Die nicht genutzten „Atempausen“ und amerikanisch-russische Parallelen

Dass siegreiche Koalitionen nach der Bezwingung des gemeinsamen Gegners zerfallen, stellt in der neueren Geschichte eher die Regel dar. So verhielt es sich mit der antinapoleonischen Allianz nach der Bezwingung des französischen Kaisers, mit der antirussischen Koalition des Krimkrieges oder mit der Antihitler-Koalition. Die durch Donald Trump herbeigeführte Erosion der westlichen Allianz gerade in dem Moment, in dem ihr gemeinsamer Gegner – der neoimperiale russische Revisionismus – an Stärke gewinnt, stellt eher ein Novum dar. Kolumne von Leonid Luks.

Trump und der russische Staatspräsident Wladimir Putin beim G20-Gipfel in Osaka im Juni 2019 Bild von Wikipedia

Die Abkehr vom „kollektiven Westen“

Radikale Kritik an vielen westlichen Wertvorstellungen, am sogenannten „kollektiven Westen“, die die Kreml-Propagandisten seit Jahren betreiben, ist seit dem 20. Januar 2025 auch in Washington en vogue. Die Rede des amerikanischen Vizepräsidenten Vance auf der Münchner Sicherheitskonferenz vom Februar 2025, die die Anwesenden ähnlich schockierte, wie dies die Putinsche Rede am gleichen Ort 18 Jahre zuvor getan hatte, stellt ein anschauliches Beispiel dafür dar.

Während des skandalumwitterten Treffens zwischen Donald Trump und Wolodymyr Selenskyj im Weißen Haus am 28. Februar 2025 bezichtigte Trump den ukrainischen Präsidenten der Kriegstreiberei, was ebenfalls an die Putinsche Diktion erinnert.

Man sollte in diesem Zusammenhang in Erinnerung rufen, dass die Anlehnung an bestimmte russische Vorbilder auch für die erste Amtszeit Trumps charakteristisch war. So hielt z.B. Steve Bannon, der eine Zeitlang zu den engsten Mitarbeitern Trumps zählte, Lenin für sein Vorbild. Die von Lenin praktizierte Zerstörung der „bürgerlichen Institutionen“ in Russland wollte Bannon auch auf die USA übertragen:

„Bannon bezeichnet sich selbst als ´Leninisten´, dessen erklärtes Ziel die Zerstörung des existierenden Systems in Amerika ist“, schrieb die FAZ vom 24.2.2017.

Und der amerikanische Historiker Timothy Snyder hob in der SZ vom 7.2.2017 hervor:

Wir müssen akzeptieren, dass die Institutionen (Trump) nicht zähmen. Für ihn sind Institutionen und Gesetze Hindernisse, die ihm im Wege stehen und die er beseitigen will.

Diese Voraussage Snyders sollte sich bekanntlich in der Tat weitgehend erfüllen. Die SZ vom 12./13.9.2020 zog folgende Bilanz der ersten Amtszeit Trumps:

(Die vier Trump-Jahre) sind geprägt vom Regelbruch. Mit seinem Zerstörungstrieb hat Trump die USA, aber auch die Welt verändert…Die Anhänger sind begeistert, Trump hat sein Versprechen eingelöst und Washington verändert. Nichts ist mehr, wie es war. Der Präsident ist allmächtig. Der Einfluss der alten Eliten – gebrochen. Seine republikanische Partei – marginalisiert…Bündnisse, Verträge, das Wertesystem der USA – puff…Wie lange hält das eine Demokratie aus?

Der Ansturm auf die Grundfesten des amerikanischen Systems

Schon damals waren sich einige Analytiker darüber im Klaren, dass Trump sich mit einer eventuellen Wahlniederlage bei den Präsidentschaftswahlen, die am 3. November 2020 stattfinden sollten, nicht abfinden werde. Dazu meinte der bereits erwähnte Timothy Snyder am 26. Oktober 2020 ebenfalls in der SZ:

Seit Mai weiß Trump, dass er die Wahl nicht gewinnen wird. Aber er hat nicht das Verständnis, dass man Wahlen gewinnen muss, um an der Macht zu bleiben. Für ihn ist das nur ein Weg. Normalerweise tritt jemand ab, wenn er seine Wahl verliert. Aber Trump ist kein typischer Politiker. Um demokratische Prozesse kümmert er sich nicht.

Auch diesmal sollte sich die Voraussage Snyders erfüllen. Auf die Wahlniederlage vom 3. November 2020 antwortete Trump bekanntlich mit der Erschaffung der Legende von einer „gestohlenen Wahl“ und seine Anhänger mit der Erstürmung des Kapitols am 6. Januar 2021. Diesen Ansturm auf die Grundfesten des amerikanischen Systems konnte die amerikanische Demokratie damals bekanntlich überstehen.

In seiner Antrittsrede vom 20. Januar 2021 hob Joe Biden hervor:

Wir feiern heute …den Triumph der Demokratie. Das Volk, der Wille des Volkes. wurde gehört, und dem Willen des Volkes wurde entsprochen. Erneut haben wir gelernt, dass Demokratie etwas Kostbares ist. Demokratie ist zerbrechlich. Und in dieser Stunde … hat sich die Demokratie durchgesetzt.

Die Worte des Amerika-Korrespondenten der SZ, Christian Zaschke, klangen indes weniger zuversichtlich. In der SZ vom 9./10. Januar 2021 schrieb er:

Viele Kommentatoren weisen darauf hin, dass die Institutionen doch gehalten haben. Das ist wahr, wenn sie auch nur unter Ächzen und Stöhnen so gerade eben noch gehalten haben. Ob das bei einem ähnlichen Angriff, wie ihn die Amtszeit von Donald Trump bedeutete, nochmals gelingt, ist alles andere als sicher… Wenn (Donald Trump) in wenigen Tagen aus dem Weißen Haus geleitet wird, hinterlässt er als Erbe ein Land, dessen Seele vergiftet ist.

Die nicht genutzten „Atempausen“

Und in der Tat, die vierjährige Amtszeit Joe Bidens stellte lediglich eine Atempause für die amerikanische Demokratie dar. Seit dem Beginn der zweiten Amtszeit Trumps am 20. Januar 2025 wird das amerikanische System von Checks and Balances erneut einem für das Land beinahe beispiellosen Stresstest unterzogen, und sein Ausgang ist völlig offen.

Warum nutzten die amerikanischen Verfechter der „offenen Gesellschaft“ die vierjährige Atempause, die sie nach dem Wahlsieg Bidens erhalten hatten, nicht dazu aus, um das bestehende System vor vergleichbaren Herausforderungen, mit denen es in der ersten Amtszeit Trumps konfrontiert worden war, ausreichend zu schützen? Warum wiederholten sie die Fehler der „ersten“ russischen und der „ersten“ deutschen Demokratie, die im Februar 1917 bzw. im November 1918 entstanden waren? Auch die russischen und die deutschen Demokraten waren nämlich zunächst im Stande, den jeweiligen ersten Ansturm ihrer radikalen Gegner erfolgreich abzuwehren. In Russland handelte es sich um den gescheiterten Staatsstreichversuch der Bolschewiki vom Juli 1917 und in der Weimarer Republik um den Putschversuch der NSADAP am 9. November 1923. Dennoch brachen die beiden Demokratien letztlich zusammen. Sie nutzten die Atempausen, die sie im Juli 1917 bzw. im Herbst 1923 erkämpft hatten, nicht aus. Insofern kann man hier eine Parallele zu der ungenutzten Atempause durch die amerikanischen Verfechter der „offenen Gesellschaft“ in der Biden-Zeit ziehen. Diese Parallele erstaunt, denn bei der amerikanischen Demokratie handelt es sich, im Gegensatz zu den brüchigen „ersten“ Demokratien in Russland und in Deutschland, um ein konsolidiertes und in der Mentalität der Bevölkerung tief verankertes System. Dennoch zeigt das Beispiel der USA in der Trump-Ära, dass auch konsolidierte Demokratien nicht über ausreichende immunologische Barrieren verfügen, um ihre Verächter in die Schranken zu weisen. Dies ungeachtet der Tatsache, dass die heutige Krise der amerikanischen Demokratie sich unter ganz anderen Bedingungen vollzieht, als dies in Russland im Jahre 1917 oder in der Weimarer Republik der Fall war. In Russland war es der Erste Weltkrieg, der zur Erosion der soeben entstandenen Demokratie beitrug, die Demontage der Weimarer Republik wurde ihrerseits durch die 1929 begonnene Weltwirtschaftskrise beschleunigt. In den USA sind vergleichbare Erschütterungen zurzeit nicht in Sicht. Dessen ungeachtet stehen die Verteidiger der „offenen Gesellschaft“ auch dort mit dem Rücken zu Wand.

Die Dämmerung der Imperien

Dies nicht zuletzt deshalb, weil das Amerika-Bild der amerikanischen Verfechter der „offenen Gesellschaft“ zurzeit nicht dem amerikanischen Mainstream entspricht. Die amerikanischen Gegner Trumps sehnen sich nach einer Zeit, in der die USA – das letzte noch verbliebene Imperium – sich mit den nach Freiheit strebenden Kräften auf der ganzen Welt solidarisierten und die Verächter der Freiheit in ihre Schranken wiesen. Die Wähler Trumps sind indes dieser imperialen Bürde überdrüssig geworden. Zwar lautet die Devise Trumps „Make America Great Again“, sein isolationistischer Kurs wird aber wahrscheinlich genau das Gegenteil von dem bewirken, was Trump verspricht.   Winston Churchill sagte einmal: „The price of greatness is responsibility“.

Der Verzicht Trumps auf die globale Verantwortung, zu der sich die USA in den letzten 80 Jahren bekannten, wird sicherlich nicht zu Amerikas Größe beitragen. Und erneut fühlt man sich in gewisser Hinsicht an Russland erinnert, und zwar an die Dämmerungsphase des Sowjetreiches während der Gorbatschowschen Perestroika. Damals versuchte Gorbatschow „mehr Demokratie zu wagen“ und verkündete im Jahre 1987 „Wir brauchen die Demokratie wie die Luft zum Atmen“. Damit läutete er praktisch das Ende des Sowjetsystems ein. Denn das demokratische Prinzip war mit den paternalistischen Strukturen des sowjetischen Regimes nicht kompatibel. Dies sagte übrigens Karl Kautsky bereits im Jahre 1919 voraus. Er schrieb:

Die Bolschewiki sind bereit um sich (an der Macht) zu halten, alle möglichen Konzessionen der Bürokratie, dem Militarismus, dem Kapitalismus zu machen. Aber eine Konzession an die Demokratie erscheint ihnen als Selbstmord.

Und in der Tat, eine Konzession an die Demokratie, die Gorbatschow zu machen bereit war, konnte das sowjetische System nicht überleben.

Das amerikanische System erlebt nun unter Trump ebenfalls eine Erosion, aber aus entgegengesetzten Gründen. So wie zum Wesen des sowjetischen Systems der bürokratische Paternalismus gehörte, der die Eigeninitiative der einzelnen Bürger lähmte und die Gewaltenteilung aufhob, gehören die Eigeninitiative der Staatsbürger und die funktionierende Gewaltenteilung zu den wichtigsten Grundlagen des politischen Systems der USA.  Der Versuch Trumps, die demokratischen Kontrollmechanismen im Lande zu zerschlagen, könnte in den USA ähnliche Turbulenzen hervorrufen, wie sie in der Sowjetunion auftraten, als Gorbatschow versuchte, die verkrusteten Herrschaftsmechanismen aufzulockern.  So sind die Ursachen für die Erosion der beiden Systeme jeweils entgegengesetzter Natur, aber die Folgen können ähnlich aussehen.

Leonid Luks

Der Prof. em. für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt wurde 1947 in Sverdlovsk (heute Ekaterinburg) geboren. Er studierte in Jerusalem und München. Von 1989 bis 1995 war er stellvertretender Leiter der Osteuropa-Redaktion der Deutschen Welle und zugleich Privatdozent und apl. Professor an der Universität Köln. Bis 2012 war er Inhaber des Lehrstuhls für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte an der KU Eichstätt-Ingolstadt. Er ist Geschäftsführender Herausgeber der Zeitschrift Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte.

More Posts

Schreibe einen Kommentar

Hinweis: Gesetzes- und Rechtsprechungszitate werden automatisch <a href="http://dejure.org/vernetzung.html" target="_blank">über dejure.org verlinkt</a>

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert