Mal wieder ein Boykott

In 7 Tagen ist es so weit: Die WM in Katar beginnt. Darf ich die als Fußballfan überhaupt schauen, oder muss ich wegen der prekären Menschenrechtslage am Golf die Glotze schwarz lassen, fragt sich Kolumnist Henning Hirsch.

Bild von Sabine Kroschel auf Pixabay

„WAS trinkst du da?“, fragt meine Freundin.
„Orangensaft“, sage ich, „Warum?“
„Hast du auf das Etikett geschaut, wo der herkommt?“
„Nein.“
„Aus SÜDAFRIKA!“
„Stimmt, da steht Südafrika auf dem Etikett“, sage ich.
„Produkte aus Südafrika kauft man NICHT!“
„Weshalb das denn?“
„Weil da Apartheid herrscht. Anständige Menschen boykottieren dieses System.“
„Indem wir keinen Orangensaft mehr trinken?“
„KEINEN Orangensaft aus SÜDAFRIKA. Hast du das jetzt verstanden?“
„Ja, habe ich verstanden.“
© Dialog, der Mitte der 80-er Jahre in der Küche einer Münchner Studenten-WG stattfand (= mein erster Kontakt mit einem Boykottaufruf)
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Bevor wir nun gleich etwas tiefer in die wundersame Welt des Boykotts eintauchen, wollen wir kurz die Herkunft dieses Wortes beleuchten. Es stammt nicht aus dem lateinischen, griechischen oder mesopotamischen Sprachraum, sondern ein Engländer des 19. Jahrhunderts fungierte als Namensgeber:

Das Wort Boykott geht auf Charles Cunningham Boycott zurück, einen in Irland lebenden englischen Grundstücksverwalter. Während des Land Wars nach 1870 rief der irische Nationalistenführer Charles Stewart Parnell seine Landsleute zum gewaltlosen Widerstand auf. Infolge der 1880 von Parnell und der Irischen Landliga organisierten Aktion fand Boycott keine Pächter mehr, er wurde „boykottiert“. Dieser erste erfolgreiche Boykott gab allen anderen den Namen.
© Wikipedia, Stichwort „Boykott“

Prall gefüllte Briefumschläge und klimatisierte Stadien

Nachdem wir das geklärt haben, springen wir 150 Jahre in die Jetztzeit und landen im heißen Wüstensand des kleinen Emirats Katar. Dieses Zwergland erhielt im Jahr 2010 auf einem FIFA-Kongress in Zürich den Zuschlag, die WM-Endrunde 22 austragen zu dürfen. Welche Kriterien damals für diese Entscheidung ausschlaggebend waren, weiß man bis heute nicht genau. Angeblich ging es darum, den Fußball zur Abwechslung auch mal in die arabische Welt zu bringen, eventuell ging’s aber einfach bloß ums Geld. Katar ist reich, besitzt einige europäische Clubs, sponsort die Trikots zahlreicher weiterer Vereine, verfügt über ne Menge Einfluss in der UEFA. Und hatte bei der Abstimmung vielleicht ein paar Stimmen gekauft. Bevor Sie sich jetzt vorschnell über Letztgenanntes empören – das hatte Deutschland bei der Vergabe des Turniers 2006 angeblich auch getan. Dass mit Dollars (oder Euro oder Schweizer Franken) gefüllte Briefumschläge am Vorabend der Entscheidung unter Hoteltüren durchgeschoben werden, ist anscheinend alter FIFA-Brauch.

Als nächster Kritikpunkt kam das Klima an die Reihe: links und rechts des Persischen Golfs herrschen im Hochsommer mörderische Temperaturen. Hätte man im Juni und Juli gespielt, wären Hitzetote auf dem Spielfeld und auf den Rängen zu befürchten gewesen. Also verschob man das Turnier auf den Winter – wofür die Spielpläne der europäischen und südamerikanischen Ligen geändert werden mussten – und baute klimatisierte Stadien. Was mit diesen Stadien nach der WM passiert, wollen Sie wissen? Die werden entweder wieder abgerissen oder verrotten. Aber ebenfalls hier bitte nicht vorschnell empören: auch das ist guter Brauch bei WM-Ausrichtern. Siehe bspw. Südafrika und Brasilien.

Aber Katar hat NULL Fußballhistorie, sagen Sie jetzt? Stimmt, jedoch verfügten ebenfalls die USA 1994 (erneut 2026), Japan & Südkorea (2002) sowie Südafrika (2010) über keinerlei Fußballgeschichte. Ginge es einzig um die Historie, dann dürfte das Turnier bloß in Europa und Südamerika stattfinden. Aber es geht halt nicht einzig um die Geschichte, sondern um Teilhabe möglichst vieler Weltregionen an diesem globalen Sportspektakel Nr. 1 und deshalb wird das Event hin und wieder an exotisch anmutende Ausrichter vergeben. Finde ich vom Grundgedanken her auch nicht verkehrt und schlage deshalb für 2030 Thailand & Vietnam vor.

Zwischenfazit (eventuell) gekaufte Stimmen, mangelnde Fußballhistorie, Hitze und Stadien, die nach Ende des Turniers niemand mehr braucht, reichen für einen Boykott erst mal nicht aus. Da muss also noch was kommen.

Boykott: die dicken Bretter

Beginnen wir damit, dass Katar keine Demokratie westlichen Zuschnitts ist. Das ist korrekt, aber das waren Argentinien 1978 (okay, schon was länger her) und Russland (2018) ebenfalls nicht. Vom zweifachen Olympia-Ausrichter China wollen wir hier erst gar nicht anfangen. Dass Sportgroßereignisse nur in Rechtsstaaten stattfinden dürfen, wäre zwar einerseits begrüßenswert, andererseits existiert diese Vorschrift nicht und würde zudem zwei Drittel der Länder auf unserem Planeten von vornherein als potenzielle Veranstalter ausschließen.

Die Rechte der Schwulen und der Frauen: was ist mit denen, wollen Sie jetzt von mir wissen? Die sind beide prekär (also diese Rechte) in Katar. Wobei es mit den Rechten der Schwulen in Russland ebenfalls nicht allzu weit her ist (China weiß ich nicht. Müsste ich googlen). Das war bei der Vergabe 2010 hinreichend bekannt gewesen. An einen Aufschrei damals kann ich mich jedoch nicht erinnern. Das mit den mangelhaften Schwulen- und Frauenrechten am Persischen Golf scheint mir ein recht neuer Boykottgrund zu sen. Btw. wie ist eigentlich Tourismus in Dubai und Abu Dhabi – wo es um diese Rechte nicht besser bestellt ist – zu bewerten? Das ist was völlig anderes? Weiß nicht. Für mich ist das recht ähnlich gelagert.

Kommen wir nun zum gravierendsten Boykott-Auslöser: der Todesrate auf den katarischen Baustellen. Hier schwanken die Angaben enorm. Die Bandbereite reicht von 3 über 6.000 bis hin zu 15.000. Experten verweisen darauf, dass es kaum möglich ist, eine belastbare Zahl zu ermitteln, da schlichtweg keine Statistik existiert. Soll heißen: man weiß zwar, wie viele Ausländer/Bauarbeiter in Katar pro Jahr sterben. Woran genau sie sterben bzw. wo sie sterben (Baustelle, Hotelzimmer, Krankenhaus), wird von amtlicher Seite nicht erhoben. Sind sie alle auf den WM-Baustellen verunglückt, oder gab’s weitere Tote bei den anderen Großprojekten, die zeitgleich aus dem Sand der Wüste in die Höhe gestampft wurden? Die Menge der wegen der WM verschiedenen Arbeiter wird sicher nicht 3 sein – wie die Behörden in Doha behaupten –, ob es 6.000 oder gar 15.000 sind, weiß jedoch niemand genau. Aber das ausbeuterische Kafala-System, was ist mit dem, fragen Sie jetzt? Ja, das ist großer Mist, eine Form moderner Sklaverei; allerdings üblich auf der Arabischen Halbinsel. In den VAE und Saudi-Arabien geht es genauso zu: da werden die Pässe der ausländischen Arbeiter ebenfalls einbehalten. Macht’s nicht besser, schon klar. Wurde aber alles bereits zum Zeitpunkt der Vergabe 2010 praktiziert. Die FIFA entschied in vollem Wissen des Kafala-Systems pro Katar. Die berechtigte Kritik daran kommt hauptsächlich aus den westlichen Industrienationen. Dass sich Pakistan, Indien, Bangladesch – also die Länder, aus denen die Arbeiter überwiegend stammen – daran stören – davon hört man so gut wie nichts.

Wer würde davon getroffen?

Nachdem wir die Gründe für den Boykott aufgelistet haben, wenden wir uns nun der Frage zu, wen wir mit unserem Ich-schau-mir-diese-WM-nicht-an-Protest treffen wollen. Wir können 3 Zielobjekte unterscheiden:

(A) Katar
(B) Die FIFA
(C) Die Sponsoren

Für Katar wäre es sicher bedauerlich, wenn weltweit die TV-Geräte ausbleiben. Ist ja schon bitter, wenn man höllenmäßig viel Geld für Einkauf und Organisation eines Events ausgibt, das nachher niemand sehen will. Allerdings bezweifele ich stark, dass das im Nachgang zu einem Umdenkprozess hin in Richtung Demokratie & Gewaltenteilung und mehr Rechte für Frauen und Schwule führen würde. Vielmehr steht zu befürchten, dass Katar den Spieß umdreht und dem (christlichen) Westen Arroganz oder gar Diskriminierung der arabischen Kultur und islamischer Werte vorhält. Ein Vorwurf, der in der muslimischen Welt sicher auf fruchtbaren Boden fallen wird.

Für die FIFA wäre es SEHR ärgerlich, falls die Einschaltquoten in den Keller gingen. Gemäß der einfachen Formel: kleinere Reichweite = weniger Werbeeinnahmen & reduzierte TV-Gelder. Jedoch wird das so nicht eintreten. Dafür schauen dann doch noch zu viele Menschen aus Ländern zu, die sich für unseren deutschen Boykott Nullkommanull interessieren.

Und die glorreiche Idee, keine Produkte der Sponsoren mehr zu kaufen, was halten Sie davon Herr Kolumnist? Weiß nicht. Die Liste der Sponsoren ist LANG. Stelle mir das von der praktischen Umsetzung her schwierig vor, bei jedem zukünftigen Besuch im Supermarkt erst mal zu überprüfen, ob ich Coca-Cola in meinen Einkaufswagen legen darf und mir im Anschluss einen Big Mac bei McDonald’s reinziehen kann. Was ist mit meinen Sportschuhen von adidas und dem Hyundai-SUV des Nachbarn? Und meine Visa-Card soll ich ab sofort auch nicht mehr benutzen? Kann man natürlich alles fordern, ob’s in der Realität von Erfolg gekrönt ist, gehört stark in die Rubrik Wunschdenken.

Boykott: Pro & Contra

Wollen wir abschließend festhalten: Ja, es existieren gute Gründe, die WM 22 zu boykottieren. Egal, ob dieser Boykott in der Praxis das bewirken wird, was den Boykotteuren damit vorschwebt.

Es gibt allerdings auch Gründe für den Nicht-Boykott. Z.B.:
 Man sollte das Event vom Ausrichter trennen
 Der Otto-Normalo-Fan muss nicht ausbügeln, was die FIFA-Funktionäre verbockt haben
 Und auch die Spieler, für die die Teilnahme an einem WM-Turnier einen Höhepunkt ihrer Karriere darstellt, sollten nicht durch kollektiven Unsere-Mattscheibe-bleibt-schwarz-Aktionismus bestraft werden.

Wo ich persönlich zwischen diesen beiden Positionen stehe? Ich werde mir die Spiele angucken. Nicht ALLE, wie ich das bei einigen früheren Turnieren (zuletzt 2014 Brasilien, davor 2006 Deutschland) getan habe, aber schon die, die ich spannend finde. Große Vorfreude spüre ich nicht, das Gefühl des Der-ersten-Partie-entgegenfieberns hat sich bisher nicht eingestellt. Ich sehe zum einen aus Gewohnheit (tue ich seit der EM 72) und zum anderen, weil’s mich tatsächlich interessiert. So wie ich seit 50 Jahren ebenfalls an JEDEM Wochenende die Bundesliga schaue und bei der morgendlichen Zeitungslektüre zuerst den Sportteil mit den aktuellen Fußball-News aufschlage. An wilden Partys u/o Autocorsos nach evtl. deutschen Siegen werde ich mich hingegen nicht beteiligen (bin ich mittlerweile eh zu alt für). Und Fahnen oder Wimpel-schwenken war noch nie meins. Bin mehr der stille Fan (Ausnahme: der Effzeh spielt).

Den Boykott wahrer Fußballfans (wenn sie ihn denn auch tatsächlich bis zum Finale durchhalten) bewerte ich höher als die Boykottaufrufe derjenigen, die keine Ahnung von diesem Sport haben. Merke: je weniger ich mich für Fußball interessiere, desto einfacher fällt mir natürlich die Verweigerung. Bei den Katar-Gegnern lohnt deshalb immer die Frage: wie viel Ahnung hast du jenseits der WM 22 eigentlich vom Fußball?

Ich respektiere den Boykott, werde also keinen Protestler davon überzeugen wollen, sich gemeinsam mit mir das Spiel Deutschland vs. Spanien anzugucken. Bin mir auch darüber im Klaren, dass die Boykotteure das andersherum nicht so tolerant auffassen und mich zum Sklavenhalter-Regime-Befürworter stempeln werden. Aber ganz ehrlich: mir ist das völlig wurscht. Mein schlechtes Gewissen, weil ich mir ein paar Partien anschauen werde, tendiert gegen Null.

Ein gewisses Maß an Scheinheiligkeit

Am Ende dieser Kolumne kann ich es mir allerdings nicht verkneifen, auf eine gewisse Scheinheiligkeit des WM22-Embargos hinzuweisen: denn mit Öl und Gas aus Katar haben wir keinerlei Problem, betteln förmlich darum, dass wir das dort kaufen dürfen und von Protestaufrufen gegen Russland 2018 und Peking 2022 habe ich nichts mitbekommen. Was mich schlussfolgern lässt, dass wir lieber kleine als große Schurkenstaaten boykottieren. Mit Atommächten wollen wir es uns nicht verscherzen, während wir einem kleinen arabischen Ausrichter mal demonstrieren möchten, wo der westlich-aufgeklärte Hammer hängt?

Diese WM hätte nie an den Golf vergeben dürfen. Nun ist sie aber dort und sollte halbwegs in Ruhe durchgeführt werden können, ohne Fans und Spieler in Sippenhaft für merkwürdige Entscheidungen der Funktionäre zu nehmen. Und ja: die Vergabepraxis der FIFA gehört dringend auf den Prüfstand.

Und nun wünsche ich den Boykotteuren eine sinnvolle Alternativbeschäftigung und uns Fans spannende vier Wochen.

PS. Orangensaft aus Südafrika trinke ich weiterhin nicht. Was aber v.a. daran liegt, dass der Supermarkt, in dem ich meinen Orangensaft kaufe, die Orangen aus anderen Herkunftsländern bezieht.

Henning Hirsch

Betriebswirt und Politologe, Comicleser, Filmjunkie, Bukowski- und FC- (es gibt nur einen FC: nämlich den aus Köln) Fan, trockener Alkoholiker. In die Abstinenz startete er mit einem Roman: Saufdruck. Seitdem tippt er abends Kurzgeschichten und Gedichte. Da die Schreiberei alleine nicht satt macht, verdient er tagsüber seine Kaltmiete und die Kühlschrankfüllung mit Marketing & Orga. Henning Hirsch lebt im Bonner Süden und ist Vater von drei Kindern ... Wer mehr von ihm lesen möchte: www.saufdruck.de

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