Das Virginitätsideal ist das Ideal jener, die entjungfern wollen.“

Nicht zuletzt 3000 Jahre Sexualpanik und Hysterie der monotheistischen Religionen haben die Furcht vor der eigenen Sexualität, dem eigenen Begehren und Körper erzeugt und eben diese Begehrlichkeiten als etwas Satanisches verdammt. Notwendigerweise brauchte man ein Gegenideal, das der Unschuld, Reinheit, Virginität und erlaubte die unzweifelhaft notwendige Sexualität nur zur Fortpflanzung. Aus diesem cancerogenen Keim entstehen dann auch alle Gedanken übers Dynastische oder Völkische, das ja auch wiederum fanatisch rein gehalten werden muss.

Die „Demo für Alle“ bekämpft also tatsächlich die eigenen Kinder, in ihnen die Furcht vor der eigenen Lust, die Angst vor der eigenen Lebendigkeit, die sich immer als nicht-normgerecht entpuppen wird. Die Mitglieder der „Demo“ und anderer Organisationen, misstrauen dem Kind, das sie einmal waren, neugierig, weltoffen, menschenverliebt und immer gewillt, etwas Neues auszuprobieren. Sie bekämpfen eigentlich sich selbst im eigenen Kind.

Der Begriff der „Frühsexualisierung“ macht das eigene Kind zum Schlachtfeld der eigenen Lebensangst, die längst zum Hass mutiert ist. Kein Wunder, dass Hedwig Beverfoerde mit perfidem Stolz jenen unschwulen („unschwul“ im Sinne von „untot“) Marcel präsentierte, der ihrer auch katholischen Hassbotschaft aufs eigene Leben so auf den Leim gegangen ist – und seinen „Homoheilern“ in der „Bruderschaft des Weges“, einer Gruppe von sich selbsthassenden Homosexuellen, die behauptet, man könne sein Begehren wegbeten – „pray the gay away“. So wurde Marcel zum Schoßhündchen der Homo-Hasser und konnte als geglückter Dressur-, als Unterwerfungsakt vorgeführt werden, wie das gebrochene Tier vom Dompteur im Zirkus – oder wie das wohlerzogene, gekämmte, knixende oder Diener machende Kind, das die Eltern stolz präsentieren.

Die verachtenswerteste Inkarnation eines solchen Menschendompteurs stellt ohne Zweifel Josef Fritzl dar. Sein Wunsch, sein Kind zu beherrschen und damit auch seine eigenen Leidenschaften, fand seine Realisierung in einem wirklich perversen Akt: er nahm seine Tochter in einem geheimen Kellerverlies gefangen und zeugte mit ihr mehrere Kinder. Ob er einige dieser Kinderenkel, an denen er seine Macht weiter ausübte, sogar tötete, ist nicht geklärt – immerhin starben sie durch seine bewusste Nachlässigkeit: I can make you and I can break you!

Nur so ist seine ungeheure Behauptung zu verstehen, er sei doch ein sorgender Vater gewesen; er habe in seinem Marterverschlag angeblich auch eine Gasleitung eingebaut, mit der er seine Tochter und deren Kinder hätte vergasen können. Er habe es aber nicht getan – das sei doch ein Zeugnis seiner väterlichen Liebe gewesen.

Fritzl beteuerte, er habe seine Tochter vor dem Abgleiten in Drogen und Kriminalität bewahren wollen, wollte also die absurde Chimäre eines reinen Kindes wiederherstellen. Sein Aufwand dazu war enorm: sein Kellerkinderverlies musste Jahrzehnte am Laufen gehalten werden, das kostete Nerven, Zeit und Geld. Ebenso wendet die „Demo für Alle“ ungeheuerliche Energie auf, Verliese und Gefängnisse des Nichtwissens und Nichtempfindens zu bauen. Für sein Phantasma der reinen, unsexuellen, also unlebendigen Kinder hatte Fritzl also das Leben und die Integrität seiner Tochter zerstört.

Tabus bringen den Tod

Während die „Demo“-Anhänger andere bekämpfen, abwerten und beleidigen, bekämpfen sie eigentlich sich selbst und ihre Kinder aus Angst vor der Zukunft. So endet der Wahn, der sich bei der „Demo für Alle“ schon in einer gefährlichen Entwicklungsstufe befindet. Ihr geht es – noch einmal ganz deutlich gesagt – um die Herrschaft übers Kind, die nächste Generation, den Kampf auch gegen die eigenen Wünsche zur Freiheit, die einmal von den eigenen Eltern unterdrückt wurden.

Die Forderungen der „Demo für Alle“ nach Verschweigen, Verheimlichen der Lebenswirklichkeiten laufen auf jene berühmte Blendung hinaus, die in nahezu allen Darstellungen der bereits erwähnten Abraham-Geschichte zu sehen ist – die Kindheitsforscherin Alice Miller hat mehrfach darauf hingewiesen: Abraham hält seinem Kind, das er schlachten will, die Augen zu, damit dieses Kind nicht sieht, dass ihn sein Vater für seinen Wahn der Allmacht opfern will. – Der Gott, dem Abraham sein Kind opfert, ist er ja selbst, sein personifizierter Wunsch zur Herrschaft über alles und jeden; wie ja der monotheistische Gott immer die Projektion einer väterlichen Erektion ist.

Die tatsächliche Macht zur psychischen und körperlichen Beherrschung des Kindes und damit der Wille zur Beherrschung der nächsten Generation – das ist es, was die „Demo für Alle“ tatsächlich will, dafür nimmt sie die Verletzung und Zerstörung nicht nur ganzer Menschengruppen in Kauf und deren Ausschluss von Demokratie, Menschen- und Bürgerrechten und damit auch vom Lebensglück ohne Elternherrschaft. Recht eigentlich sind all ihre Aktivitäten gegen die eigenen Kinder gerichtet, und ihre Forderungen nach neuen-alten Tabus führen wie alle Tabus: zum Tod, dem psychischen der eigenen Kinder und auch dem physischen Tod der Ausgegrenzten, dem Selbstmord aus Verzweifelung der verlassenen, für nicht würdig und richtig erklärten jungen Menschen und dem gesellschaftlichen Tod der älteren, die der Ausgrenzung nicht mehr standhalten konnten.

Die Tabus, die die „Demo für Alle“ fordert, bringen den Tod.

Nachtrag: Am 30.Oktober setzt die „Demo für Alle“ auf einer neuen Demonstration in Wiesbaden ihr Zerstörungswerk fort!

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