Die Kolumnisten

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Warum wir lieber suchen als finden

Partnersuche jenseits der 60 ist kein Aufbruch ins Glück, sondern ein Abstieg in die Realität. Zu viele Optionen, zu wenig Mut, eine Überdosis Lebenserfahrung und Menschen, die Nähe wollen, solange sie nichts kostet. Gesucht wird permanent, gefunden möglichst nichts – denn Finden würde bedeuten, sich festlegen zu müssen. Und genau davor haben inzwischen fast alle Angst. Eine Männer-und-Frauen-sind-das-nackte-Grauen-Kolumne von Henning Hirsch.

Gebrochene Herzen
Bilder alle von ChatGPT

„Du kannst doch nicht für immer allein bleiben“, sagt die alte Schulfreundin, die seit Jahren in einer Beziehung feststeckt, die sie nur mit Sarkasmus und (zu viel) Rotwein erträgt, während sie sich hin und wieder unter einem Pseudonym beim Online-Dating tummelt.

„Doch“, sage ich. „Das geht.“

„Aber willst du das tatsächlich?“

„Nein. Aber ich will den Rest auch nicht.“

Damit sind wir schon im Thema. Partnersuche im fortgeschrittenen Erwachsenenalter ist kein romantisches Unterfangen mehr, sondern eine Abwägung zwischen zwei Übeln: Alleinsein oder Kompromiss. Wer behauptet, es gehe noch um große Gefühle, hält Wunschdenken für einen Plan oder verdient sein Geld mit Paartherapie.

Ein bisschen Statistik, um die Illusion zu töten

Gefühlt 80 Prozent der Menschen zwischen 40 und 60 sind entweder frisch getrennt, latent unzufrieden oder offiziell „offen für Neues“. Das ist keine belastbare Studie, sondern eine Kneipenstatistik, aber wie bei allen guten Statistiken stimmt die Richtung. Kaum jemand ist glücklich vergeben, kaum jemand wirklich gern allein. Die meisten dümpeln dazwischen wie Treibgut nach einem Beziehungs-Tsunami.

Interessant ist: Alle suchen. Und fast alle klagen über dieselben Dinge. Die anderen seien schwierig, bindungsgestört, oberflächlich, egoistisch, psychisch angeschlagen oder schlicht unattraktiv. Niemand kommt auf die Idee, dass er selbst Teil des Problems sein könnte. Das wäre ja auch unerquicklich.

Online-Dating: Der Markt regelt – leider

Partnersuche ist heute Markt. Punkt. Angebot, Nachfrage, Selbstdarstellung, Konkurrenz. Wer das leugnet, ist entweder neu dabei oder hoffnungslos romantisch deformiert. Datingplattformen funktionieren wie Online-Shops. Man filtert, sortiert aus, legt Kriterien fest, die man früher nie formuliert hätte.

„Nichtraucher, sportlich, humorvoll, emotional verfügbar, bitte ohne Altlasten.“ Altlasten – ein wunderschönes Wort für Kinder, Ex-Partner, Lebenserfahrung.

Gleichzeitig bringt jeder selbst einen ganzen LKW davon mit.

Man selbst ist das Produkt. Mit Bildern, Texten, Versprechen. „Reiselustig“, „tiefgründig“, „lache gerne“. Wer nicht gerne lacht, schreibt das natürlich nicht rein. Ehrlichkeit ist hier ein theoretisches Konzept.

Die große Lüge vom Matching

Uns wird suggeriert, Algorithmen könnten Passung berechnen. Als ließe sich Begehren mathematisch erfassen. In Wahrheit filtern diese Systeme nur grob vor: Alter, Entfernung, Bildungsgrad. Der Rest ist Zufall. Oder Pech.

Das Matching erzeugt vor allem eines: die Illusion unbegrenzter Auswahl. Und diese Illusion ist Gift. Denn wer glaubt, es gäbe immer noch etwas Besseres, bleibt innerlich unverbindlich. Warum investieren, wenn der nächste Swipe vielleicht ein Upgrade bringt?

So entsteht eine Generation emotionaler Leasingverträge. Jeder ist ersetzbar, niemand unverzichtbar.

Kontaktaufnahme – oder: der stille Massenfriedhof

Die meisten Nachrichten versanden. Das ist kein Drama, sondern Normalität. Wer damit nicht umgehen kann, sollte sofort aufhören. Ghosting ist keine persönliche Beleidigung, sondern eine Effizienzmaßnahme. Die Postfächer quellen über. Selektion erfolgt brutal.

Männer schreiben zu viel, Frauen antworten zu wenig – das alte Lied. Daraus resultieren Frust, Ressentiments und bizarre Theorien über das jeweils andere Geschlecht. Er glaubt, sie sei überheblich. Sie glaubt, er sei verzweifelt. Beide haben recht.

Gespräche ohne Risiko

Kommt es zum Austausch, ist alles merkwürdig glatt. Niemand will anecken. Niemand zeigt sich wirklich. Man spricht über Reisen, Essen, Serien. Tiefe wird behauptet, aber vermieden. Bloß nicht zu früh ehrlich sein. Ehrlichkeit könnte abschrecken. Und Abschrecken ist das Schlimmste, was passieren kann – noch schlimmer als sich selbst zu verlieren.

Das Resultat sind Gespräche, die man nach zwei Tagen vergessen hat. Menschen werden austauschbar. Nicht, weil sie es sind, sondern weil man sie so behandelt.

Das erste Treffen – 30 Sekunden Wahrheit

Das erste Treffen ist gnadenlos. Innerhalb von Sekunden entscheidet sich alles. Stimme, Geruch, Präsenz. Dinge, die kein Profil abbildet. Danach läuft ein inneres Protokoll:

– Könnte ich mir vorstellen, mit dieser Person aufzuwachen?
– Würde mich ihre/seine Art auf Dauer nerven?
– Ist genug Anziehung da, um mich selbst zu belügen?

Häufige Antwort: nein.

Dann folgt der Satz: „Du bist total nett, aber…“ Nett ist der diplomatische Begriff für: keinerlei erotische Relevanz. Nett ist Endstation.

Warum es strukturell nicht funktioniert

Die meisten scheitern nicht an einzelnen Begegnungen, sondern an systemischen Widersprüchen:

Man will Nähe, aber keine Verpflichtung.
Man will Freiheit, aber nicht allein sein.

Man will verstanden werden, ohne sich erklären zu müssen.
Man will einen reifen Partner, ist selbst aber kaum kompromissfähig.

Hinzu kommt die Vorgeschichte. Jeder bringt Verletzungen mit, die angeblich verarbeitet sind. Spoiler: sind sie nicht. Man reagiert auf alte Muster, nicht auf den aktuellen Menschen. Ein falsches Wort, und die Vergangenheit übernimmt.

Der Mythos der „richtigen Zeit“

Oft heißt es: „Es war einfach nicht der richtige Zeitpunkt.“ Das ist Unsinn. Der Zeitpunkt ist fast nie richtig. Entweder ist man noch beschädigt von der letzten Beziehung oder bereits zynisch von der Suche. Das Zeitfenster emotionaler Offenheit ist schmal – und wird mit zunehmendem Alter eher kleiner.

Illusionsverzicht als Überlebensstrategie

Vielleicht liegt die Lösung nicht darin, besser zu suchen, sondern weniger zu erwarten. Keine ewige Liebe, keine Seelenverwandtschaft, kein Hollywood-Finale, sondern: stattdessen funktionierende Nähe auf Zeit. Respekt. Humor. Sexuelle Anziehung. Und die Fähigkeit, sich wieder zu trennen, ohne verbrannte Erde zu hinterlassen.

Das ist unromantisch. Aber realistisch.

Wer ohne Illusionen sucht, hat bessere Chancen, nicht bitter zu werden. Die Partnersuche wird dadurch nicht erfolgreicher, aber erträglicher. Und manchmal ist das schon ein Gewinn.

Oder man lässt es ganz. Auch das ist legitim. Alleinsein ist kein Makel, sondern ein Zustand. Mit Vorteilen. Vor allem Ruhe.

Und Ruhe, das stellt man irgendwann fest, ist ohnehin das attraktivste Beziehungsmodell.
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