Freedom Day: Wer, um Himmelswillen, braucht den heute?

Ganz und gar nicht überzeugt vom Wegfall des Corona-Basisschutzes ist Kolumnist Henning Hirsch

Bild: Alexandra Koch in Pixabay

Zum 20. März endeten mit der Neufassung des Infektionsschutzgesetzes die meisten, bundeseinheitlich vorgeschriebenen, Corona-Schutzmaßnahmen. Mit 14-tägiger Übergangsfrist liefen sie nun heute um Mitternacht definitiv aus. Pandemie-Skeptiker und notorische Optimisten bejubeln das als Freedom Day, an dem wir alle unsere Freiheit zurückerhalten. Ist das wirklich so?

Freedom Day: Was zur Corona-Hölle soll das sein?

Freedom Day: Das klingt nach Abzug sämtlicher russischer Streitkräfte aus der Ukraine, zumindest aber nach Palastrevolutionen gegen Baschar al-Assad oder Kim Jong-un. Gemeint ist jedoch bloß der weitgehende Wegfall der Covid-19–Prävention in Deutschland an diesem Sonntag. Was für ein hochtrabender Begriff für einen Federstrich!

Ich geb’s zu: Auch ich bin Corona-müde, bin froh, meine Homeoffice-Höhle, in die ich mich in den vergangenen zwei Jahren zurückgezogen hatte, wieder verlassen zu dürfen. Bin glücklich, mich mit Freunden zu treffen, ohne dabei abzuzählen: 1,2,3 und zu viel bist du. Freue mich darüber, Urlaubspläne schmieden zu können, ohne dabei ein schlechtes Gewissen haben zu müssen. Und fühle mich, da geimpft und geboostert, einigermaßen geschützt gegen die Seuche. Das normale Leben, so wie wir es bis zum Ausbruch der Pandemie führten, kehrt langsam zurück, und das ist auch gut so.

Und trotzdem befällt mich ein ungutes Gefühl, dass nun nahezu sämtliche Schutzmaßnahmen, inklusive Maskenpflicht, plötzlich purzeln. „Du bist ein Hypochonder, geradezu hysterisch“, sagt meine alte Schulfreundin. „Weshalb bin ich hysterisch, wenn ich den Sinn der Maske anerkenne?“, frage ich zurück. „Weil der Schutz der Maske nur ein fiktiver ist, und du das Ding ja freiwillig weiterhin aufsetzen kannst. Hindert dich niemand daran, damit ins Bett zu gehen, falls du dich dann besser fühlst“, antwortet sie. „Und die megahohe Inzidenz? Was ist mit der?“, sage ich. „Was soll mit der schon sein? Die wäre mit oder ohne Maske genauso hoch. Zudem ist Omnikron harmlos, maximal wie ne mittelschwere Erkältung. Mach dir also nicht gleich in die Hose, wenn du es bekommst“, erwidert sie und legt auf.

Ich sollte also eigentlich beruhigt sein: Omnikron harmlos, ich geimpft und geboostert, und es droht maximal eine mittelschwere Erkältung. Aber irgendwie bin ich ganz und gar nicht happy über den sogenannten Freedom Day. Warum ist das so?

Omnikron: Tatsächlich so harmlos?

Zum einen gilt Omnikron zwar als harmloser als sein Vorgänger Delta, was den Krankheitsverlauf anbelangt; im Gegenzug ist die erstgenannte Mutation des Virus sehr viel ansteckender. Täglich infizieren sich 100.000 Menschen alleine in Deutschland damit (vor kurzem lag die Zahl bei >200.000), kommen hunderte ins Krankenhaus und sterben 50 bis 100 daran (aktuell insgesamt: 130.000 in D, was in etwa der Größe von Regensburg oder dem 3x ausverkauften Weserstadion in Bremen entspricht). Umgerechnet auf 1 Jahr bedeutet dies rd. 50.000 bis 70.000 Tote (die es mit hoher Wahrscheinlichkeit auch 2022 erwischen wird). Von den Long-Covid-Folgen, die bisher noch nicht so richtig erforscht sind, will ich hier gar nicht erst anfangen. Harmlos stelle ich mir anders vor. Dass die AHA-Regeln vor Übertragung schützen – und zwar mich selbst und ebenfalls die anderen, die sich mit mir in einem Raum befinden – sah man lange Zeit als Stand der Wissenschaft an. Weshalb das plötzlich ab dem 3. April nicht mehr so sein soll, erschließt sich Hypochondern wie mir Nullkommanull.

Zum anderen ist das mit der Freiwilligkeit so ne Sache. Auf freiwilliger Basis sind zu wenig Mitbürger geimpft, halten sich zu wenige an die Schutzmaßnahmen, fahren zu viele im Sommer an den Ballermann, um sich da ordentlich zuzuballern und stecken dabei sich und die anderen Ballermänner an. Dass der Staat bei einer großflächigen Bedrohungslage regulatorisch eingreift, ist vernünftig und erwarte ich sogar von ihm. Würden wir uns im Krieg befinden – und letztlich sind wir im Krieg mit Covid-19 –, kann auch nicht jeder individuell entscheiden, ob er bei der Verteidigung seines Landes mitmacht oder stattdessen lieber in Urlaub fährt. Mit der Begründung, der Eingriff stehe in keinem Verhältnis zum Nutzen, könnten wir ebenfalls die Gurtpflicht aufheben, das Tempolimit in geschlossenen Ortschaften abschaffen und die Ampeln auf Dauer-Grün schalten.

Maskenpflicht entfällt weitgehend

Man (in diesem Falle: ich) kann sich mithin des Eindrucks nicht erwehren, dass der weitgehende Wegfall(*) der verpflichtenden Schutzmaßnahmen weniger mit wissenschaftlicher Erkenntnis – die (seriösen) Experten raten weiterhin dringend zum Befolgen von AHA. Das RKI spricht im jüngsten Wochenbericht von ungebrochen sehr hohem Infektionsdruck – zu tun hat und stattdessen mehr auf einem vulgär-liberalen Weltbild gründet, das jeden staatlichen Eingriff, und sei er auch noch so klein wie eine Maske, als sozialistisch-paternalistisches Teufelswerk ansieht. Wer dieser Ideologie huldigt, der nimmt schulterzuckend auch ein paar Tote in Kauf, denn ein bisschen Risiko ist eben immer, sobald man den Safe space der eigenen 4 Wände verlässt. Dass dieses Risiko vor allem die Alten und vulnerablen Gruppen trifft – geschenkt. Das ist aus vulgär-liberaler Perspektive ein kleines Statistikproblem, für dessen Lösung es keinerlei regulatorischen Rahmens bedarf. Motto: lieber freiwillig tot als staatlich bevormundet ins Homeoffice.

(*) Masken sind gem. Neufassung des Infektionsschutzgesetzes bundesweit weiterhin verpflichtend im Flug- und Personenfernverkehr. Über alles andere entscheiden ab 20. März (mit Übergangsfrist bis zum 2. April) die Länder gem. sogenannter Hotspot-Regeln. Die gesetzliche Pflicht, Masken beim Einkaufen zu tragen, entfällt. Es sei denn, die Ladeninhaber machen von ihrem Hausrecht Gebrauch … weshalb Masken in Flugzeug und Bahn (Fernverkehr) schützen, im Supermarkt jedoch nicht – diese Logik erschließt sich dem Laien nicht … zu erwarten ist ein regionaler Flickenteppich an Maßnahmen, wo man sich vor jedem Grenzübertritt (NRW nach RLP, Hessen nach Bayern, Sachsen nach Brandenburg) vorher schlau machen muss, was im jeweiligen Bundesland gerade erlaubt ist und was nicht geht. Klarheit sieht anders aus. Der Bund stiehlt sich aus der Verantwortung.

Tragischste Figur in diesem Spiel: Karl Lauterbach

Dass nun ausgerechnet der Mahner und von mir lange Zeit hochgeschätzte Experte Karl Lauterbach den Freedom Day verkünden und in der Öffentlichkeit verteidigen muss, ist tragisch und gehört in die Rubrik: falsch verstandene Kabinettsdisziplin. Besser wäre es gewesen, der Gesundheitsminister hätte eine Pressekonferenz abgehalten, in der er erklärt, weshalb er den Öffnungsbeschluss nicht mitträgt, warum er sich mit seinen vernünftigen Argumenten in der Ampel nicht durchsetzen konnte und hätte zum Schluss sein Ministeramt mit den Worten, „Macht euren Freedom-Day-Mist ab sofort ohne mich“, an den Nagel gehängt. Das hätte auf mich überzeugend gewirkt. So, wie es jetzt gelaufen ist, bleibt bei mir der schale Eindruck des Klebens-am-Job zurück.

Beim Freedom Day hat der Schwanz (FDP) mit dem Hund (SPD & Grüne) gewedelt. Kann man, wenn man FDP-Anhänger ist und Corona für eine mittelschwere Erkältung hält, gut finden, kann man aber auch, wenn man ein hysterischer Hypochonder so wie ich ist, Scheiße finden. Bei einer Inzidenz jenseits der 1500, wo gesamt Deutschland einen einzigen Hotspot darstellt, nun auch noch die Maskenpflicht großenteils aufzuheben, halte ich für grob fahrlässig. Die Konsequenz werden volllaufende Krankenhäuser & Intensivstationen sein, die Todeszahlen bleiben hoch und im kommenden Herbst stehen wir ungeschützt vor der nächsten Mutation, die dann eventuell gefährlicher sein wird als das „harmlose“ Omnikron.
+++

Jetzt malen Sie aber SEHR schwarz, Herr Kolumnist, sagen Sie?
Mag sein, antworte ich. Ich bin halt nicht nur ein Hypochonder, sondern in Blickrichtung auf die menschliche Freiwilligkeit/Dummheit auch ein Pessimist.

Und nun bestelle ich 100 FFP2-Masken; bevor es demnächst keine mehr gibt.

Henning Hirsch

Betriebswirt und Politologe, Comicleser, Filmjunkie, Bukowski- und FC- (es gibt nur einen FC: nämlich den aus Köln) Fan, trockener Alkoholiker. In die Abstinenz startete er mit einem Roman: Saufdruck. Seitdem tippt er abends Kurzgeschichten und Gedichte. Da die Schreiberei alleine nicht satt macht, verdient er tagsüber seine Kaltmiete und die Kühlschrankfüllung mit Marketing & Orga. Henning Hirsch lebt im Bonner Süden und ist Vater von drei Kindern ... Wer mehr von ihm lesen möchte: www.saufdruck.de

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