Fluide Geschlechterrollen und Identitäts-Gaga

Früher gab’s 2 Geschlechter zzgl. ein paar Sonderfälle und man kam damit auch durchs Leben. Verwundert über mittlerweile 60 Identitäten zeigt sich Jammer-Boomer Henning Hirsch in seiner neuen Kolumne.

Bild von Alexa auf Pixabay

Wir brauchen nen neuen Text von dir, schickt mir der Chefredakteur ne WhatsApp.
Was für nen neuen Text, ich hab erst vorgestern nen Text eingereicht, schreibe ich zurück.
Der war langweilig.
WAS: LANGWEILIG?
Ja, langweilig.
Okay, dann war der eben langweilig. Wurde auch nur auf Seite 17 abgedruckt.
Was ist nun mit deinem neuen Text?
Bis wann braucht ihr den?
Heute Abend.
HEUTE ABEND?
Ja!!
Dieses Mal auf Seite 1 platziert?
Wie immer: Seite 17. Seite 1 ist für die seriösen Sachen.
Die Sachen, die Heinrich schreibt?
Zum Beispiel die Sachen, die Heinrich schreibt.
Und ich muss immer auf die 17?
Was hast du gegen die 17? Ist ne Zahl wie jede andere auch.
Die 1 ist besser.
Du kommst NICHT auf die 1! Verstanden?
Okay, ich hab’s verstanden.
Dann setz dich jetzt hin und fang an zu schreiben. Bei deinem lahmen Tempo wird das sonst nichts mehr mit heute Abend. Und bitte nicht so langweilig wie beim letzten Mal. Bring ruhig mehr Titten und Schwänze rein. Davon hast du doch Ahnung. Aber immer dran denken: unsere Abonnenten*innen wollen NICHTS OBSZÖNES lesen.
Ich überleg mir was.

Fluide Schwänze & Titten

Ich lieg derweil im Fittie auf der Hantelbank, starre auf ein paar wohlgeformte Ärsche (m/w/d) und überlege, wie ich den Anfang dieser gottverdammten Kolumne, in die ich nicht-obszöne Titten und Schwänze einbauen soll, formuliere. Da stolpere ich zufällig in meinem Tablet, das ich immer ins Fittie mitschleppe, über einen Warum-die-80er-gerade-so-im-Trend-sind-Text, in dem ich folgenden Satz entdecke: „Junge Leute sind nun und damals in fluiden Geschlechterzuschreibungen unterwegs“, und ich denke: danke, du wunderbarer Warum-die-80er-gerade-so-im-Trend-sind-Text, denn jetzt weiß ich, woran ich die Sache – die mal wieder auf Seite 17 abgedruckt werden wird – aufziehe: fluide Geschlechterzuschreibungen – eine sprachlich herausragende Begrifflichkeit. Der Quecksilber-T-1000 aus Terminator 2 poppt vor meinem geistigen Auge auf und wird dort abgelöst von einer Flaschengeistin, die mir jeden sexuellen Wunsch erfüllt, bevor sie sich in einen Flaschengeist verwandelt, der nun meiner 85-jährigen Nachbarin deren sexuelle Wünsche von den welken Lippen abliest. Fluid, alles fließt, löst sich auf, setzt sich wieder neu zusammen. Aus Schwänzen werden Titten, aus den Titten formen sich Schwänze, die wiederum zu wohlproportionierten Ärschen (m/w/d) im Fittie mutieren. Herrlich! Gut gelaunt wuchte ich noch ein paar Hanteln in die Höhe und gehe dann nach Hause, um mich an die neue Kolumne zu setzen.

Gute alte Zeit mit 2 Identitäten zzgl. ein paar Sonderfälle

Als ich das grelle Licht im Kreißsaal einer Bonner Geburtsklinik erblickte – das war 1962, dem Jahr, in dem Christa Speck Playmate of the Year des Playboys wurde –, gab’s exakt 2 Geschlechter: Frauen und Männer. Okay, Zwitter gab’s auch, aber das waren echt wenige, und kaum jemand kannte einen von denen persönlich. Mein Vater nannte die Hermaphroditen. Keine Ahnung, weshalb er das tat. Wahrscheinlich, weil es sich intellektueller als Zwitter anhört. Aber persönlich kannte der auch keinen Hermaphroditen. Falls doch, dann hat er uns zu Hause nichts davon erzählt. Ich wuchs also in den 60er- und 70er-Jahren wohlbehütet in einer 2-Geschlechter-Umgebung – mit gelegentlicher Erwähnung von Zwittern, die jedoch keiner persönlich kannte – auf. Alles klar strukturiert: Jungs spielten Fußball und wollten Astronaut werden, die Mädchen spielten mit Puppen (Anfang der 70er hießen die Barbie und Ken) und träumten davon, Karriere in Hollywood, oder zumindest bei der Bavaria-Film zu machen. Kann man als Angehöriger der Generation Z (oder X oder Y) Scheiße finden, uns hat’s damals aber trotzdem gefallen. Keiner von uns wurde übrigens Astronaut oder Hollywoodstarlet, sondern wir arbeiten in stinklangweiligen Berufen wie Marktforscher, Insolvenzanwalt, Personalberater, Zahnärztin und PR-Expertin oder gar als Kolumnist*in; aber auch das ist okay.

High Heels und Transen

Anfang der 80-er lernte ich in einer Disco meine erste Transe kennen. Also ne Transe, die operativ schon was hatte an sich machen lassen. Es gab ja noch die Transen, die bloß Frauenkleider trugen, aber wenn sie die auszogen, klar und deutlich als Männer erkennbar blieben. Wir bezeichneten beide Varianten als Transen, was heutzutage politisch höchst unkorrekt ist, aber damals keinen interessierte. Die zweitgenannte Variante, also diejenigen, die abends gerne Frauenkleider trugen, fand man entweder in Varieté-Shows (da waren sie aus der Sicht des Bürgertums okay) oder etwas abseits gelegen am Rande des Straßenstrichs, wo sie Familienvätern die Schwänze lutschten (was aus der Sicht des Bürgertums eher nicht okay, aber halt auch nicht verboten war. So’n sexueller Grauzonenbereich). Manche verkleideten sich auch an Karneval als Frauen; waren aber in der Regel froh, wenn Karneval wieder vorbei war und sie die unbequemen Frauenkleider in die Truhe mit den anderen Kostümen zurücklegen konnten. Wer jemals als Mann versucht hat, auf High Heels zu balancieren (ich hab das mal Ende der 70-er für EINEN Faschingsabend ausprobiert), weiß, wovon ich rede. Aber hier soll’s jetzt nicht um Männer in Frauenklamotten, sondern um diejenigen gehen, die wirklich ihr Geschlecht wechseln wollen. Und so einen habe ich Anfang der 80-er in einer Kölner Disco kennengelernt.

Als sich unsere Wege gegen 2 Uhr nachts kreuzten, war ich nicht mehr ganz nüchtern. Es war die hohe Zeit der klebrig-bunten Cocktails, und es war die Zeit vor AIDS, als man noch, ohne vorher viel drüber nachzudenken, spontan miteinander in die Kiste stieg, ohne am Morgen danach panisch zum Urologen zu rennen, um sich dort auf HIV durchchecken zu lassen. Die am häufigsten verbreiteten Geschlechtskrankheiten waren Tripper und Sackflöhe. Beides ärgerlich, wenn es einen erwischte, aber nicht lebensbedrohlich. Er bzw. sie – wir nennen ihn im Folgenden: Deborah – saß plötzlich an der Bar auf dem Hocker neben mir (vor mir mein 5ter klebriger Cocktail) und lächelte mich an. Leicht benebelt von Mai Tai und Batida Kirsch erschien mir Deborah an diesem Abend als die schönste Frau, der ich jemals begegnet war. Sie zog mich auf die Tanzfläche, wir schwoften ein bisschen zu Just an illusion und Nur geträumt, es wurde eng und enger, ich spürte ihre circa 3 Meter lange Zunge tief in meinem Gaumen und in meinen Ohren. Wir landeten dann wieder an der Theke, wo sie mir den Unterleib massierte, während ich meine Nase tief in ihr Dekolleté fallen ließ, denn nach dem siebten Mai Tai war ich doch stark anlehnungsbedürftig.

Nach 7 Mai Tai in ner fremden Kiste

Eine Stunde später fand ich mich in einer Wohnung im 12ten Stock einer Kölner Hochhaussiedlung wieder, lag nackt neben Deborah und stellte erstaunt fest, dass sie neben ihren prachtvollen Titten auch einen enormen Schwanz besaß. Ein paar Sekunden ergriff Fluchtinstinkt von mir Besitz, der jedoch kurz danach von Neugier abgelöst wurde. Ich dachte pragmatisch: nun bist du schon mal hier gestrandet, dann mach jetzt auch das Beste aus der Situation. Ohne hier ins Detail gehen zu wollen (das würde mir die Redaktion eh wieder aus dem Text rausstreichen) – es war Sex der etwas anderen Art. Zumindest damals für mich, der ich bisher bloß XX-mit-XY-GV kannte. Nach 7 bunten Cocktails war mit mir in dieser Nacht ohnehin nicht mehr allzu viel los, mehr als 1 Nummer schaffte ich nicht. Am nächsten (späten) Morgen hatte Deborah ein Frühstück vorbereitet, nannte mich ihr kleines Schätzchen und sagte, dass wir 2 ein Traumpaar abgeben. Ich sagte erst mal nichts und trank stumm meinen Kaffee. Wir ließen uns dann gemeinsam ein paar Wochen durchs Kölner Partyleben treiben, lagen nachts in ihrem Bett (ich wohnte noch bei meinen Eltern) und rubbelten und lutschten uns gegenseitig die Schwänze und poppten uns ab und an in unsere – Anfang der 80er noch sehr wohlproportionierten – Ärsche. Deborah war echt schwer verliebt, während ich – Kind konservativer Eltern und Gefangener bürgerlicher Erziehung – meine Gefühle stark runterdimmte. Es durfte nicht sein, was nicht sein konnte (oder umgekehrt). Allein der Gedanke, Deborah irgendwann meiner Familie vorzustellen, ließ mir den Angstschweiß auf die Stirn treten. Nach etwas mehr als 1 Monat beendete ich deshalb die Sache. Deborah weinte und warf mir Worte wie Schuft und Lügner an den Kopf („du Hurensohn“ war damals noch nicht erfunden), ich spürte leichte Gewissensbisse, war aber unterm Strich froh, mit nem halbwegs schlanken Schuh aus der Nummer rausgekommen zu sein, denn eine gemeinsame Zukunft mit einer Transe lag im Hochsommer 1982 weit jenseits meiner Vorstellungskraft, ungefähr so weit entfernt wie der am äußeren Rand der Star-Wars-Galaxis gelegene Planet Tatooine von Köln-Ehrenfeld (der Stadtteil, in dem ich aufgewachsen bin). Heute würde ich das vielleicht anders sehen; aber heute treibe ich mich nicht mehr in Kölner Diskotheken rum und lerne folglich keine Transen mehr kennen.

Heute ist alles beliebig, inkl. der geschlechtlichen Identität

Warum ich das erzähle?
Zum einen habe ich damit die Vorgabe der Chefredaktion, Titten & Schwänze im Text unterzubringen, erfüllt. Zum anderen steckte hinter dem, was Deborah mit sich hat machen lassen (Hormonbehandlung, operative Eingriffe, dutzende Beratungsgespräche mit Ärzten, Psychologen und Behördenmitarbeitern) der UNBEDINGTE Wunsch, von einem zum anderen Geschlecht zu wechseln. Was für ein eiserner Wille ist notwendig, um das alles durchzustehen. Dafür hatte Deborah schon damals meine vollste Hochachtung. Ich selber fühlte mich in meinem männlichen – seit ich die 50 überschritten habe, leider galoppierend dahinwelkenden – Body zwar immer ganz gut aufgehoben, kann jedoch nachvollziehen, dass es für einige eine Qual bedeutet, im falschen Körper geboren zu sein und sie deshalb große Anstrengungen unternehmen und sogar bereit sind, Schmerzen zu erdulden, um nach einigen Jahren endlich zur Frau (oder zum Mann) zu werden. Diesen Menschen bezeuge ich allergrößten Respekt.

Wenig Respekt habe ich hingegen vor der neuzeitlichen Variante der Identitätszuschreibung: dem Fluiden. 60 (SECHZIG!!) Möglichkeiten listet Facebook mittlerweile auf, wenn man beim Geschlecht auf den Knopf „benutzerdefiniert“ drückt. Von A wie androgyn über genderqueer und intergeschlechtlich bis hin zu transfeminin und XY-Frau reicht die Identitäten-Palette. Ganz besonders gut gefällt mir der sogenannte nicht-binäre Zustand:

Dieser Begriff umfasst eine Sammelbezeichnung für Geschlechtsidentitäten aus dem Transgender-Spektrum, die sich nicht ausschließlich als männlich oder weiblich identifizieren und sich als außerhalb der zweigeteilten, binären Geschlechterordnung verstehen.
© Wikipdia zum Schlagwort nicht-binär

Na, wenn das nicht super ist. Heute fühle ich mich als Mann, morgen bin ich eine Frau, übermorgen verkleide ich mich als Transe und am Wochenende mutiere ich zum hermaphroditen Alien, der sich selbst befruchtet. Als Angehöriger der Minderheit der Nicht-binären kann ich mein Geschlecht häufiger wechseln als der Hirsch seine Unterhosen. Und für jeden Aggregats- (pardon: Identitäts-) Zustand benötigen wir separate Toiletten und separate Erwähnungen in behördlichen Schreiben. Und Witze dürfen die Nicht-nicht-binären darüber selbstverständlich auch keine reißen. Die würden die sensiblen Fluid-Seelen nur unnötig verletzen. Denn verletzlich bis hin zu 24/7 verletzt sind wir heute alle sowieso. Zumindest der Teil von uns, der auf Achtsamkeit und Anstand hält. Als Jammer-Boomer gehöre ich da natürlich nicht zu, kann aber dafür das schreiben, was Sie zwar manchmal insgeheim denken, sich jedoch nicht zu sagen trauen. Und keine Sorge: ich proklamiere keine Sonderrechte für meine Gruppe und Witze darf man über Jammer-Boomer jederzeit gerne machen.

Wer unsicher ist, welchem Geschlecht er seelisch angehört (körperlich steht es ja in 99.99% der Fälle seit Geburt fest), der möge die Mühe auf sich nehmen und sich psychologische Unterstützung suchen. Je nachdem, wie groß der Wunsch nach Veränderung tatsächlich ist, müssen dann im Nachgang therapeutische und medizinische Schritte erfolgen. Ist ein langwieriger Vorgang; dauert ein paar Jahre, bis man vom Mann zur Frau (oder umgekehrt) mutiert. Das ganze Procedere erfordert VIEL Kraft. Aber nur so kann man das ernsthaft machen und verlangen, von anderen ernstgenommen zu werden.

Der ganze Rest mit den aktuell 60 fluiden Identitäten ist hingegen der modernen Beliebigkeit geschuldeter Zeitgeist-Unfug aka virtuelles Facebook-Gaga, dem man als Hetero-Boomer nur mit stillem Kopfschütteln begegnen kann. Oder, wenn Sie keine Angst vor Shitstorms haben – schreiben Sie was drüber. Dann wird aber „du bist halt ein Boomer“ noch das Freundlichste sein, was Ihnen die Facebook-Zeitgeist-Avantgarde erwidern wird.

PS. Ich hatte mal ein Date mit einer Sapiosexuellen, die nach einer vierstündigen Unterhaltung, die einem mittelschweren IQ-Test glich, meinte, ich sei leider nicht ihr Typ, weil nicht schlau genug. Ich trug’s mit Fassung, weil selbst, wenn ich schlau genug für sie gewesen wäre, hätt’s trotzdem keinen Sex gegeben. Sie wollte es partout ausschließlich platonisch. Aber das ist eine neue Geschichte.

Henning Hirsch

Betriebswirt und Politologe, Comicleser, Filmjunkie, Bukowski- und FC- (es gibt nur einen FC: nämlich den aus Köln) Fan, trockener Alkoholiker. In die Abstinenz startete er mit einem Roman: Saufdruck. Seitdem tippt er abends Kurzgeschichten und Gedichte. Da die Schreiberei alleine nicht satt macht, verdient er tagsüber seine Kaltmiete und die Kühlschrankfüllung mit Marketing & Orga. Henning Hirsch lebt im Bonner Süden und ist Vater von drei Kindern ... Wer mehr von ihm lesen möchte: www.saufdruck.de

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