Vorrunde ist das neue Halbfinale

Zu mehr als zur Vorrunde reicht es mittlerweile nicht mehr bei großen Turnieren. Das ist einerseits bedauerlich, andererseits aber bloß das logische Resultat einer seit Jahren schieflaufenden Entwicklung im deutschen Fußball. 08/15-Fan-Kolumne zu einer Gurken-WM von Henning Hirsch.

Bild von OpenClipart-Vectors auf Pixabay

Man kann es drehen und wenden, wie man will und versuchen, die Sache schön zu reden: viel Ballbesitz, oft im gegnerischen Strafraum, teils atemberaubende Dribblings, häufig aufs Tor geschossen, interessante Mischung aus Routiniers und jungen Wilden etc. etc. – ändert aber alles nichts an der ernüchternden Tatsache, dass es zu mehr als dem dritten Platz in Gruppe E nicht gereicht hat. Und es hat v.a. zum dritten Mal hintereinander zu nicht mehr als 2x Vorrunde und 1x Achtelfinale gelangt. Das ist für eine große Fußballnation, als die wir uns ja nach wie vor begreifen, schon blamabel.

Nicht, dass ich mich über die Titelchancen unserer Mannschaft vorab großen Illusionen hingegeben hätte. Für mich heißen die Favoriten Frankreich, Brasilien, Argentinien, Niederlande. Aber aufs Erreichen des Viertelfinales hatte ich schon spekuliert. Wie lauten die Gründe, weshalb wir Deutsche mittlerweile aus jedem Turnier, das größer ist als der Rheinland-Pfalz-Cup, so früh rausfliegen? Versuch einer Analyse aus dem Blickwinkel eines 08/15-Fans.

Das Personal

Da waren dieses Mal solche und solche dabei. Topspieler wie Rüdiger, Gündogan, Havertz vermischt mit einigen No Names (Füllkrug, Raum, Klostermann) und ner Menge Mittelmaß. Kann funktionieren, wenn das Mischungsverhältnis richtig angerührt wird; hat aber im deutschen Fall ganz augenscheinlich nicht funktioniert. Ich frag mich, wenn ich Schlotterbeck und Süle über den Ball stolpern sehe, weshalb Hummels nicht mitgenommen wurde. Bei den ergebnislosen Slaloms von Musiala geht mir durch den Kopf, warum Füllkrug nicht mehr Einsatzzeit erhält. Aus welchem Grund sitzt der torgefährliche Havertz auf der Bank? Wo ist überhaupt ein Führungsspieler, der die Sache bei engen Matches in die Hand nimmt und seine Kollegen zu mehr Leistung anspornt? Aber ich denk mir dann schulterzuckend, dass der Bundestrainer und sein Stab sich 24/7 mit so was beschäftigen und deshalb mehr Ahnung davon haben als ich der 08/15-Fan. Wobei ich mir manchmal ebenfalls denke, dass der Trainer und sein Stab auch nur Menschen sind, die halt hin und wieder irren u/o aus irgendeiner Strategiedogmatik heraus merkwürdige Entscheidungen treffen. In die Kategorie „verstehe ich nicht“ fällt bspw. die Nibelungentreue zum Bayernblock, bei dem einige Akteure ihren Zenit mittlerweile erkennbar überschritten haben, weshalb Leistung nicht das Kriterium gewesen sein kann, sie immer wieder aufzustellen. Während einige der No Names durchaus positiv überraschten, aber trotzdem nur wenig Einsatzzeit erhielten.

Die Einstellung

Deutschland war mal DIE Turniermannschaft. Linekers Bonmot, „und am Ende gewinnen immer die Deutschen“, stimmte zwar nie zu hundert Prozent, aber zu achtzig war es schon zutreffend. Davon ist das aktuelle Team allerdings Lichtjahre entfernt. Mittlerweile gilt ja eher die Beobachtung: Die Deutschen spielen streckenweise ganz hübsch anzuschauen, sobald es eng wird, geraten sie aber sofort ins Strudeln und zu mehr als maximal nem Achtelfinale reicht es nicht. Da ne Menge Topspieler im Team sind, kann es an der Qualität der einzelnen nicht liegen; scheint also eher eine Mentalitätssache zu sein. Geht so ein bisschen in die Richtung: Wir wollen zwar einen guten Job machen, uns dafür jedoch nicht quälen. Wenn’s läuft, dann läuft es und wenn es nicht läuft, läuft es eben nicht. Kein Grund Trübsal zu blasen, denn wir sind alle talentiert, in der Mannschaft herrscht beim Training eine Superstimmung und wenn es bei diesem Turnier nicht klappt, klappt es halt in 2 oder 4 Jahren. Try and error. Davon geht die Fußballwelt nicht unter. Hauptsache, wir waren überhaupt dabei und hatten Spaß. Gewinnen ist nicht alles. Und als Boomer erwischt man sich dabei, wie man sich insgeheim Typen wie Matthäus, Effenberg, Sammer und Kahn zurückwünscht, die bei der von Deutschland zelebrierten Variante des Schönwetterfußballs in jedem Match Minimum 10 veritable Wutanfälle bekommen hätten. Auch mich, den 08/15-Fan, hätte das ziellose Für-die-Galerie-Gekicke früher wütend gemacht. Heute zucke ich nur noch mit den Schultern und besorge mir in der Küche eine starke Tasse Kaffee, um in der zweiten Halbzeit nicht einzuschlafen. Mein Puls lag, selbst als Costa Rica zwischenzeitlich führte, unterhalb von 80. In der Spitze, kurz vor Ende vergeblich auf das späte Ausgleichstor der Spanier hoffend, maximal bei 90. Und als es vorbei war, dachte ich wie die Spieler: blöd gelaufen, aber da konnte man eben heute nichts machen. Fatalismus statt Fan-atismus.

Das hypermoralische Habitat

Deutschland, zumindest große Teile davon, hat diese WM nicht gemocht, über Monate hinweg schlecht geredet und die Mannschaft mit Sachen überfrachtet, die mit Fußball nichts zu tun haben. Wenn wir uns vor dem ersten Spiel ernsthaft länger mit der Frage beschäftigen, welche Armbinde der Kapitän tragen soll als mit der Aufstellung und ständig Forderungen nach Nicht-Teilnahme bzw. Rückzug ertönen, dürfen wir uns nicht wundern, wenn genau das nun eingetreten ist = der Rückzug. Allerdings nicht ganz freiwillig, sondern aufgrund mangelhafter Leistung in der Vorrunde. Ich habe bis heute nicht verstanden, weshalb es uns nicht gelingt, die Veranstaltung vom Ausrichter zu trennen. Niemand im deutschen Team ist verantwortlich dafür, dass in Katar andere Regeln herrschen als bei uns, und niemand aus der Mannschaft hat sich dafür stark gemacht, das Turnier am Ostrand der großen Arabischen Wüste stattfinden zu lassen. Warum ist es nicht möglich, die Fußballer einfach ihren Job machen zu lassen? Ist das so ein deutsches Ding, anderen ungebeten unsere (angebliche) kulturelle Überlegenheit demonstrieren zu müssen? Falls ja: weder das eine (gesellschaftlicher Umschwung in Arabien) noch das andere (Erfolg bei der WM) hat funktioniert. Aber Hauptsache, unsere Offiziellen streifen ne Regenbogenbinde über, wenn sie in Doha auf der Tribüne sitzen. Wem sie damit konkret helfen? Niemand. Aber aufs konkrete Helfen kommt es bei der deutschen Zeichensetzerei ja auch gar nicht an. Zeichen werden gesetzt, weil Zeichen eben gesetzt werden müssen. Vor allem in Katar.

Mehr Amateurfußball schauen ist auch keine Lösung

Bei mir hinterlässt das Ganze einen schalen Geschmack: zum dritten Mal hintereinander in einem Turnier früh gescheitert. Eine WM in der Wüste, wo sie definitiv nicht hingehört und zu Hause ein Volk voller Heuchler, die kein Problem mit katarischem Öl & Gas und Geld (v.a. wenn es bei uns investiert wird) haben, aber laut aufheulen, sobald da Fußball gespielt wird. Und ein DFB, der es allen Seiten recht machen will und damit eine krachende Bruchlandung erlebt. Wäre ich nicht Fan seit Geburt (allerdings mehr des Effzeh als der Nationalmannschaft), würde ich mich jetzt so langsam abwenden vom deprimierenden Profigeschehen u mir in Zukunft bloß noch ehrliche Kreis- und Bezirksligapartien ansehen. Wo’s nicht um Kohle, sondern nur um den Sport geht. Wo die Trikots am Ende vor Dreck starren, wo man als Zuschauer die meisten der Spieler persönlich kennt. Wo man auf der Tribüne – falls es überhaupt eine gibt – noch ne Bratwurst für 3 Euro verzehrt u am Ende 10€ für die Vereinskasse spendet. Aber in meinem fortgeschrittenen Alter werde ich den Schwenk weg vom Profi- hin zum Amateurfußball wahrscheinlich nicht mehr hinbekommen. Leider.

Ob ich glaube, dass wir in eineinhalb Jahren bei der (Heim-) EM was reißen werden? Nein, glaube ich nicht. Auch da wird im Achtelfinale Schluss sein. Denn im deutschen Fußball herrscht ein strukturelles Problem, das sich nicht lösen lässt, wenn man nicht willens ist, auf der Trainerbank und im Management neue Köpfe zu installieren und alles wieder auszusitzen versucht, wie schon vergeblich nach 2016 und 2018 geschehen. Ob ich mir nach dem Ausscheiden der deutschen Mannschaft noch weitere Partien anschauen werde? Klar werde ich das tun. Die WM wird ja jetzt mit Beginn der K.o.-Phase erst richtig interessant. Und der Boykott, was ist mit dem Boykott, fragen Sie mich? Ich hatte nie vor, dieses Turnier zu boykottieren, denn mir gelingt es, das Event fein säuberlich vom Ausrichter zu trennen. Und ich habe noch nicht mal Gewissenbisse bei diesem Spagat.

Fazit: (aus deutscher Perspektive) eine Gurken-WM.

Henning Hirsch

Betriebswirt und Politologe, Comicleser, Filmjunkie, Bukowski- und FC- (es gibt nur einen FC: nämlich den aus Köln) Fan, trockener Alkoholiker. In die Abstinenz startete er mit einem Roman: Saufdruck. Seitdem tippt er abends Kurzgeschichten und Gedichte. Da die Schreiberei alleine nicht satt macht, verdient er tagsüber seine Kaltmiete und die Kühlschrankfüllung mit Marketing & Orga. Henning Hirsch lebt im Bonner Süden und ist Vater von drei Kindern ... Wer mehr von ihm lesen möchte: www.saufdruck.de

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