Welche Gefahr geht von Putin aus?

Putin und sein Russland seien für Deutschland und für den Westen überhaupt keine Gefahr, meinen viele. Aber er ist eine Gefahr für Osteuropa, darauf muss die Nato sich vorbereiten.

Die Sowjetunion in einem DDR-Schulatlas der 1970er.

Ein oft gehörtes Gegenargument gegen die gegenwärtige Verteidigungspolitik der NATO, die zu einer Stärkung der militärischen Kraft des Bündnisses führen soll, ist, dass Russland doch auf keinen Fall den Plan habe, Europa zu unterwerfen, in Berlin einzumarschieren und einen großen Krieg gegen die Nato zu führen. Man stellt sich dabei auf den Standpunkt, dass Deutschland, Frankreich, Italien oder das Vereinigte Königreich sich doch nur bedroht fühlen müssten, wenn Putin den Plan hätte, ganz Mittel- und Westeuropa mit einem Krieg zu überziehen und unter seine Vorherrschaft zu bringen. Dabei denkt man offenbar in Kategorien der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, als Militärbündnisse um die Vorherrschaft über ganz Europa kämpften oder das nationalsozialistische Deutschland plante, den Großteil Europas und zumindest den europäischen Teil der damaligen Sowjetunion zu unterwerfen.

Da dieses Szenario unwahrscheinlich ist, so die Argumentation, ist eine militärische Stärkung der NATO, insbesondere seiner mittel- und westeuropäischen Mitglieder keineswegs notwendig. Untermalt wird diese Sicht wahlweise mit den Thesen, dass Putin an den rohstoffarmen westeuropäischen Regionen kein Interesse hätte, dass Westeuropa wirtschaftlich und militärisch schon heute ein viel zu starker Gegner für Russland wäre oder dass Russland in der Geschichte niemals nach Macht in Europa gestrebt hätte.

Will Putin Westeuropa unterwerfen?

Nun behauptet allerdings auch niemand, dass Putin und seine Militärs und Komplizen derzeit einen Angriff auf Deutschland oder Frankreich planen würden. Wenn von einem möglichen Angriff auf die Nato die Rede ist, dann geht es um die östlichen Mitglieder, jene Länder, die sich erst vor wenigen Jahrzehnten aus der Vorherrschaft der russischen Machthaber befreit haben. Diese Länder haben sich der Nato als einem Verteidigungsbündnis angeschlossen, um sich vor dem Zugriff russischer Herrschaftsbestrebungen in Sicherheit zu bringen. Die Pflicht und Verantwortung der anderen Nato-Mitglieder ist es, diese Sicherheit zu bieten.

Für Putin ist der Zerfall der Sowjetunion die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts. Zwar behauptete er vor 10 Jahren, nachdem Russland die ukrainische Krim bereits besetzt hatte, dass er die Sowjetunion nicht wieder herstellen wolle, und er beklagte sich, dass niemand ihm glauben würde, aber im August provozierte sein Außenminister dann die Welt, indem er beim Treffen in Alaska ein T-Shirt mit der russischen Abkürzung der Sowjetunion (Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken – UdSSR, kyrillisch СССР) trug.

Worauf sich der Westen einstellen sollte

Zumindest mit dem Szenario, dass Putin versuchen könnte, die geopolitische Katastrophe rückgängig zu machen, muss man sich also als verantwortungsvoller Politiker beschäftigen. Und auch die Möglichkeit, dass er, sollte er damit erfolgreich sein, einen Schritt weitergehen könnte und versuchen könnte den russischen Herrschaftsbereich auf den ehemaligen Ostblock, also wenigstens Richtung Bulgarien, Rumänien, Ungarn, die Slowakei, womöglich auch auf Polen und Tschechien auszudehnen, darf man nicht völlig abtun. Dabei könnte er eine Strategie der Destabilisierung der noch relativ fragilen staatlichen Strukturen, der Unterstützung russlandfreundlicher Regierungen, aber auch des militärischen Eingreifens unter dem Vorwand, russische Minderheiten schützen oder angebliche Gefahren für Russland abwenden zu müssen, verfolgen.

Das muss nicht in jedem Fall mit einem militärischen Angriff Russlands auf das betreffende Land und mit dem Einmarsch und der Besetzung des Landes durch Putins Truppen verbunden sein. Auch für Putin dürfte diese Option die letzte und nicht die erste Wahl sein. Ihm wird es genügen, wenn in den betreffenden Ländern Diktatoren an die Macht kommen, die eine gelenkte Demokratie nach russischem Vorbild errichten und sich der Vormacht Russlands unterordnen, so, wie es etwa der weißrussische Diktator vorgemacht hat. Nur dort, wo das nicht gelingt, wird Russland zunächst versuchen, die Demokratie zu destabilisieren, als letzter Schritt kommt dann der Einmarsch in Frage.

Die größte Gefahr nach einem Ende der russischen Aggression in der Ukraine wird vermutlich für Länder bestehen, die nicht zur Nato gehören, allen voran vermutlich Georgien, wenn es dort nicht ohnehin gelingt, dauerhaft eine Regierung zu implementieren, die sich ähnlich russlandtreu wie die weißrussische verhält. Aber das größte Interesse dürften Putin und seine Leute wohl am Baltikum haben. Dort ist es auch am einfachsten, Vorwände zu konstruieren, die auch russlandfreundlichen und Nato-kritischen Gruppen in West- und Mitteleuropa plausibel erscheinen werden. Man wird eine Gefahr für die russische Enklave von Kaliningrad behaupten, man kann zudem, ähnlich wie in der Ukraine, eine Unterdrückung russischer Minderheiten in den baltischen Republiken herbeireden. Da ließen sich auch auf einfache Weise Probleme inszenieren und Anlässe für eine Eskalation provozieren.

Die Frage ist, wie die russische Führung die Bereitschaft der Nato-Länder einschätzt, diese Mitglieder tatsächlich in einem Konflikt zu verteidigen, wie konsequent sie das tun würden – und wie schnell und effektiv sie dazu in der Lage wären. Wer die Gefahr gern kleinredet, argumentiert etwa so: Diese Länder sind ja Nato-Mitglieder, also muss und wird die Nato jeden Angriff einfach zurückschlagen, und da die Nato militärisch doch viel stärker ist, wird Russland einen solchen Angriff niemals wagen, da müsse man sich doch gar keine Sorgen machen.

Die Sache könnte aber auch anders aussehen: Die Verteidigung gegen einen Angriff auf Nato-Länder ist kein Automatismus. Jeder Einsatz muss jeweils national beschlossen werden, das kostet Zeit und ist zudem nicht sicher. Wenn ein Land tatsächlich den Einsatz seiner Truppen zusagt, müssen die koordiniert, verlegt und einsatzfähig gemacht werden. Zugleich muss es in parlamentarischen Demokratien wenigstens eine gewisse Zustimmung in der Bevölkerung und der Öffentlichkeit zu solchen Einsätzen geben.

Wenn man bedenkt, wie laut derzeit die Stimmen derer sind, die nicht einmal bereit sind, das eigene Land gegen einen Aggressor zu verteidigen, dann kann man sich leicht ausrechnen, wie gering die Bereitschaft sein könnte, eine Politik zu unterstützen, die Bodentruppen und die Luftwaffe für eine Verteidigung baltischer Republiken in den Kampf schickt. Zumal die russische Desinformation, Zersetzungs- und Spaltungspolitik bis dahin weitergehen dürfte. Man kann schon heute darauf wetten, welche Parteien und Experten sich hierzulande Putins Geschichten über Gefahren für seine „Landsleute“ im Baltikum, über „faschistische“ Regierungen und aggressives Verhalten der Nato in der Nähe der russischen Grenze zu eigen machen werden. Das wird Diskussionen und Abstimmungen in West- und Mitteleuropa in die Länge ziehen und die Verteidigungsfähigkeit der betroffenen Länder schwächen.

Es kommt nun nicht einmal darauf an, wie es um diese Bedingungen tatsächlich bestellt ist, es kommt darauf an, wie Russland, wenn es solche Ziele verfolgt, die Situation einschätzt. Wenn der innere Zirkel um Putin zu der Überzeugung kommt, dass der Rückhalt für eine Verteidigung Estlands, Litauens oder Lettlands in den westeuropäischen Ländern gering ist, wenn sie zu dem Urteil kommen, dass die Nato schwerfällig entscheidet, träge handelt und die Truppen schlecht koordiniert zum Einsatz bringt, dann können diese Leute sich ermutigt fühlen, auszutesten, wie weit sie gehen können.

Was wäre ein mögliches Szenario?

Zunächst wird es zu weiteren Luftraumverletzungen kommen, die von Russlands Unterstützern in Westeuropa kleingeredet und von Putins Medien geleugnet werden. Zugleich wird man versuchen, durch Provokationen und Zusammenstöße zwischen Gruppen der russischen Minderheiten und russlandfeindlichen Gruppen in den baltischen Ländern die Lage zu destabilisieren. Die Frage ist dann, wie lange die Nato zuschaut, zumal jede Antwort von Putin und seinen Freunden in Westeuropa als die eigentliche unangemessene Provokation und Einmischung dargestellt werden wird. So kann der russische Machthaber austesten, wie weit er gehen kann und wie schnell, wie konsequent und mit welchen innenpolitischen Konsequenzen der Westen reagieren kann.

Putin und die Chancen der Diplomatie

Was daraus entsteht, ist heute nur spekulativ zu beurteilen. Klar sollte aber sein, dass der Westen versuchen muss, es gar nicht so weit kommen zu lassen. Viele meinen, man müsse deshalb die diplomatischen Bemühungen verstärken. Aber wie soll Diplomatie wirken, wenn man einer Macht gegenüber steht, die es darauf absieht, ihren Machtbereich auszudehnen? Manche Menschen scheinen zu denken, Diplomatie würde irgendwie so funktionieren, dass man einem aggressiven Gegenspieler erklärt, es sei doch viel schöner, friedlich miteinander zu verkehren und von Ausdehnungen des Machtbereichs abzusehen. Diplomatie funktioniert aber nur, wenn man dem Gegner entweder entgegenkommt oder ihm klarmachen kann, dass seine Vorhaben für ihn selbst zu gefährlich sind. Entgegenkommen gibt es aber im Falle der russischen Pläne nicht.

Kein Land, das sich aus der Vorherrschaft Russlands in der Sowjetunion, dem Warschauer Vertrag oder dem „Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe“, kurz gesagt, aus dem russisch dominierten Ostblock befreit hat, will wieder unter irgendeine Kontrolle dieses Machtzentrums geraten, vielleicht mit Ausnahme der Führungen von Ungarn und der Slowakei. Das aber ist es, was Putin und seine Leute wollen. Da kann es keine Kompromisse und kein Entgegenkommen geben, die Putin davon abhalten. Deshalb muss die Voraussetzung von Diplomatie Klarheit, Bereitschaft zur Konsequenz und zur Verteidigung jedes Nato-Partners und Stärke sein.

Zur Person

Newsletter abonnieren

Sie wollen keine Kolumne mehr verpassen? Dann melden Sie sich zu unserem wöchentlichen Newsletter an und erhalten Sie jeden Freitag einen Überblick über die Kolumnen der Woche.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert